Kapitel 159: Staub, Ruß und Gestank
                  Ich wusste nicht, wie lange wir in diesem Keller ausgehart hatten.                    Ich hatte mein Zeitgefühl vollkommen verloren. Das Licht                    im Keller blieb aus. Immer wieder hörten wir dumpfe Einschläge,                    mal weiter weg, mal näher und von Zeit zu Zeit erbebte                    das gesamte Gemäuer. Doch dann blieb es still. Wir warteten                    lange, sehr lange, bis wir uns ins Freie wagten. Und ich wünschte                    mir fast, wir wären im Keller geblieben, denn der Anblick                    der Stadt verschlug mir die Sprache und trieb mir fast die Tränen                    in die Augen.
                  Um uns herum brannte es lichterloh. Dichter Qualm durchzog die                    Straßen und nahm uns den Atem. Die Schule war zum Glück                    weitestgehend unbeschädigt geblieben. Lediglich direkt                    vor dem Klassenzimmer von Sky befand sich ein tiefer Krater                    in der Straße. Die Scheiben der Fenster waren zersprungen                    und Asphaltstücke hatten sich in das Gebäude gebohrt.                    Doch die Schule war aus Stein erbaut worden. Ein der Raketen                    hätte direkt in das Gebäude einschlagen müssen,                    um es ernsthaft zu beschädigen. Die kleinen Geschäfte                    aus Holz in der Umgebung der Schule hatten hingegen sofort Feuer                    gefangen und die Flammen griffen rasend schnell um sich. Entsetzt                    blickten meine Kinder und ich auf den brennenden Friseursalon,                    der einstmals Ingrid, Skys leiblicher Mutter gehört hatte.                    Selbst wenn die Feuerwehr sofort einträfe, das Gebäude                    war nicht mehr zu retten.
                  "Los Kinder, steigt schnell in den Wagen", wies ich                    Klaudia und Sky an, nachdem ich mich wieder halbwegs gefasst                    hatte. Mein Pickup war wie durch ein Wunder unbeschädigt                    geblieben. Ich konnte den Anblick der brennenden Stadt kaum                    ertragen. Der Langhorn-Saloon, das Café, das Stadtzentrum...                    alles stand in Flammen. Klaudia weinte hemmungslos. Die Stadt                    in der sie geboren wurde, sie lag in Trümmern.
                  Heute Morgen war Klaudia noch durch eine heile Kleinstadt zur                    Schule gefahren und diese Stadt gab es auf einmal nicht mehr.                    Sie wurde überraschend und ohne Vorwarnung von einem unbekannten                    Feind in Schutt und Asche gelegt. Der Regen prasselte unaufhörlich                    auf die Erde herab, versuchte mit aller Kraft, die Flammen zu                    löschen, doch es war ein aussichtsloser Kampf. In mir wuchs                    die Angst. Was war mit Grünspan? Stand mein kleines grünes                    Haus noch oder war es wie der Rest der Stadt denn Flammen zum                    Opfer gefallen?
                  Ich drückte aufs Gaspedal. Die Geschwindigkeitsbegrenzungen                    interessierten mich nicht mehr, ich wollte nur noch zu meinem                    Haus. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr meiner Brust                    als ich sah, dass die Außenbezirke der Stadt offenbar                    nicht von Raketen getroffen worden waren. Das Haus meines Bruder,                    das Haus von Klaudias und Skys Großeltern und auch Grünspan,                    sie alle standen unversehrt.
                  Doch meine Freude währte nur kurz. Ich war noch nicht ganz                    aus dem Auto gestiegen, als ich Sky Schreien hörte. "Feuer!                    Es brennt!" Klaudia und ich liefen in seine Richtung.                    Entsetzt schrie ich auf und raufte mir panisch die Haare, als                    ich die Flammen erblickte, die an der Veranda züngelten.                    "Oxana, einen Feuerlöscher, schnell", hörte                    ich meine ebenfalls panische Nachbarin Sandra Monschau brüllen.                    Es war offensichtlich, aber genau diese Worte hatte ich gebraucht,                    um mich aus meiner Panik zu reißen.
                  Ich rannte ins Haus und riss den Feuerlöscher aus dem Küchenschrank                    unter der Spüle. In mir stieg die Wut auf. Dieses Feuer                    würde nicht mein Haus zerstören. Es würde mir                    und meinen Kindern nicht das Zuhause nehmen. Ich richtete den                    Schaumstrahl auf die Flammen und schrie all die Angst, das Entsetzen                    und die furchtbare Wut, die sich in mir aufgestaut hatte, aus                    mir heraus. Ich schrie noch lange weiter, selbst als die Flammen                    bereits erloschen waren.
                  Die Sonne ging langsam unter. Mit der einkehrenden Dunkelheit                    wurde deutlich, dass der Strom nicht nur im Schulkeller ausgefallen                    war. Auch in unserem Haus gab es kein Licht. Sky ist fast augenblicklich                    in einen tiefen Schlaf gefallen, sobald wir endlich die Sicherheit                    unserer vier Wände erreicht hatten. Klaudia hatte sich                    wieder beruhigt, aber sie wollte um keinen Preis allein sein.                    Und ich wollte meine Kinder nicht aus den Augen lassen, also                    beschlossen wir, alle gemeinsam in meinem Zimmer zu übernachten.                    Doch bevor es ins Bett ging, brauchte ich dringend eine Dusche.                    Der Geruch von Pferden, Rindern, Schweiß und Feuer klebte                    an mir und ich wollte nur noch raus aus diesen Klamotten.
                  Klaudia legte sich zu Sky ins Bett und war eingeschlafen, noch                    ehe ihr Kopf das Kissen richtig berührte. Ich ging hinüber                    ins Badezimmer. Automatisch tastete ich nach dem Lichtschalter,                    bis mir wieder einfiel, dass es keinen Strom gab. Ich ließ                    die Tür zum Wohnzimmer offen, um wenigstens etwas Licht                    in den fensterlosen Raum zu bekommen, zog mich aus und stellte                    mich unter die Dusche. Doch das ersehnte Nass kam nicht. In                    den Leitungen ertönte ein lautes Gurgeln, gefolgt von einigen                    Spritzern trüben Wassers. Dann blieb es trocken. Der Stromausfall                    betraf natürlich auch die Wasserpumpen. Somit hatten wir                    nicht nur kein Strom, sondern auch kein Wasser mehr.
                  Wütend schlug ich mit der Faust gegen die Fliesen. Doch                    dann fiel mir die manuelle Wasserpumpe ein, die hinter dem Haus                    installiert war. Die Wanne wurde sonst nur zum Baden von Goya                    benutzt, aber das war mir in diesem Augenblick egal. Ich pumpte                    so lange, bis die Wanne voll war und stieg in das, zugegebenermaßen                    kalte, Wasser um mich von Staub, Ruß und Gestank zu befreien.
                  Anschließend war ich sauber, aber ich war so müde,                    dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich wollte                    zu den Kindern ins Schlafzimmer und mich auf das Sofa legen.                    Ich verzichtete darauf, meinen Schlafanzug anzuziehen und zog                    stattdessen normale Kleidung an. Wer konnte wissen, was in dieser                    Nacht noch alles gesehen würde? Vielleicht wurde es nötig,                    dass wir das Haus schnell verließen? Ich wollte auf alles                    vorbereitet sein.
                  Da klopfte es an der Tür. Erschrocken riss ich den Kopf                    zur Seite. Doch vor der Tür stand kein Feind, sondern Anan,                    Dominiks Vater, den ich durch die Scheibe der Eingangstür                    hindurch erkannte und der ins Haus hinein lugt. Erleichtert                    lief ich ins Freie und warf mich dem Großvater meiner                    Kinder in die Arme.
                  Doch Anan, der mich nach meiner Scheidung von Dominik immer                    noch wie seine eigene Tochter behandelt hatte, war nicht allein                    gekommen. Auch Dominiks Mutter Glinda war da. Uns beide verband                    ein schwieriges Verhältnis. Ihrer Meinung nach war ich                    nie gut genug für Dominik gewesen und sie hatte unserer                    Ehe keine Träne nachgeweint. Doch zum ersten Mal in all                    den Jahren, in denen ich diese Frau schon kannte, schien sie                    sich ernsthaft darüber zu freuen, mich wohlauf zu sehen.
                  "Den Kindern geht es gut", versicherte ich den beiden,                    noch ehe sie fragen konnten. Ich konnte sehen, wie ihnen ein                    Stein vom Herzen fiel. Schnell führte ich sie ins Wohnzimmer                    und zündete ein Feuer im Kamin an, damit wir wenigstens                    ein wenig Licht hatten. Glinda bat um etwas zu Essen. Ich konnte                    ihr allerdings nur eine Packung trockener Asia-Snacks anbieten,                    die sie dennoch dankbar annahm. Dann berichtete ich von den                    Ereignissen des heutigen Tages und wie die Kinder und ich uns                    im Schulkeller versteckt hatten. "Und euch ist nicht passiert?",                    fragte ich besorgt. "Wurde niemand verletzt?"
                  "Uns geht es allen gut", antwortete Glinda. "Mark                    und Kira haben uns sofort ins Auto gescheucht, als die ersten                    Raketen in der Nähe der Stadt einschlugen. Wir haben uns                    so schnell und so weit es ging von den Bohrtürmen und der                    Stadt entfernt und haben uns draußen in der Wüste                    versteckt. Siana und ihr Mann und auch Dennis, Stev und die                    Kinder haben sich selbst in Sicherheit gebracht. Es ist zum                    Glück niemanden etwas passiert. Allerdings haben Dennis                    und Stev kein Dach mehr über dem Kopf. Ihr Haus ist komplett                    niedergebrannt." Ich keuchte entsetzt auf. Wie viele meiner                    Freunde hatten wohl noch ihr Zuhause verloren? Auch Glinda wirkte                    unglaublich müde und erschöpft. Sie schien in den                    letzten Stunden um Jahre gealtert und wirkte nun wie eine gebrochene,                    alte Frau.
                  "Aber wer waren diese Aggressoren?", fragte ich weiter.                    Es war eine Frage, die mich schon seit Beginn des Angriffes                    beschäftigte. "Wer hätte einen Grund unsere friedliche                    Stadt ohne Vorwarnung anzugreifen und zu zerstören?"
                  Ich hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, aber Anan überraschte                    mich und antwortete sofort. "Simnistrien!" Ich runzelte                    zweifelnd die Stirn. "Simnistrien ist tausende Kilometer                    weit entfernt auf der anderen Seite des Atlantiks. Ich glaube                    wirklich nicht..." Doch Anan ließ mich nicht weiter                    aussprechen. "Ich sage dir Oxana, das war das Werk von                    Simnistrien." Um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen,                    schlug er mit seinen Mittel- und Zeigefinger in seine offene                    linke Handfläche. "Simnistrien hasst uns, seit dem                    Krieg zwischen unseren beiden Nationen vor über 40 Jahren.                    Die SimNation mag diesen Krieg inzwischen überwunden haben,                    aber in Simnistrien ist kein Tag vergangen, an dem die Regierenden                    dieses Landes nicht Rache geschworen hätten."
                  "Ach, Anan", unterbrach ihn seine Frau müde.                    "Für dich ist Simnistrien doch am gesamten Leid der                    Welt schuld. Selbst wenn unser Hund schief Pupst, dann war es                    Simnistrien. Wir sollten erst einmal den morgigen Tag abwarten.                    Lass die von der Regierung kommen und alles gründlich aufklären.                    Es bringt doch nichts, wenn wir wild mit haltlosen Anschuldigungen                    um uns werfen." Obwohl ich Glindas Hunde-Bemerkung mehr                    als unpassend fand, musste ich ihr doch zustimmen. Wir wussten                    einfach zu wenig, um die Ereignisse beurteilen zu können.
                  "Es war Simnistrien", schrie Anan nun wütend.                    Ich zuckte erschrocken zusammen, denn ich war eine solch heftige                    Reaktion von meinem Ex-Schwiegervater nicht gewohnt. Er erkannte                    seinen Fehler und senkte die Lautstärke seiner Stimme wieder.                    Dennoch blieb er hoch erregt. "Ich habe vor 40 Jahren in                    Simnistrien gekämpft. Es war ein furchtbarer, sinnloser                    Krieg, und ich schäme mich dafür, dass die SimNation                    diesen Krieg damals heraufbeschworen hat. Aber dadurch kenne                    ich das simnistrische Militär. Genau diese Hubschrauber                    haben sie auch schon vor 40 Jahren eingesetzt. Ich bin felsenfest                    davon überzeugt, dass Simnistrien uns angegriffen hat.                    Und nach all den Spannungen zwischen unseren Ländern in                    den letzten Jahren, überrascht es mich nicht einmal."