Kapitel 90: Maskerade
                Joanna erklärte mir detailliert ihren Plan. Ich hörte                  zu, könnte aber kaum glauben, was sie da sagte. Es war zu                  unglaublich. Dann ging sie. Als ich alleine im Wohnzimmer stand,                  begann ich am ganzen Körper zu zittern. Wieder schossen mir                  die Tränen in die Augen. Es waren Tränen der Wut. Wie                  konnte Joanna mich nur so hintergehen, mich erpressen? Ich hatte                  ihr vertraut und es nie für möglich gehalten, dass sie                  das Wissen um Kingas wahren Vater gegen mich benutzen würde.
                Klaudias Schreien holte mich in die Wirklichkeit zurück und                  ließ meine Wut verrauchen. Zurück blieben nur der Schmerz                  und die Enttäuschung. Ich ging in das Kinderzimmer und hob                  Klaudia aus dem Bettchen. Ihr Schreien verstummte, sobald ich                  sie auf dem Arm hielt. „Pipi“, murmelte sie leise                  und wischte ihre Tränen unbeholfen an meinem Shirt ab. Ich                  setzte sie auf das Töpfchen und strich ihr über das                  Köpfchen. Mein Gesicht war immer noch tränenverschmiert                  und Klaudia schien zu erkennen, dass etwas nicht in Ordnung war.                  Denn sie sah mich an, als ob sie sagen wollt: „Mami, warum                  bist du den so traurig? So schlimm kann es doch nicht sein“.                  Dieser Gedanke ließ mich lächeln. Für sie musste                  ich tun, was Joanna von mir verlangte. Für sie, für                  Kinga und für Dominik. Meine Familie war mir zu wichtig,                  um sie aufzugeben.
                Also Dominik spät abends nach Hause kam, war ich immer noch                  wach. Trotzdem tat ich so, als ob ich schon schlafen würde.                  Wenn ich jetzt mit ihm redete, würde ich ihm alles erzählen.                  Aber das durfte ich nicht. Joanna hatte es mir unmissverständlich                  deutlich gemacht. Dominik schmiegte sich an meinen Rücken                  und in dieser Position sehnte ich mich noch viel stärker                  danach, mich ihm anzuvertrauen. Wann hatte meine Schwester sich                  so stark von mir entfremdet? Wann war sie zu dieser herzlosen                  Frau geworden?
                Für meine Schwester zählte nur ein: Dass ich genau das                  tat, was sie von mir verlangte. In Ganado Alegro fand wieder einmal                  ein mehrtägiges Seminar über innovative Bewässerungstechniken                  statt. Also erzählte ich Dominik und den Kindern, dass ich                  eben dieses besuchen würde. Vor Alberts Tod habe ich diese                  Ausrede immer genutzt, um mich heimlich mit meinem Geliebten treffen                  zu können. Nach meiner Hochzeit hatte ich mir geschworen,                  Dominik nie wieder in solch einer Weise zu hintergehen. Doch Joanna                  ließ mir keine Wahl.
                Ich fuhr tatsächlich nach Ganado Alegro, aber nur, um mich                  im Waschraum eines Motels umzuziehen. Joanna hatte mir alles Notwendige                  mit der Post zukommen lassen. Ich zog also das offenherzige Kleid                  an, änderte mein Make-up und zog die blonde Perücke                  über. Im Spiegel erkannte ich mich selbst kaum wieder. Aber                  das war wohl das Ziel dieser Maskerade. Als ich unsicher den Waschraum                  verließ, hatte ich das Gefühl, dass jeder wüsste,                  wer hinter dieser Verkleidung steckt. Doch das bildete ich mir                  sicher nur ein.
                Mit dem Taxi fuhr ich zum Flughafen nach SimVegas. Der Taxifahrer                  warf mir während der Fahrt immer wieder Blicke über                  den Rückspiegel zu. Dabei musterte er besonders interessiert                  meinen Ausschnitt und meine Beine, die von dem kurzen Kleidchen                  kaum bedeckt wurden. Ich verfluchte Joanna innerlich für                  diese freizügige Verkleidung. Meinen Einwand, dass etwas                  Unauffälligeres angebrachter wäre, wies sie ab. Je auffälliger                  mein Styling war, desto weniger würden sich die Leute an                  mein Gesicht erinnern können.
                Die Sicherheitskontrolle passierte ich ohne Schwierigkeiten. Joanna                  hatte schon im Vorfeld darauf geachtet, dass ich nichts an meinem                  Körper trug, was den Metaldetektor zum Piepen bringen konnte.                  Nicht einmal ein simples Schmuckstück, denn unnötige                  Aufmerksamkeit wollte sie vermeiden.
                Doch als ich die Passkontrolle erreichte, glaubte ich, jeden Moment                  in Ohnmacht zu fallen. Mit zittrigen Händen legte ich der                  Beamtin einen Pass vor, der mich als Weronika Szymanska und als                  polnische Staatsbürgerin auswies. Die Beamtin verglich nur                  kurz mein Gesicht mit dem Foto im Pass und ließ mich passieren.                  Der Pass war eine hervorragende Fälschung, das musste ich                  wirklich eingestehen. 
                Erleichtert stieg ich kurze Zeit später in das Flugzeug,                  das soeben aus SimCity eingetroffen war und in Kürze seinen                  Flug ins russische Samara fortsetzen würde. Der Flug war                  nicht ausgebucht und so erblickte ich auf dem Weg zu meinem Sitzplatz                  sofort Joanna, die gleich in einer der vorderen Reihen saß.                  Ich war mir sicher, dass sie mich trotz der Verkleidung erkannt                  hatte, sie zeigte aber keinerlei Regung und blätterte gelangweilt                  in der Bordzeitschrifft. Sie schien über etwas zu lachen,                  was sie in der Zeitschrift las, unser Zeichen, dass sie mich gesehen                  hatte und ich wie besprochen weiter machen sollte.
                Unter lautem Dröhnen der Triebwerke hob das Flugzeug ab und                  begann seinen weiten Weg in die russische Föderation. Nach                  etwa zwei Stunden Flugzeit stand Joanna auf und ging zu den Waschräumen                  im vorderen Teil der Kabine. Ich wartete noch etwa zwei Minuten,                  dann stand auch ich auf und folgte meiner Schwester.
                Ich vergewisserte mich, dass keine der Flugbegleiterinnen oder                  keiner der übrigen Fluggäste mich beobachtete und klopfte                  fünf Mal kurz hintereinander an die Tür der Flugzeugtoilette.                  Joanna reagierte auf das vereinbarte Zeichen und ließ mich                  hinein.
                Sie stand bereits nur noch in Unterwäsche bekleidet vor mir                  und hatte ihre Haare zu einem festen Dutt gebunden. „Zieh                  dich aus, Oxana!“, wies sie mich ohne Begrüßung                  an. „Wir haben nicht viel Zeit.“ Ich tat, wie geheißen                  und zog das knappe Kleid aus. Joanna nahm es mir sofort aus der                  Hand und zog es selbst über. Und ich begann im Gegenzug ihre                  Kleider überzustreifen.
                Mit einer unglaublichen Geschicktheit verpasste meine Schwester                  mir in wenigen Sekunden ein neues Make-up und toupierte meine                  Haare auf. Dann überzeugte sie sich noch ein letztes Mal,                  ob ihr Kleid auch richtig an mir saß. „Geh jetzt und                  setz dich auf meinen Platz. Ab diesem Moment bist du nicht mehr                  Oxana Blech, sondern Donna Joanna Brodlowska. Denk daran.“
                Ich zupfte das neue Kleid selbst noch einmal zurecht und ging                  dann hinaus in die Kabine des Flugzeugs. Ich war nervös,                  doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Die erste Bewährungsprobe                  war meine Sitznachbarin. Doch als ich mich setzte, lächelte                  sie mich lediglich freundlich an, ohne zu bemerken, dass nun eine                  andere Frau neben ihr saß. Meiner Schwester erging es auf                  meinem ursprünglichen Platz nicht anders.