Teil II
Noch immer liegt die Nacht über den Straßen. Schwer und kalt kriecht sie feucht durch alle Ritzen, als der Klang ihrer Absätze auf dem Asphalt durch die enge Gasse hallt, welche zu ihrer Wohnung führt. Zu einem alten, baufälligen Gebäude in einem heruntergekommenen, gefährlichen Viertel der Stadt. Dort, wo sich nicht einmal die Polizeistreifen auf die Straßen wagen. Dort, wo sie niemand suchen wird.
Die große, rostige Eingangstür karrt und ächzt, als wäre sie schon zu viele Jahre verschlossen gewesen und vorsichtig nimmt sie ihren Weg, die verfallene Treppe hinauf. Eine Frau weint und ihr Mann brüllt. Hinter einer verschlossenen Tür schlägt er brüllend in seiner frustrierten Verzweiflung auf sie ein. So ist es jede Nacht. So ist es jeden Tag, in diesem düsteren Gemäuer.

Sie ignoriert die Schreie und geht weiter den Gang entlang, bis zur hintersten Tür. Sie sieht sich nur einmal kurz um, bevor sie ihre Wohnung betritt und hinter sich abschließt, bevor sie ihren Aktenkoffer auf den Boden fallen lässt. Unauffällig prüft sie jede Ecke in jedem Zimmer, obwohl sie sicher ist, dass niemand sie hier vermuten würde. Niemand kümmert sich um dieses Haus.
Niemand kümmert sich um die armen Leute, die hier in heruntergekommenen Wohnung ihr Dasein fristen und nicht wissen, womit sie ihr Essen bezahlen sollen. Nachdem sie sich vergewissert hat, dass niemand heimlich in ihrer Wohnung war oder sie aus der Ferne durch die Fenster beobachtet, wählt sie ihren Weg in das kleine Badezimmer, um den Tag von sich abzuwaschen.

Das Wasser ist kalt, wie immer. Die Kälte schmerzt angenehm auf ihrer Haut, jagt eisige Schauer über ihren Körper und lässt sie alles andere für kurze Zeit vergessen. Erst viel später geht sie wieder zurück zur Tür, nimmt den Aktenkoffer und setzt sich an den alten Tisch, um sich ihren neuen Auftrag anzusehen. Meist sind es nur kleine Fische, die es zu beseitigen gilt.
Geschäftsleute, die aus der Reihe tanzen oder aufmüpfig werden. In einer schwarzen Mappe ist alles an Informationen gesammelt, was sie benötigt, um zu wissen, wo und wie sie ihre Arbeit am besten tun kann. Aufmerksam geht sie die Unterlagen durch. Alles ist dort aufgeführt. Gewohnheiten, Arbeitswege, Arbeitszeiten und sämtliche Familienangehörige ihrer Opfer.

Gründe werden nie aufgeführt, doch sind diese immer ähnlich. Meist sind es Leute, die sich zu wichtig werden. Die denken, sie könnten sich einfach absetzen und würden nie gefunden werden. Leute, die sich an die Polizei wenden wollen, aus Angst um ihre Familie. Lange betrachtet sie das Gesicht des Mannes auf dem Foto. Sie kennt ihn bereits, schon einmal wurde jemand zu ihm geschickt.
Nicht, um ihn zu beseitigen. Nur, um ihn daran zu erinnern, wem er unterstellt ist. Wer für seine und die Sicherheit seiner Familie Sorge trägt und ihm zu dem verholfen hat, was er ist... das Oberhaupt einer großen Firma. Und immer noch ist er ein Vermögen schuldig. Ihr Chef, dessen Namen niemand kennt, ist kein Mann von großer Geduld. Es wird keine zweite Erinnerung geben.

Der Morgen graut, als sie ihre Wohnung verlässt. Noch ist es ganz still im Haus und bis auf das Ächzen der alten Treppenstufen, über die schon zu viele Jahre gingen, stört kein Geräusch die gespenstische Morgenstille. Feuchter Nebel liegt über den Straßen. Nur vereinzelt begegnen ihr andere Menschen, auf dem Weg zu ihrem Ziel. Sie wird ihn direkt in seinem Haus abfangen.
Zusammen mit seiner Frau, sie weiß zu viel. Die Straße, die zu der großen Villa führt ist leer. Zu leer, selbst für diese Uhrzeit. Nur einige Handwerker, welche die Stromleitung überprüfen sind zu sehen und ein unangenehmes Gefühl kommt in ihr auf. Sie wendet ihren Blick von ihnen ab, sie beobachten sie. Ohne anzuhalten oder zu zögern, geht sie an der Villa vorbei. Immer weiter, die Straße entlang.

Solange, bis die versteckten Polizisten das Interesse an ihr verlieren. Ihr Chef wird nicht erfreut sein, zu hören, dass sich einer seiner Kunden an die Polizei gewandt hat. Als sie in eine Nebenstraße einbiegt, stürmen plötzlich Dutzende Polizisten aus ihren Verstecken und packen den Mann mit Aktenkoffer, der kurz nach ihr die Straße betreten hat. Der arme Kerl weiß gar nicht, wie ihm geschieht.
"Du hast deinen Auftrag abgebrochen?" fragt der Mann im Sessel, als sie das düstere Gemäuer betritt. Sie nickt. "Die Polizei war dort. Er hat geredet, sie wussten, dass ich komme." Antwortet sie ruhig und unheimliche Stille legt sich über den Raum. "Das ist nicht gut." Bemerkt er nachdenklich. "Wenn sie wussten, dass du kommst, kann es nicht das einzige sein, was sie wissen."
"Ich hatte so etwas bereits vermutet." Meint er nach einem Moment des Schweigens und seufzt. "Soll ich ihn ein andermal abfangen?" fragt sie und ihr Chef schüttet energisch den Kopf. "Nein. Sie werden ihn verfolgen, wo auch immer er ist. Das ist zu gefährlich. Wir müssen uns etwas anderes überlegen. Wir müssen wissen, was und vor allem wie viel die Polizei weiß." Erwidert er.

Auch diesmal schnippt er mit den Fingern. Nur kurz darauf wird ein neuer Aktenkoffer herein gebracht und auf den Tisch gelegt. Der Mann im Sessel öffnet ihn und sieht sich die darin befindlichen Unterlagen an. "Du wirst diesen Auftrag vergessen und dich stattdessen ins Revier schmuggeln." Sagt er. "Sie gehen davon aus, dass du ein Mann bist und werden daher keinen Verdacht schöpfen."
Er klappt den Koffer zu und schiebt ihn ein Stück in ihre Richtung. "Ab morgen früh wirst du dort als unterstützende Ermittlerin tätig sein. Bis dahin werden alle nötig Vorkehrungen getroffen sein. Geh jetzt und bereite dich vor." Fügt er hinzu, während sie nickend nach dem Aktenkoffer greift, in welchem sich alle nötigen Unterlagen für ihre neue Identität befinden.

Einfache Aufträge sind ihr lieber. Jemanden zu töten ist einfach. Einfacher, als eine Rolle zu spielen. Aber sie wird auch diesen Auftrag zufriedenstellend erledigen und gibt keine Widerworte. Zurück in ihrer Wohnung durchsucht sie die beigefügten Unterlagen und geht sie alle aufmerksam durch. Zeugnisse, Ausweise und Urkunden. Ab Morgen wird sie Christina Schneider heißen.
Aufmerksam liest sie sich ihren Lebenslauf durch. Wo sie gelernt hat, was sie bisher tat und wie ihr fiktives Leben aussieht. Sie prägt sich jedes einzelne Wort genau ein, denn sicher wird man sie danach fragen. Sie ist kinderlos, nicht verheiratet, nicht verlobt. Keine Angehörigen, ihre Familie starb vor langer Zeit bei einem Unfall im Ausland, an den sie sich nicht erinnern kann.
Noch einmal liest sie sich alles durch, um nichts zu vergessen oder zu übersehen und bereitet sich anschließend sorgfältig auf den nächsten Tag vor. Sie will es möglichst schnell hinter sich bringen, doch sicher wird es einige Zeit in Anspruch nehmen. Der Gedanke an den nächsten Tag bereitet ihr Unbehagen. Sie muss der Polizei ihr Gesicht zeigen. Ein Geist mit Gesicht ist kein Geist mehr.
Fortsetzung folgt
Ich hasse unfertige Dinge...