Kapitel 3: Ein anderer Blickwinkel
Es war wunderbar entspannend, die Nacht in  einem richtigen  Bett zu verbringen. Außerdem schlief es sich umso  besser, wenn man kein  schlechtes Gewissen mehr haben musste, weil man  seine Eltern belog. Meine gute  Laune wurde aber getrübt, als ich am  Morgen in das Badezimmer ging, und  plötzlich in einer großen Pfütze  stand.
Die Verzweiflung stand mir ins Gesicht  geschrieben. Wo kam  bloß all das Wasser her? Ich schaute mich hektisch  im Badezimmer um und  erkannte schnell, dass es außen an den Wänden der  Duschkabine entlang floss.  Und als ich die Kabine öffnete, sah ich  auch, dass das Wasser aus dem Rohr der  Brause in alle Richtungen  spritzte. Ich hatte schon bei meinem Einzug eine  Rohrzange auf dem  Fensterbrett im Bad gefunden und jetzt wurde mir auch klar,  warum diese  dort lag. Offenbar passierte solch eine Überschwemmung nicht zum   ersten Mal.
Ich schraubte eine Weile an der Brause herum,  macht damit  zunächst alles nur noch viel schlimmer, aber schließlich  versiegte das Wasser.  Nur damit war die Arbeit noch längst nicht  beendet. Das ganze Bad stand unter  Wasser und dieses musste  aufgesammelt werden. Das war wirklich ein schöner  Start in den neuen  Tag.
Doch nach gefühlten Stunden hatte ich das  Badezimmer wieder  trocken gelegt. Erschöpft ließ ich mich in meinen  Sessel fallen, doch dann  wurde mir klar, wie einsam es in diesem großen  Haus doch war. Also entschloss  ich mich kurzerhand wie versprochen  Mama zu besuchen. Ich schwang mich also auf  mein Fahrrad und radelte  los. Leider hatte ich vergessen, dass meinen Eltern  auf einer Anhöhe  über der Stadt lebten und ich deshalb ziemlich ins Schwitzen  kam.  Vielleicht hätte ich doch lieber die U-Bahn nehmen sollen? Doch die  Natur  um mich herum und der tolle Anblick der Stadt unten im Tal  entschädigten für  die Strapazen.
Doch irgendwann kam ich doch oben an. Ich war  zwar  erschöpft, aber gleichzeitig stolz auf meine Leistung. Das Haus  meiner Eltern  hatte sich seit meinem letzten Besuch zu Weihnachten  nicht verändert. Die  sandfarbenen Backsteine und der weiße Putz  strahlten im Sonnenschein. Nachdem  meine Familie unser Zuhause in der  Sierra Simlone, der heutigen Sierra  Simnistria, verlassen musste,  hatten meine Eltern hier in Rodaklippa einen  altes, halb zerfallenes  Bauerhaus gefunden und es mit viel Arbeit und Mühe zu  dem gemacht, was  man heuet hier auf den Hügel stehen sah.
Ich klopfte gar nicht erst an, sonder betrat  einfach das  Haus. Immerhin wohnten hier meine Eltern und auch ich habe  in diesem Haus ein  paar Jahre gelebt. Und auch wenn ich schon länger  nicht mehr hier wohnte, so  war es doch mein Zuhause. Ich hatte meine  Mutter bereits durch das Fenster  hindurch in der Küche entdeckt.  Offenbar hatte sie mich nicht das Haus betreten  hören, denn als ich  vorsichtig gegen den Türrahmen klopfte, drehte sie sich  erschrocken  herum. Und als sie dann aber mich entdeckte, klatschte sie entzückt  in  die Hände.
"Ach, mein kleiner Spatz", rief meine Mutter  erfreut.  "Ich konnte es kaum glauben, als dein Vater erzählte, du hättest  dir  ein Haus in Rodaklippa gekauft. Ich hätte dich am liebsten gleich   besucht." Ich ging auf Mama zu und sie streichelte mir behutsam über den   Arm. "Ich fühle mich einfach wohl hier", entgegnete ich. Und das  stimmte  auch. Ich hatte schon gestern erfahren, wie schön es war, wenn  man einfach nur  ein paar Straßen weiter gehen musste, um den eigenen  Vater um Hilfe zu bitten.  Und jetzt bei Mama zu sein machte mich  ebenfalls glücklich. Vier Jahre lang  hatte ich versucht, die große  weite Welt zu erkunden. Doch jetzt hatte ich  erkannt, dass ich nur da  sein wollte, wo auch meine Familie war.
Doch dann setzte meine Mutter eine traurige Mine auf.   "Aber warum hast du uns nie etwas davon erzählt, dass es mit deinem   Studium nicht gut läuft. Dein Vater und ich hatten immer das Gefühl,  dass du  das ganz leicht meistern würdest. Ich war wirklich sehr  überrascht, dass du die  Abschlussprüfung nicht bestanden hast."  Betroffen senkte ich meinen Blick.  Mein missglücktes Studium war  wirklich kein Thema, über das ich gerne sprach.
Doch Mama schien dies nicht zu bemerken. Sie forderte  mich  dazu auf, mich hinzusetzen und bohrte gleich weiter. "Vielleicht  hast du  dich auch einfach übernommen, Spatz? Mathematik ist schließlich  auch ein  schweres Fach. Vielleicht hättest du lieber Simlisch auf  Grundschullehramt  studieren sollen? Du hast doch früher immer so schöne  Aufsätze  geschrieben." Ja, in der dritten Klasse! Danach sanken meine  Noten eher in  die Mittelmäßigkeit ab. "Ich glaube, studieren war nie  das Richtige für  mich, ganz egal welches Fach", seufzte ich betrübt.
"Ja, da hast du vielleicht recht", entgegnete  meine  Mutter. Obwohl sie genau das bestätigte, was ich gerade gesagt hatte,   trafen mich ihre Worte. Insgeheim hatte ich mir gewünscht, dass sie mir   widersprach, dass sie mir bewies, dass sie an mich glaubte. Doch  stattdessen  begann sie von meiner älteren Schwester zu sprechen. "Kinga  war fürs  Studium wie gemacht. Oh, sie war eine solch gute Schülerin.  Sie hätte alles  werden können. Ärztin, Politikerin…"
Der Blick meiner Mutter schweifte in die Ferne ab.   "Doch es kommt nicht immer alles so, wie man es sich vorstellt. Deine   Schwester hat sich ihr Leben selbst verbaut. Ich kann nur hoffen, dass  sie es  schafft, irgendwie glücklich zu werden. Weißt du, wir Blech  Frauen sind nicht  unbedingt fürs Glück gemacht." Für einen Moment  versank meine Mutter in  stummer Traurigkeit. "Ich hätte mir gewünscht,  dass du mehr Glück im Leben  haben würdest, Spätzchen."
"Mama, so schlimm ist mein Leben auch wieder  nicht",  entgegnete ich und versuchte die Stimmung mit einem Lächeln   aufzulockern. Doch ein Lächeln spielgelt sich nicht wie erhofft auf den  Lippen  meiner Mutter wieder. Sie blickte mich stattdessen traurig an  und in ihren  Augen erkannte ich, dass ich sie enttäuscht hatte. Auch  ihre zweite Tochter  hatte es zu nichts gebracht. Diese Erkenntnis traf  mich tief und mein Lächeln  erstarrte zu einer steinernen Fratze.
Zum Glück betrat gerade in diesem Moment Papa die  Küche.  "Na, was machen meine beiden wunderschönen Frauen? Ein kleines  Kaffeepläuschchen?  Solltet ihr beiden nicht lieber damit beschäftigt  sein, dem Herrn des Hauses  ein deftiges Mittagessen zu kochen?" Mein  Vater zwinkerte mir bei den  Worten zu. Er hatte eben für jede Situation  einen Spruch parat.
Natürlich erwartete mein Vater nicht, dass Mama und ich   alles stehen und liegen ließen, um ihn zu bekochen. Wobei, darüber  gefreut  hätte er sich sicher. Stattdessen setzte er sich zu uns an den  Tisch. "Ich  habe mit deiner Mutter gestern lange gesprochen", setzt er  schließlich an.  "Warum ziehst du nicht wieder bei uns ein? Wir haben  hier genug Platz und  du wärst nicht so allein in deinem Haus. Außerdem  bräuchtest du dir auch keine  Sorgen ums Geld zu machen. Deine Mutter  und ich würden uns um dich  kümmern."
Sowohl Mama als auch Papa sahen mich erwartungsvoll an.  Und  ich muss zugeben, dass das Angebot verlockend klang. Ich bräuchte  mir keine  Gedanken darüber zu machen, wie es mit meinem Leben  weitergehen sollte. Doch  dann erinnerte ich mich wieder an den Blick  der Enttäuschung, den ich in den  Augen meiner Mutter gesehen hatte.  Nein, ich musste es schaffen, auf eigenen  Beinen zu stehen. Ich musste  meiner Mutter beweisen, dass ich keine  Enttäuschung war. Ich wusste  zwar noch nicht wie, aber ich würde das schaffen!
"Vielen Dank für euer Angebot. Aber...aber wenn es auch   nichts ausmacht, würde ich doch gerne erst einmal versuchen, ob ich  das mit dem  eigenen Haus hinbekomme." Ich war selbst erstaunt darüber,  dass ich den  Mut fand auszusprechen, was ich wirklich dachte. Aber  leicht fiel es mir nicht  und meine Stimme wurde mit jedem Wort  schwächer. Mein Vater blickte Mama  betrübt an und diese biss sich nur  unbeholfen auf die Lippen. Die Situation  wurde wirklich unangenehm.  Doch dann begann Papa langsam mit dem Kopf zu  nicken. "In Ordnung,  Spatz. Aber vergiss nie, dass du uns jederzeit um  Hilfe bitten kannst.  Dafür sind wir schließlich da."
Das wusste ich natürlich. Und jetzt, wo alles geklärt  war,  wurden alle um einiges lockerer. Wir zogen uns ins Wohnzimmer  zurück und  unterhielten uns, während im Hintergrund die Aufzeichnung  des gestrigen  Fußballspiels SimCity gegen SimVegas übertragen wurde.  Mein Bruder Sky gesellte  sich zu uns, sobald er von der Schule  heimkehrte. Eine überschwängliche  Umarmung konnte ich von ihm nicht  erwarten. Dafür war er mit seinen 14 Jahren  ja viel zu cool. Aber ich  musste ganz genau, dass sich hinter seinem kühlen  "Hi, Klaudi" ehrliche  Freude darüber verbarg, mich wiederzusehen.
Ich war mir sicher, dass Mama und Papa ihm von meinem   Missglückten Studium erzählt hatten. Aber er erwähnte das mit keinem  Wort und  dafür war ich ihm unendlich dankbar. Stattdessen fragte er  mich darüber aus,  wie es den wäre in einem eigenen Haus zu wohnen, ohne  Elter, mit der Freiheit,  alles tun und lassen zu können, was man  wollte. Ich muss gestehen, dass ich mir  aufgrund der Angst vor der  Reaktion meiner Eltern und aufgrund der ungewissen  Zukunft, die  Vorteile der Situation noch gar nicht so bewusst gemacht hatte.   Manchmal musste man die Welt nur aus einem anderen Blickwinkel  betrachten und  schon ging die Sonne auf.