
Isabella ruft am Abend Lissy Ackermann an.
„Oh, Isa, du!“, ruft Lissy erstaunt und fügt sofort erschrocken hinzu:“Ist etwas passiert?“
Isabella:“Ja, Lissy, leider. Ich muss dich dringend sprechen.“
Lissy:“Etwas - mit Till?“
Isabella:“Es handelt sich um Miriam.“
„Ach so.!“ Lissys Stimmt klingt erleichtert. „Ist sie krank?“
Isabella:“Nein, sie ist fort. Ich kann dir das nicht alles am Telefon erzählen, Lissy. Du musst zu mir kommen.“
Lissy:“Aber, Isa – beim besten Willen – du weißt doch genau, Alex und die Kinder...“
Isabella:“Ich muss dich sprechen, Lissy.“
Einen Augenblick bleibt es still in der Leitung, dann sagt Lissy:“Gut, ich werde morgen früh gegen zehn Uhr bei dir sein, wenn ich es irgendwie einrichten kann.“
Isabella:“Du musst es einrichten, Lissy. Also dann, bis morgen...“

Bernhard hat dem Telefongespräch zugehört. „Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst“, sagt er, „Lissy Ackermann wird niemals...“
Isabella:“Miriam ist doch ihr Kind, Bernhard. Glaubst du wirklich, dass eine Mutter ihr Kind in einer solchen Situation im Stich lassen kann?“
Bernhard:“Sie hat Miriam schon einmal im Stich gelassen, vergiss das nicht.“
Isabella:“Wann? Ach so, du meinst ... Aber damals, das war doch was ganz anderes. Was hätte sie mit einem Baby anfangen sollen? Sie hatte keine Wahl.“
Bernhard:“Man hat immer eine Wahl, Isa. Wer hätte sie daran hindern können, das Kind zu behalten?“
Isabella:“Dann wäre ihr ganzes Leben verpfuscht gewesen.“
Bernhard:“Das ist nun doch sehr die Frage. Wahrscheinlich hätte sie Alex Ackermann trotzdem kennen gelernt, und, nach allem, was ich von ihm gehört habe, hätte er sie wohl auch mit dem Kind geheiratet. Nein, sie wollte das Kind damals nicht haben. Und ich zweifle sehr daran, dass sie sich heue mehr für Miriam interessiert. Du wirst es erleben.“
Isabella sieht ihren Mann nachdenklich an:“Ich glaube, du irrst dich. Du bist ein Mann, du verstehst das nicht. Ich werde nie vergessen, wie sehr sie geweint hat, als wir Miriam abholten. Erinnerst du dich noch?“
Bernhard:“Sie hat über ihr eigenes verpfuschtes Leben geweint, Isa, mach dir doch nichts vor. Sie war heilfroh, dass wir ihr die Verantwortung für Miriam abgenommen haben.“
Isabella:“Du bist sehr hart in deinen Urteilen, Bernhard!“
Bernhard:“Und du machst dir wieder einmal Illusionen, Isa. Wann wirst du endlich lernen, die Menschen nicht nach deinem eigenen Charakter einzuschätzen?“

Der nächste Tag ist strahlend und warm.
Isabella empfängt Lissy auf der kleinen Terrasse hinter dem Haus.
„Entschuldige, wenn ich nicht aufstehe“, sagt sie, „aber...“ Ihr Gesicht wirkt müde und traurig. Sie wirkt, als wäre sie in den letzten Tagen der Krankheit um Jahre gealtert.
Lissy:“Bist du krank? Du siehst entsetzlich schlecht aus, Isa!“
Isabella zwingt sich zu einem Lächeln:“Es geht mir schon wieder besser, Lissy. Kein Grund zur Aufregung. Bitte setz dich doch. Mach es dir bequem.“
Lissy:“Danke, Isa. Aber ich habe nur furchtbar wenig Zeit!“
Isabella denkt, dass Lissy sich zu jugendlich anzieht.
Isabella:“Wie geht es deinem Mann und den Kindern?“
Lissy:“Danke, sehr gut. Das heißt, der Kleine hat sich einen Schnupfen geholt. Aber – du hast mich doch sicher nicht kommen lassen, um mit mir über meine Familie zu sprechen?“
Isabella:“Nein.“

Lissy setzt sich zu Isabella. „Was ist mit Miriam?“, fragt sie. „Sag’s doch endlich! Ich glaube zwar kaum, dass ich dir helfen kann...“
Isabella:“Du musst mir helfen, Lissy.“
Lissy:“Ich? Aber wie denn? Ich habe das Kind ja seit Jahren nicht mehr gesehen, und überhaupt...“
Isabella:“Bitte, Lissy, nun hör doch erst mal zu. Du weißt ja noch gar nicht, was passiert ist.“
Lissy:“Du tust ja gerade so, als wenn es eine Katastrophe gegeben hätte, Isa! Dabei kann ich mir gar nicht denken...“
Isabella:“Es ist eine Katastrophe, Lissy. Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss. Wir haben alles getan, um allein damit fertig zu werden, aber jetzt kannst nur noch du helfen. Miriam ist weggelaufen...“
Lissy:“Was? Und ihr wisst nicht, wo sie ist?“
Isabella:“Doch. Sie ist im Dorotheenheim. Bernhard war dort. Er sagt, dass Miriam sich ganz gut einfügt.“
Lissy:“Na also! Weshalb machst du dann so ein Theater?“
Isabella:“Ich mache kein Theater, Lissy. Miriam hat herausbekommen, dass wir sie adoptiert haben...“
Lissy unterbricht sie mit einer heftigen Handbewegung:“Warum um Himmels willen habt ihr ihr das gesagt?“
Isabella:“Da du nur wenig Zeit hast, Lissy, möchte ich mich auf das Wesentlichste beschränken, ja? Das Ganze ist nämlich eine ziemlich komplizierte Geschichte. Jedenfalls hat sie es herausbekommen und will nun unbedingt wissen, wer ihr wirklichen Eltern sind. Natürlich konnten wir ihr das nicht sagen. Schon deinetwegen nicht, Lissy. Deshalb ist sie weggelaufen. Die Polizei hat sie nachts im Park aufgefischt, und jetzt ist sie im Dorotheenheim. Verstehst du endlich?“
Lissy:“Kein Wort. Hat sie etwas angestellt? Hat man sie deshalb in das Heim gesteckt?“
Isabella:“Nein – sie wollte nicht mehr zu uns zurück.“
Einen Augenblick bleibt Lissy ganz still. Dann sagt sie:“Das tut mir entsetzlich leid für dich, Isa. Ich weiß doch genau, was du alles für das Kind getan hast.“
Isabella:“Wahrscheinlich habe ich es falsch gemacht, Lissy. Wahrscheinlich muss man ein Kind doch unter Schmerzen gebären, wie es so schön heißt, um es nachher richtig erziehen zu können. Du bist Miriams Mutter, Lissy. Deshalb habe ich dich jetzt um Hilfe gebeten.“

Lissy:“Aber – ich verstehe nicht, Isa ... Was kann ich denn dabei tun?“
Isabella:“Du musst mit ihr reden, Lissy. Du musst ihr alles erzählen. Sie ist alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.“
Lissy:“Ich? Ich soll...?“
Isabella:“Ja. Wenn du es nicht willst, muss ich es tun.“
Lissy:“Nein, Isa! Nein! Du meinst ... Du willst ihr sagen, dass ich ihre Mutter bin? Das ist ganz ausgeschlossen.“
Isabella:“Du sollst es ihr sagen, Lissy!“
Lissy:“Aber, Isa! Das ist doch ganz und gar unmöglich. Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?“
Isabella:“Weil Miriam es wissen will. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Ich glaube, sie bildet sich ein, wir hätten die Notlage eines unglücklichen Mädchens ausgenutzt, um sie zu bekommen, oder so etwas Ähnliches. Anders kann ich mir ihr Verhalten nicht erklären. Du musst ihr sagen, dass es anders war.“
Lissy streicht sich mit einer nervösen Geste durch ihr gefärbtes Haar:“Würde es nicht genügen, wenn du ihr die ganze Geschichte erzählst, ohne Namen zu nennen?“
Isabella:“Nein. Sie würde mir nicht glauben.“
Lissy:“Aber – sie kann sich doch nicht einbilden, dass du dir so eine Geschichte einfach ausdenkst.“
Isabella:“Oh doch. Sie war außer sich, weil wir sie all die Jahre belogen haben. Natürlich ist es töricht von ihr, das brauchst du mir nicht zu sagen. Aber sie ist eben noch ein Kind, ein ganz und gar verzweifeltes Kind, verstehst du? Du musst ihr jetzt helfen.“
Lissy:“Ich kann nicht.“
Isabella:“Lissy!“
Lissy:“Ich weiß, du hältst mich für feige, für herzlos. Aber ich kann es nicht, Isa.“

Isabella:“Schade. Du lässt mir keine Wahl. Dann muss ich es wohl selbst tun.“
Lissy:“Isa, ich bitte dich ... Du hast dir etwas in den Kopf gesetzt, was ganz und gar sinnlos ist!“
Isabella:“Nein. Ich kenne Miriam. Es ist die einzige Möglichkeit, ihr zu helfen. Man muss ihr die Wahrheit sagen.“
Lissy:“Was mit mir passiert, daran denkst du gar nicht?“
Isabella:“Was soll schon mit dir passieren?“
Lissy:“Dass Miriam eines Tages bei uns vor der Tür steht.“
Isabella:“Wäre das wirklich so schlimm?“
Lissy:“Es wäre entsetzlich, Isa. Du weißt, dass ich Alex nie von dieser Geschichte erzählt habe. Du hast mir zwar immer geraten, es zu tun, aber ich konnte es nicht. Verstehst du denn nicht? Ich konnte es nicht. Wenn man viele glückliche Jahre mit einem Mann verheiratet ist, kann man ihm nicht einfach sagen, dass man schon früher mit einem anderen Mann ein Kind gehabt hat. Versetz dich doch einmal in meine Situation! Vielleicht hätte er mir das Kind verziehen, wenn ich es ihm damals gesagt hätte, als er mich heiraten wollte. Aber jetzt – nach all den Jahren ... Nein, Isa, er darf es nie erfahren. Niemals!“
Isabella:“Auch wenn Miriam zugrunde geht?“
Lissy:“Du übertreibst. Sie hat vielleicht einen Schock bekommen, als sie so plötzlich erfahren hat, dass ihr nicht ihre wirklichen Eltern seid, aber sie wird darüber hinwegkommen. Sie ist schließlich jung und gesund.“
Isabella:“Gerade weil sie jung ist, Lissy. Sie ist zu jung, um damit fertig zu werden.“
Lissy:“Du hast doch selbst gesagt, dass sie sich im Dorotheenheim gut einfügt, nicht wahr?“
Isabella:“Aber dort kann sie doch nicht lange bleiben, Lissy. Das ist keine Lösung.“
Lissy:“Dann hol sie doch heraus. Ich wette, sie hat längst eingesehen, wie dumm sie sich benommen hat, und wie wird heilfroh sein, wenn ihr sie zurückholt.“

Isabella:“Du kennst Miriam sehr schlecht, Lissy. Wenn sie jetzt zurückkäme, würde sie die Achtung vor sich selbst verlieren. Das, was geschehen ist, würde immer zwischen uns stehen. Wie eine Wand. Ich kann sie nur zurückholen, wenn ich ihr die Wahrheit sage.“
Lissy:“Das darfst du nicht! Du würdest mein Leben zerstören.“
Isabella:“So kommen wir nicht weiter, Lissy. Kannst du denn wirklich kein Fünkchen Liebe, kein Fünkchen Verantwortungsgefühl für das Kind aufbringen? Sie ist doch deine Tochter, dein Fleisch und Blut. Du musst doch genauso sehr den Wunsch haben, ihr zu helfen wie ich!“
Lissy:“Ich würde ihr helfen, Isa – glaub mir doch! – wenn ich könnte. Aber mir sind die Hände gebunden. Was würde es Miriam denn nützen, wenn sie alles erfährt, und meine Ehe geht dabei in Brüche? Wir würden ihr eine Verantwortung aufhalsen, der sie gar nicht gewachsen wäre.“
Isabella:“Tu doch nicht so, als wenn du jetzt an Miriam denkst! Du denkst nur an dich, Lissy. Du hast all die Jahre immer nur an dich gedacht.“
Lissy:“Du tust mir unrecht, Isa. Ich denke an meinen Mann und meine beiden Kinder ... Paul und Susi sind meine wirklichen Kinder. Ich habe sie nicht nur geboren, sondern – sie gehören mir, wie Miriam mir nie gehört hat. Sie muss ich schützen, Miriam...“ Lissy zuckt die Schultern.
Isabella:“Sie ist dir also egal?“
Lissy:“Nein. Ich möchte, dass es ihr gut geht und dass sie glücklich ist. Natürlich möchte ich das. Wenn eine wirkliche Gefahr für sie bestünde...“
Isabella:“Aber die besteht ja, Lissy. Bitte, versteh mich doch endlich! Es ist ja nicht nur das mit der Adoption. Es sind noch andere Dinge vorgefallen. Ich wollte dich nicht damit belasten, aber du zwingst mich dazu, es dir zu erzählen. Sie hat sich in Nachtlokalen herumgetrieben, sie hat einen Mann mit nach Hause gebracht. Nein, es ist nichts passiert, Lissy. Noch nicht. Aber erinnere dich doch an deine eigene Jugend. Wie alt warst du, als Miriam zur Welt kam?“
Lissy:“18. Warum fragst du? Du weißt es doch ganz genau!“
Isabella:“Ich dachte, du hättest es vielleicht vergessen. Miriam ist deine Tochter! Willst du es verantworten, dass ihr vielleicht dasselbe zustößt wie dir? Du hattest ein intaktes Elternhaus...“
Lissy:“Meine Eltern haben mich nie verstanden.“
Isabella:“Siehst du! Du sprichst auch heute noch genau wie Miriam. Sie ist auch überzeugt, dass wir sie nicht verstehen. Sie kann es sich mit noch mehr Grund einreden als du damals, denn sie weiß, dass wir nicht ihre Eltern sind. Dabei bin ich sicher, du tust deinen Eltern genauso unrecht wie Miriam uns. Auch deine Eltern werden dich geliebt haben.“
Lissy:“Aber sie haben es mir nie gezeigt.“
Isabella:“Das kann ich nicht beurteilen, Lissy. Jedenfalls steht fest, dass Miriam heute mindestens genauso gefährdet ist, wie du es damals warst. Wir müssen sie vor demselben Schicksal bewahren. Ja, natürlich, das Dorotheenheim ist großartig. Aber glaubst du, dass eine Heimerziehung einem Mädchen wire Miriam einen Halt geben kann? Ganz davon zu schweigen, dass die anderen Mädchen bestimmt auch keinen guten Einfluss auf Miriam ausüben werden. All diese Mädchen dort haben keine Eltern oder schlimme häusliche Verhältnisse, oder sie sind aus anderen Gründen gefährdet. Bildest du dir ein, dass Miriam von solchen Mädchen etwas Gutes lernen kann?“
Lissy kaut nervös auf ihrer Unterlippe.

Lissy:“Du hast natürlich recht. Sie muss da raus! Könntet ihr sie nicht in ein Internat geben? Ich meine – in ein ganz normales Internat?“
Isabella:“Das hatten wir vor. Bevor die Sache passiert ist. Aber jetzt ... Sie will nichts von uns annehmen, und ich halte es für falsch, sie dazu zu zwingen, bevor nicht wieder alles in Ordnung ist.“
Lissy:“Vielleicht ... Man müsste eine Familie finden, die sie aufnimmt.“
„Hör mal, Lissy!“ Isabella richtet sich kerzengerade auf. „Könntest du das nicht tun? Bitte, sag jetzt nicht gleich nein. Überleg dir erst einmal meinen Vorschlag. Sie kennt dich gar nicht, nicht wahr? Sie weiß nicht einmal, dass wir befreundet sind. Du brauchst einfach ins Dorotheenheim zu gehen und um eine Hilfe für den Haushalt zu bitten – zur Betreuung deiner Kinder, verstehst du?“
Lissy:“Aber würden sie mir Miriam überhaupt geben?“
Isabella:“Natürlich. Bernhard braucht das doch bloß mit der Direktorin auszumachen. Dann hättest du sie bei dir zu Hause. Alex bräuchte gar nicht zu erfahren, dass sie deine Tochter ist. Miriam auch nicht. Aber du könntest auf sie aufpassen, du könntest versuchen, sie zu beeinflussen ... Verstehst du, was ich meine?“
„Ja“, sagt Lissy zögernd.
Isabella:“Und?“
Wird Lissy sich um ihre Tochter Miriam kümmern?