Beiträge von Gifti

    -



    Die alte Haustür quietsche störrisch, als Black sie öffnete. Der Block, in dem er wohnte befand sich in wahrlich keiner schönen Gegend. Es war eine kleine Betonsiedlung, die alt, verlassen und versifft aussah und außer ein paar zwielichtigen Gestalten trieb sich niemand auf der Straße rum. Einige Straßelaternen waren umgeschmissen und lagen am Straßenland, bei anderen war einfach nur das Licht kaputt, und so war die ganze Siedlung ziemlich dunkel, was ihr noch einen unangenehmeren Charakter verlieh.
    „Der Fahrstuhl geht schon seit ich eingezogen bin nicht mehr”, sagte Black, wahrend wir den muffigen Hausflur betraten. „Also müssen wir die sechs Stockwerke hoch laufen. Wenn du willst, trag ich dich.” Er zwinkerte.
    „Natürlich”, gab ich ironisch zurück. „Ich bin jetzt ne Stunde durch Hamburg gelaufen, die Treppen schaff ich auf keinen Fall noch.”



    Grade wollte ich losgehen, als ich mich auch schon auf Blacks Arm befand.
    „Hey! Das war nicht ernst gemeint”, protestierte ich, doch Black ließ mich nicht herunter.
    „Hinter jedem Scherz steckt auch ein Fünkchen Wahrheit”, sagte er, und begann, mit mir auf dem Arm die Treppen hoch zu rennen. Als wir im sechsten Stock ankamen, atmete er schnell und schien aus der Puste zu sein, ließ mich aber auch nicht auf den Boden zurück, als er seine Wohnungstür aufschloss, die man aber wohl auch hätte auftreten können, so instabil sah sie aus.
    Mit dem Ellenbogen knipste Black das Licht an und ließ mich wieder hinab auf den Boden.



    Gespannt sah ich mich in der Wohnung um. Er war eiskalt, weil ein Fenster weit aufstand und ich fragte mich nach dem Sinn. Blacks Wohnung bestand aus nur einem Raum und alles was es an Möbeln gab war ein mittelgroßes Bett, ein Regal vollgestopft mit viel zu vielen Büchern, ein kleiner Tisch mit einem Stuhl und ein winziger Kochbereich. An die Wände waren viele Fotos gepinnt, die der Wohnung ein wenig häusliches Aussehen verliehen und direkt neben dem Bett lag eine große, weiche Decke auf dem Boden. Auch die zwei Näpfe neben dem Herd deuteten auf Blacks Haustier hin.



    Neben dem Bücherregal und in der Ecke standen große Kartons, aus denen Klamotten quillten, einen Kleiderschrank gab es nicht. Die Wohnung war natürlich nicht sehr ansprechend und schön, aber nicht zuletzt durch die ganzen Fotos hatte sie irgendwie einen persönlichen und interessanten Touch und war sicher anders, als die anderen Wohnungen in diesem Block.
    „Na, willst du nun wieder nach Hause?”, fragte Black in einem ich-habs-dir-doch-gesagt-Ton.
    „Nein, eigentlich würde ich gerne hier bleiben”, antwortete ich. „… wenn du das Fenster zu machst.”

    Sorry erstmal, dass es solange nicht weiter ging. Danke für die lieben Kommis, über die ich mich sehr gefreut habe und danke an CindySim für die Aufforderung, hier endlich weiter zu machen. Manchmal brauche ich einen kleinen Tritt :D


    An Ysabella bzgl des Barbie-Skins: Ja, du hast natürlich Recht und ich finde es auch extrem schade, aber es liegt daran, dass ich die FS auch in andeen Foren ausstelle und nicht in allen richtige Nackt-Skins erlaubt sind :(


    Dafür ist das nächste Kapitel aber auch extra lang und es gibt endlich die Auflösung um Black :)





    Kapitel 11

    Knapp 50 Minuten später war ich gestylt. Mara hatte Unterwäsche aus meinem Schrank suchen müssen, weil sie meinte, dass alle von mir ausgewählten Teile nicht ansprechend genug waren und nach zehn Minuten war sie endlich zufrieden gewesen. Nun trug ich ein modernes schwarzes Neckholdertop und eine einfache, aber irgendwie auch edle dunkelblaue Jeans zu meinen Lieblingsschuhen. Meine schulterlangen Haare hatte Mara mit einigen Klammern hübsch zurückgesteckt und meine Augen gekonnt mit Eyeliner und Mascara betont. Ich fühlte mich wohl in meinem Outfit und fand mich sehr hübsch, was mein Selbstbewusstsein schon etwas stärkte.



    Als ich mich noch im Spiegel begutachtete und das blonde Mädchen mir Komplimente über meine Figur machte, klingelte es auch schon an der Tür. Mein Herz machte einen Sprung und ich kam mit vor wie ein junger Teenager.
    Noch bevor ich die Haustür erreichen konnte, riss Kira diese gereizt auf.
    „Verpiss dich, du Scheißkerl”, schrie sie, und verstummte plötzlich, als ihr nicht, wie wohl erwartet, Jay gegenüber stand, sondern ein Mann, der größer war als sie selbst, sie mit seinen schwarzen Augen anfunkelte und grinste.



    „Hi”, sagte er. „Nett, dich kennen zu lernen.”
    „Äh… hi”, stammelte Kira und sah sich hilfesuchend nach mir und Mara um, welche fast losprustete vor Lachen.
    Ich schlüpfte in meinen Mantel und verabschiedete mich von den beiden Mädchen.



    „Ran da, der’s hot”, flüsterte die rot gewordene Kira mir noch ins Ohr, bevor ich die WG verließ und mit Black und seinem Hund, den er wie immer dabei hatte, die Treppen runter ging.
    „Du siehst sehr hübsch aus”, sagte Black, der wie immer ganz in schwarz gekleidet war, als wir den Gehweg betraten.
    „Du meinst… wie ein normales Mädchen?” Ich freute mich über seine Worte.
    „Wie eine wunderschöne normale junge Frau”, gab er zurück. „Hast du einen Wunsch, wo wir hingehen können? Ich habe kein Auto, wir müssten zu Fuß gehen.”



    Irgendwie war ich ein bisschen enttäuscht, war ich doch irgendwie davon ausgegangen, dass Black mich mit einem tollen Auto abholen würde.
    ‚Aber lieber kein Auto und toll, als so ein Assi und mit nem Sportwagen’, dachte ich mir.
    „Wo wohnst du?”, fragte ich, den Gedanken an Jay schnell wieder aus meinem Kopf verdrängend. „Ich würde gerne mal deine Wohnung sehen.”
    „Das ist ziemlich weit weg. Und die ist wirklich nicht sehenswert…”
    „Ach bitte.”
    „Soweit dafür zu laufen… du würdest es bereuen.” Black sah mich mit seinen funkelnden Augen an.



    „Und wenn schon. Sonst würde ich mich immer fragen, wie du wohl wohnst.”
    „Völlig unspektakulär. Ich bin nur übergangsweise in Hamburg. Und wie du schon merkst… habe ich überhaupt kein Geld.”
    „Bitte lass uns hingehen”, erwiderte ich und musste wohl so viel Überzeugungskraft in der Stimme gehabt haben, dass Black zustimmte.
    „Aber denn beschwer dich nicht”, sagte er und ich erkannte ein kleines Lächeln auf seinen Lippen.
    „Darf ich deine Hand nehmen?”, fragte er vorsichtig, und dann gingen wir wortlos in die Nacht hinein und ich fühlte mich einfach nur gut und sicher.


    Louis hatte gewusst, dass er nicht würde schlafen können, aber jetzt lag er schon seit Stunden wach und starrte an die Decke. Er erinnerte sich an die erste Nacht bei Oscar, die erste Nacht nach einer tagelangen Flucht auf diesem furchtbaren Schiff und in diesem dunklen Zugwaggon, in der er ebenso dagelegen hatte, mit einem bis zum Halse pochendem Herzen und in der er nicht eine Minute lang geschlafen hatte, obwohl er todmüde und erschöpft gewesen war und der Komfort des weichen Bettes in der Stille wirklich ungleich besser gewesen war, als alle Todschlagsszenarien, die er sich wieder und wieder für das Ende seiner Flucht ausgemalt hatte. Die ganze Zeit hatte er gewartet und gelauscht, dass es an der Tür klopfen würde, dass Schüsse fallen würden, dass sie ihn doch verfolgt hätten und jetzt alles zu Ende war. Aber es klopfte nicht, auch nicht am nächsten Tag und in der nächsten Nacht, und niemand war gekommen, um ihn abzuholen. Bis heute nicht.



    Er hatte etwas zu Essen bekommen, gute Mahlzeiten. Kleidung, ein Badezimmer, ein weiches Bett, das Gefühl, nicht alleine zu sein und dann sogar noch das Klavier, das ihm half, in eine andere Welt abzutauchen und all diese Nöte zu vergessen.
    Und jetzt lag er da, wie am ersten Tag und mit der Gewissheit, sein neues Zuhause, das ihm so viel Sicherheit geboten hatte, an das er sich gewöhnt hatte, wieder verlassen zu müssen, morgen früh schon und starten zu müssen in ein völlig anderes Leben, ein Leben, wie er es sich nie hatte vorstellen können, wie er es sich nie hatte vorstellen wollen. Es ging jetzt wirklich nur noch ums nackte Überleben, da hatte Oscar Recht, und er würde all das tun, für das er in seinem Leben nie bereit gewesen war. Und er würde alleine sein, völlig alleine und nicht mal jemanden haben, der seine Sprache verstehen würde oder sich überhaupt was unter dem Begriff ‚Europa’ vorstellen konnte.



    Louis drehte sich auf die Seite und atmete tief durch. Er sollte sich nicht so anstellen. Es ging nicht darum, sich jetzt wohl zu fühlen und ein hübsches Leben zu führen. Es ging einzig und allein um den Erhalt der Hoffnung. Der Hoffnung, die sich wie ein Regenbogen über den herabstürzenden Bach seines Lebens erstreckte. Und die ihm irgendwann helfen würde, in dem Meer von Schmerzen schwimmen zu lernen, statt darin zu ertrinken.

    Kommt ja wahnsinnig gut an hier, die Story (:
    Naja, ich versuchs trotzdem nochmal^^




    Kapitel 2, Fortsetzung



    Es war spät an diesem Abend und Louis beobachtete die Sonne, die als riesiger Feuerball hinter dem Ozean verschwand und die die romantische Abendstimmung, die durch das gedämpfte Licht und den gefärbten Himmel entstanden war, in wenigen Minuten mit in die Tiefe reißen würde. Er dachte an die Länder und all die Menschen im Westen, bei denen es jetzt erst morgens wurde und fragte sich, ob es Zufall war, dass die Sonne in der Früh im Osten, mittags im Süden, abends im Westen, nie aber im Norden zu sehen war. Im Norden, dort, wo seine Heimat war, wo er alles hatte zurücklassen müssen. Wieso schien die Sonne niemals für den Norden?



    Louis hatte grade beschlossen, sich noch Wein nachzuschenken, als Oscar das Zimmer betrat. Er war ein stattlicher Mann mit ergrautem Haar und vollem Bart, der stets eine Rauchfahne hinter sich herzog, und er war derjenige, dem Louis sein Leben verdankte. Hätte Oscar nicht das seine riskiert, indem er durch seine Kontakte dafür gesorgt hatte, Louis mit einem Schiff aus Europa zu bringen, hätte er ihn nicht bei sich aufgenommen, hier in seiner Wahlheimat und allen, die davon wussten mehr Schweigegeld bezahlt, als angebracht war für ein Leben wie das seine, das keinen Cent mehr wert war, hätte Louis keine Chance gehabt aus dem Netz aus Intrigen, Korruptionen und Folter zu entfliehen, welches sich immer enger um ihn gespannt hatte und dem er sich schon fast ergeben hätte.
    „Es wird Zeit für dich, mein Freund“, nuschelte Oscar, als er sich auf der Sessellehne niederließ. „Ich kann dich nicht länger hier behalten.“



    Louis erwartete, dass Oscar seinem Blick ausweichen würde, aber er hielt ihm stand. Trotz seiner unverkennbaren Traurigkeit, war noch immer der alte Stolz in den Augen seines Freundes zu sehen, noch immer waren es Mut und Ehrbarkeit, die Oscar auszeichneten, und um die Louis ihn stets beneidet hatten.
    „Ich habe einen Bekannten, bei dem du wohnen kannst. Glaub’ nicht, dass der das aus Freundlichkeit tut, aber er schuldet mir noch einen Gefallen. Sein Sohn studiert in der Stadt und so ist das Häuschen, was sie für ihn gebaut hatten, noch etwa zwei Jahre frei. Es ist nicht groß, es wird dir nicht gefallen und du wirst dich auch nur schwer daran gewöhnen. Aber es ist das Beste, was ich dir besorgen kann, und es ist hundert Prozent sicher. Die Leute da reden nicht, mit Weißen schon gar nicht, und sie haben genug Anstand, einen Soldaten, der mit hundert Dollar winkt, achselzuckend wegzuschicken. Die Leute da sind vom alten Schlag. Sie sind ehrenhaft, Louis. Nicht wie ihr in Europa, die ihr jede Freundschaft und allen Anstand vergesst, wenn es um Geld geht, und seien es nur ein paar Kröten, die sie euch geben, dafür, dass ihr ihnen eure Seele verkauft und keine Freunde mehr kennt. Sie werden schweigen, Louis. Sie schützen dich.“



    Louis atmete tief durch und ging im Zimmer auf und ab. Obwohl es warm war, eine immerwährende Hitze, an die er sich nur schwer gewöhnen konnte, fröstelte er jetzt und es schien ihm, als sei die Temperatur im Raum mit dem Verschwinden der Sonne um ein paar Grad gefallen.
    „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde“, gab er zähneknirschend zu und vermied dabei, seinen alten Freund anzusehen. „Ich hatte gedacht, ich könnte noch ein paar Tage…“
    „Louis, ich setze nicht nur mein Leben aufs Spiel, sondern auch das meiner Familie. Das Risiko, dass sie dich doch noch suchen, ist höher als gedacht, wenn mein Informant die Wahrheit sagt. Die Leute auf dem Schiff und auch die an den Grenzen sind arm, nehmen gerne das Geld an, das sie ihnen zustecken, und denkst du, es interessiert sie, um was es hier geht? Das Wichtigste ist deine Sicherheit, und die ist hier nicht gegeben; nicht so, wie ich es mir für dich wünsche. Kojo holt dich morgen früh ab und fährt mit dir zu Amadis Farm. Ich habe gesagt, dass du ein Farmarbeiter bist, also verhalte dich auch so und reiß dich zusammen.



    Sie werden dir nicht wohlgesonnen sein, die Leute im Süden sind noch traditionell und wie ich schon sagte, mögen sie keine Weißen, aber wenn du gut arbeitest, werden sie niemals fragen, wo du herkommst und wer du bist. Die interessiert nicht, was du getan hast, die interessiert nur, was du jetzt tust, und wenn du ihnen die Kühe melkst und die Kartoffeln erntest, werden sie sich um dich kümmern.“
    „Oscar, ich…du… wie kannst du…“
    „Ein Farmarbeiter? Na denkst du, die nehmen dich auf, wenn ich erzähle, dass du ein Kriegsverbrecher aus Europa bist, ein Terrorist, der völlig zu Recht von Regierung und Militär gesucht wird und der noch nie in seinem Leben ein Schaf gesehen hat?" Oscar holte aus und schlug sich mit den Händen hart auf die Oberschenkel, um seinen Ärger zum Ausdruck zu bringen, der in seiner Simme kaum zu vernehmen war.




    „Ich weiß, dass du reich und wohlbehütet aufgewachsen bist, aber das bringt dir jetzt einfach mal so gar nichts mehr. Ja, du wirst nichts auf die Reihe kriegen, aber du wirst dich verdammt noch mal reinhängen!“
    Louis starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit, die jetzt alles verschluckte. Oscars Worte trafen ihn mitten ins Herz, denn er sprach das aus, was er sich nie eingestehen wollte. Ja, ein Mörder. Ein Terrorist.
    „Morgen früh, sagst du?“
    „Kojo wird um acht hier sein, kurz nach dem Frühstück. Ich werde dir ein paar Hemden und Hosen rauslegen und Florence wird dir einen Koffer packen mit Sachen, die du gut gebrauchen kannst. Und, Louis? Es wäre gut, wenn du dich niemals wieder hier meldest.“




    Mit diesen Worten stand Oscar schwerfällig auf und dehnte seine Schultermuskulatur.
    „Das hier ist kein Land für Leute, die auf der Couch sitzen wollen“, sagte er, als er zur Tür ging.
    „Oscar?“
    Oscar schien zu überlegen, ob er die Tür einfach hinter sich schließen sollte, hielt dann aber doch inne und drehte sich noch einmal um.
    „Du hast ihnen nicht gesagt, dass ich weiß bin, oder?“
    Er schwieg, dann zwinkerte er Louis zu.
    „Du lernst es langsam. Ich dachte, sie müssen sich ja nicht von vornherein ablehnen. Eine Chance können sie dir ja geben!“

    Die traurigen Klänge der Symphonien erfüllten das kleine Zimmer mit den großen Fenstern gen Westen und ließen Louis in eine Welt eintauchen, die nicht mehr die seine war, die nie mehr die seine sein würde. Schon von klein auf hatte er die klassische Musik geliebt, war damit aufgewachsen und hatte gelernt, sie mit dieser ganz besonderen emotionalen Note zu versehen, zu der nur wenige Pianisten fähig waren.




    Wenn er spielte, dann war es keine Musik, die zu hören war, es war Gefühl. Tiefste, innigste Emotionen, die den Zuhörern eine Gänsehaut über den Rücken jagten und selbst dann Tränen in die Augen trieben, wenn es in Dur gespielt wurde. Zuhörer hatte er seit Monaten nicht mehr gehabt, aber das Gefühl war geblieben, das jetzt umso ergreifender, umso überwältigender geworden war, wo er für sich allein spielte.
    Es tat ihm gut, das alte Elfenbein unter seinen Fingerkuppen zu spüren, die Hände über die Tasten gleiten zu lassen. Ja, es war schwer, zu spielen, jetzt, wo es unter einem so anderen Licht geschah, aber noch schwerer würde es ihm fallen, es nicht zu tun und seinen Feinden den Sieg zu gönnen, den sie errungen hätten, wenn es ihnen gelungen wäre, ihm auch diese Leidenschaft ein für alle mal zu nehmen.
    Elise. Wie hatte es geschehen können, dass er das alles nicht vorhergesehen hatte? Wie hatte er die Augen verschließen können in all dieser Zeit, nur um des Friedens und der Glückseligkeit Willen? Zu welchem Preis?



    Elise. Sie würde ihn nie wieder sehen, vielleicht würde sie ihn gar vergessen in den Jahren. Sie würde sich entwickeln und älter werden, würde vieles lernen, vieles neu erfahren – und vieles nicht mehr erinnern. Wenn er daran dachte, was mit ihr geschehen könnte, stiegen ihm unweigerlich die Tränen in die Augen. Er wusste, dass er kämpfen musste. Jetzt, um zu überleben und bald, vielleicht in einigen Jahren, um sie ein letztes Mal zu sehen, auch, wenn er wusste, dass er dabei sterben würde. Der Krieg würde ihm alles nehmen, seine Hoffnung, sein Leben, aber niemals seine Liebe. Er würde es tun. Für Elise. Nur für seine Tochter.

    2. So etwas wie Hoffnung




    No one knows what it's like
    to be the bad man
    to be the sad man
    behind blue eyes



    And no one knows what it's like
    to be hated
    to be faded
    to telling only lies
    But my dreams
    they aren't as empty
    as my conscience
    seems to be



    I have hours
    only lonely
    my love is vengeance
    that's never free
    (The Who – Behind blue eyes)






    Leben. Ja, genau das, was ihm in den letzten Wochen unmöglich erschienen war, genau das würde er tun. Leben in ihren Erinnerungen. Leben als Teil in ihrem Leben. Jetzt, wo es das seine nicht mehr gab.
    Louis Vagoda legte den Füllfederhalter beiseite, den er zusammen mit den wenigen Dingen, die er am Körper getragen hatte, aus seiner alten Existenz in die neue hatte retten können und ließ seine Fingerknöchel knacken. Er war angespannt, immer noch, auch wenn er sich entspannen sollte, denn er war entkommen, in Sicherheit. Er wusste, dass sie ihn hier nicht finden würden, aber trotzdem zuckte er zusammen bei jedem Geräusch, lebte in ständiger Angst und schlief immer mit der Pistole unter dem Kopfkissen, die Oscar ihm gegeben hatte. Wie lange das noch so weitergehen solle, hatten sie ihn gefragt, aber er hatte nur mit den Schultern gezuckt und beschämt zu Boden gesehen. Was sollte er ihnen sagen?




    Louis war dankbar. Mehr als das, auch wenn er es nicht zeigen, geschweige denn ausdrücken konnte und den größten Teil der Zeit nur apathisch und unbeteiligt wirkend dastand und schwieg. Was sollte er sagen? Wie könnte er jemals ausdrücken, was er ihnen sagen wollte?
    Er faltete den Brief an Elise sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Schublade des Schreibtisches, die er extra dafür vorgesehen hatte.



    Er würde ihn verbrennen, irgendwann, vielleicht bald, aber noch fehlte ihm die Kraft dazu. Erinnerung. Träume. Illusionen. Was war ihm geblieben als die heimlichen, irrigen Vorstellungen, dass sich eines Tages doch alles zum Guten wenden würde und es wieder sein könnte, wie zuvor? Er würde sterben ohne diese Vorstellungen, ohne die Träume, das wusste er, seit er hier angekommen war.
    Das Glas Rotwein auf dem Tisch erschien ihm als einziger Rettungsanker, als einzige mögliche Hoffnung.



    Er trank zu viel in letzter Zeit, aber was machte es aus? Was änderte es noch? Wenn ihm irgendetwas helfen konnte, zu vergessen, würde er es annehmen und wenn es Alkohol und Drogen waren, die zu seinen besten Freunden wurden, dann war es immer noch besser, als allein zu sein, allein mit den Sorgen, den Ängsten, den Erinnerungen. Allein mit den Träumen, allein mit dem Schmerz.
    Louis stand auf und leerte das Glas mit einem Schluck.



    Ihm war schwindelig, aber es war die Müdigkeit, die seine Sinne benebelte und nicht der Alkohol. Was würde er dafür geben, wieder eine Nacht durchschlafen zu können? Was täte er, um einmal ausgeruht aus einem traumlosen Schlaf aufwachen zu können? Nur eine Nacht die Bilder ausblenden, eine Nacht für sich haben, ohne das Grauen, das ihn heimsuchte, bis hierher, das ihm in seine Gedanken und Träume gefolgt war und nicht mehr loslassen würde. Er würde sterben dafür.
    Wenn er nicht schon tot gewesen wäre. Auf dem Papier. Und innerlich. Er hatte versucht in dem Brief an Elise, an die Person, die er als Einzige auf der Welt liebte, und die ihn liebte, bedingungslos, es immer getan hatte, und die ihm jetzt genommen worden war, auf die grausamste Weise, die man sich vorstellen konnte, nicht allzu verzweifelt zu klingen, hatte versucht, ihr von den schönen Seiten des Lebens zu erzählen, hatte versucht, beruhigt zu klingen, so, wie sie ihn kannte. Und so, wie sie sich an ihn erinnern sollte.



    Aber in Wirklichkeit fühlte er all dieses nicht mehr. Er hatte nicht mehr gelächelt, seit sie sie aus seinen Armen gerissen hatten, hatte keine Freude mehr empfunden für die Natur, nicht einmal für das Klavier, das Oscar für ihn besorgt hatte und das ihm geholfen hatte, eine Symphonie lang all seine Sorgen zu vergessen. In ihm war etwas gestorben, herausgerissen worden, und es war kein unwesentlicher, ersetzbarer Teil; es war das, was ihn ausgemacht hatte. Sie hatten ihm nicht nur seine Heimat, seine Liebe und seine Identität genommen – es war sein Leben, das sie ausgelöscht hatten, auf die perfideste Art und Weise, mit den grausamsten Methoden.



    Weiterleben in ihrer Erinnerung, das war sein Wunsch. Weiterleben, als der Mann, der er gewesen war, als der Mann, den sie in ihm gesehen hatte.
    Geblieben war ihm die Existenz seiner Körperhülle. Geblieben waren ihm die Hoffnungen und Illusionen. Geblieben war ihm die Musik.
    Zwei Tage würde er noch bleiben können, vielleicht drei, bis es für Oscar zu gefährlich werden würde und Louis sich nach einer neuen Bleibe umgucken musste. Er wusste nicht, ob er ohne die Musik würde überleben können, die der einzige Lichtblick, das einzige Loch war, in das er sich fallen lassen konnte, ohne wahnsinnig zu werden.




    Der schwarze Flügel war schon alt, die Tasten vergilbt und abgegriffen, aber er half ihm, innerlich zu dem zu werden, der er einmal gewesen war. Klassische Musik. Er würde Vivaldi spielen. Cimiento dell armoria. Mozart. 40. Symphonie. Und Beethoven. Für Elise. Nur für sie.

    Kommibeantwortung



    Erstmal danke für eure Kommentare und die Klicks! Ich freue mich, dass ihr den Anfang dieser Story verfolgt habt! J

    Zum Titel:
    „Für Elise“ ist natürlich auf das gleichnamige Stück von Beethoven bezogen, welches übrigens auch einer meiner Lieblings Klassik-Stücke ist (und das Einzige, das ich halbwegs spielen kann :-D ) und die Grundidee für die Story kam mir, während ich das Stück gehört habe. Das Werk wird natürlich auch einen Bezug zu der Story kriegen und so hat der Titel zwei Bedeutungen, zum einen eben den Titel von Beethovens Werk, zum anderen ist er natürlich bezogen auf die Briefe, die der Mann für jemanden namens Elise verfasst. (Und noch mehr, was im Laufe der FS deutlich werden wird, worauf ich an dieser Stelle noch nicht eingehen möchte)

    Der Untertitel – und wie er gemeint ist – wird natürlich noch näher dargelegt werden.


    Zur Schrift:
    Ich muss sagen, dass ich mit einer negativen Reaktion vollkommen gerechnet habe, denn grade in diesem Forum auf blau ist sie echt nicht so gut zu lesen, wie ich es mir erhofft hatte. Ich persönlich habe in anderen Foren überhaupt keine Probleme, die Schrift zu lesen – sie heißt übrigens Brickley Script – denke es ist auch echt Gewöhnungssache. Wenn ihr etwas partout nicht lesen könnt, könnt ihr natürlich gerne nachfragen. Ich hoffe natürlich echt, dass nicht jemand wegen der Schrift sagt: „Nä zu antrengend, das lese ich nicht“…. Dann sagt bitte Bescheid, dann überleg ich mir was :D
    Aber ansonsten stört es mich persönlich nicht, wenn sie nicht so gut lesbar ist, wie Arial o.ä. – es soll ja auch eine HANDschrift darstellen, und wenn diese nicht immer auf den ersten Blick entzifferbar ist, wirkt das ja nur authentisch :D
    Ihr braucht aber echt keine Angst haben, es werden natürlich nur die Briefe in dieser Schrift verfasst werden, die Erzählung drum herum kopiere ich als ganz normalen Text – und sooo viele Briefe wird es auch nicht geben ;) Nur als Intro fand ich es schon mal ganz schön J


    Zu den Bildern:
    Vielen lieben Dank für das Lob, ich habe mich total gefreut, dass die Bilder gut ankamen, obwohl sie ja doch eintönig sind, es geschieht ja nichts, er schreibt die ganze Zeit. Ich bin echt beruhigt :D


    Zum Text:
    Es freut mich soooo, dass er euch so gut gefällt! Danke danke danke! Echt super, dass die Gefühle rüberkommen, denn das ist bei dem Brief natürlich sehr wichtig. Danke für die Rückmeldung!
    Und ja, der junge Mann denkt zum Teil sehr tiefgründig und philosophisch. Er denkt viel nach und ist, wie er selbst sagt, ein Träumer. Ich hoffe, dass seine Gedanken wenigstens zum größten Teil gut nachvollziehbar sind und dass seine Briefe, wenn sie schon bei Elise nie ankommen werden, wenigstens euch Leser erreichen können. Achja, und Philosphie studiere ich tatsächlich, allerdings nur im Nebenfach und auch erst seit diesem Semester, aber schön, dass es scheinbar zu mir passt :D


    How many roads must a man walk down,
    before you can call him a man?


    How many years can some people exist,
    before they're allowed to be free?
    Yes, and how many times can a man turn his head,
    and pretend that he just doesn't see?


    The answer my friend is blowing in the wind,
    the answer is blowing in the wind.


    How many times must a man look up,
    before he can see the sky?
    Yes, and how many deaths will it take till we know,
    that too many people have died?


    The answer my friend is blowing in the wind,
    the answer is blowing in the wind.


    (Bob Dylan – Blowing in the wind)














    Hallo liebe Leser!




    Nachdem 'Gefangen' jetzt beendet ist, habe ich genug Luft, eine neue FS zu starten und
    begrüße euch recht herzlich zu der Geschichte eines jungen Mannes, dem alles genommen wurde
    - seine Heimat, seine Familie, seine Freuden, seine Identität - sein Leben.


    Allein die Erinnerungen, die Liebe zur Musik und seine Träume hindern ihn daran, zugrunde zu gehen
    und so tut er das, was er vorher nicht für möglich gehalten hatte - er lebt weiter - der Träume wegen.




    Ich hoffe, dass "Für Elise" euch gefällt und freue mich wie immer über jegliche Art von Kommentaren.
    Für diese besteht natürlich absolut kein Zwang und auch stille Leser sind herzlich willkommen!

    Ich kramte mein Handy aus der Tasche, um Black anzurufen, und da sah ich auch schon, dass ich bereits eine Kurzmitteilung empfangen hatte.



    Ich war sehr überrascht, dass Black von sich aus ein Treffen vorschlug, noch dazu wollte er mich abholen, was ja eigentlich nicht sein Stil war. Aber es gefiel mir umso besser, und so schrieb ich zurück, dass er mich in einer Stunde abholen könnte. Eine Stunde würde ich brauchen, um mich entsprechend herzurichten, denn das war ich kaum noch gewohnt, kannte ich doch fast nur noch nur den WG-Schlabber-, den Park-und-alles-egal- und den Hurenlook, aber lange hatte ich kein normales Date mehr gehabt.
    War es überhaupt ein Date? Ich dachte an unser letztes Treffen im Park zurück. Ich hatte ihn einfach geküsst und obwohl ich es nicht bereute, hatte ich schon eine Art schlechtes Gewissen. Was erwartete er nun von mir? Was waren seine weiteren Absichten? Und wieso verdammt wusste ich immer noch nicht, was er eigentlich von mir wollte?



    Ich suchte Klamotten aus der linken Seite des Schrankes und schlurfte damit in Maras Zimmer, wo die junge Frau grade dabei war, ihre zahlreichen Zimmerpflanzen zu ordnen.
    „Mara…”, begann ich. „Ich brauche deine Hilfe.” Sie stellte eine Pflanze an die Seite und schaute mich fragend an. „Ich habe ein Date…”
    Mara zögerte eine Sekunde, dann grinste sie breit.
    „Ein Date? Geili. Juhu, endlich mal einer. Wieso erfahr ich davon erst jetzt?”
    Sie machte zwei Schritte auf mich zu, nahm mir mein Shirt aus der Hand und beäugte es kritisch.



    „Hm, ich war mir vorher nicht sicher", rechtfertigte ich mich.
    „Er ist ein bisschen… komisch.”
    „Ach ja? Hehe. Komm, ich mach deine Haare. Und dieses Top kannst du auf keinen Fall anziehen, das ist grausam. Hast du schöne Unterwäsche?”
    „Unterwäsche?” Daran hatte ich gar nicht gedacht. „Ich will doch nicht mit ihm ins Bett.”
    „Natürlich nicht.” Mara grinste und ließ ihren Blick kritisch über meinen Körper und meine Haare wandern.
    „Geh in dein Zimmer und hol Unterwäsche. Schwarze.”



    „Die ist vollkommen kaputt”, murmelte ich, als ich mich auf einem Stuhl niederließ. „Wieso haben wir das bloß nicht früher gemerkt?”
    Mara zog eine große Tüte Chips, die auf dem Tisch lag, zu sich heran.
    „Weil sie das gut verstecken kann”, entgegnete sie, während sie das Silberpapier aufriss. „Kannst mal sehen, wie wenig wir uns hier alle kennen.”
    Mara nahm eine Hand voll Chips und steckte sie sich in den Mund.



    „Ich bin übrigens nicht schwanger”, merkte sie an. „Weniger als gar nicht, so überhaupt nicht. Ich hab einfach nur Hunger.”
    „Da bin ich ja beruhigt. Du warst also beim Arzt?” Irgendwie fiel mir ein Stein vom Herzen.
    „Jepp. Es gibt kein Kind. Zum Glück.” In diesem Moment klingelte es an der Tür.
    „Wenn das dieser Assi ist, hau ich ihm was auf die Fresse”, meinte Mara und ihre Stimme klang jetzt wieder aufgebrachter.
    „Und ramponierst dir deine schöne Hand? Lass mal, ich geh hin.”



    Ich stand auf, öffnete die Tür und vor mir stand tatsächlich Veras neuer Ehemann.
    „Hey Babe”, hauchte er, während er mich mit seinen hässlichen kleinen Augen von oben bis unten aufmerksam musterte.
    „Hallo”, gab ich kalt zurück und schrie nach Vera, die auch schon angestöckelt kam.
    „Schaaatz”, flötete sie. „Komm doch rei-hein.”
    „Bleib bloß draußen”, schrie Mara aus der Küche. Mittlerweile war auch Kira wieder dazugekommen, die scheinbar neugierig gewesen war, wer an der Tür geklingelt hatte.
    „Das kleine Mädchen ist immer noch störrisch?!”, fragte Jay, als er die Küche betrat und Vera an sich heran zog.



    „Immerhin bin ich größer als du”, tönte es zurück und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
    Jays Blick fiel auf Mara, die mittlerweile aufgestanden war.
    „Guck mich nicht so ******* an”, motzte diese sofort.
    „Hey Girl… was sind wir denn so launisch? Brauchst wohl mal wieder nen richtigen Mann zwischen den Beinen, was? Nicht ausgelastet? Ich könnte mich da zur Verfügung…”



    „Rede nicht so mir meiner Schwester”, keifte Kira und Veras Mann zuckte unwillkürlich zusammen. „Du bist echt das Hinterletzte, und auch wenn ich sie nicht mehr leiden kann, deine Frau tut mir echt Leid. Wie kann man nur so ******* sein?”
    Kira griff nach Maras Arm und zog sie in Richtung Tür.
    „Mit dem brauchen wir uns nicht in einem Raum aufhalten, garantiert nicht.”
    Mara schien von Kiras plötzlichem Interesse an ihrem Wohl genauso überrascht zu sein wie ich, und ließ sich von ihrer Schwester mitschleifen, ohne ein Wort zu erwidern.



    Ohne zu fragen, nahm sich Jay Maras Chipstüte, die sie auf dem Tisch liegengelassen hatte und nahm sich eine große Hand voll heraus. Dann wandte er sich Vera zu und fasste ihr um die Hüften, während ich immer noch in der Tür stand und mir völlig fehl am Platze vorkam.
    „Lass uns ins Bett gehen Schnecke, ich brauchs mal wieder", machte er sie an und es war lächerlich, dass er dabei zu ihr aufblicken musst.



    Angewidert schnappte ich mir meine Handtasche und verschwand in mein Zimmer. Kira hatte Recht, der würde hier nicht einziehen.



    Ich wusste weder, wie lange es dauerte, bis der Mann heute zufrieden gewesen war, noch wusste ich genau, was ich dafür alles hatte tun müssen, doch irgendwann ließ er von mir ab und fiel erschöpft auf das Bett zurück. Meine Zeit, in die Realität zurückzukehren und mich vom Acker zu machen war gekommen, und so stand ich auf, wie eine Marionette von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, zog mir mechanisch meine Sachen an und steckte das Geld in meine Handtasche. Wie immer schweifte ein letzter Blick über den Kunden, der noch immer nackt auf dem Bett lag und mittlerweile eingeschlafen war, dann schlüpfte ich in meine schwarzen Pumps und verließ das Zimmer Richtung Fahrstuhl, wo ich wie immer das Geld noch einmal nachzählte.



    Erst als mir der kalte Wind draußen vor dem Stundenhotel ins Gesicht peitschte, wachte ich endgültig auf aus meiner Trance und fühlte mich wieder wie ein klar denkender Mensch, der versuchte zu vergessen, was in den letzten Stunden geschehen war.
    Ich erinnerte mich daran, wie ich einmal einen Bericht über Leute gelesen hatte, die ihren Ehepartner oder ihr Kind verloren hatten. Diese Leute erzählten, dass sie unmittelbar nach dem Tod diesen gar nicht richtig wahrnahmen, die Beerdigung und den ganzen Papierkram erledigten, aber immer frei von jeglichen Gefühlen, einfach automatisch. Der große Zusammenbruch und die Trauer kamen erst später, lange nachdem alles erledigt war, und als alle anderen Menschen schon anfingen, den Toten zu vergessen. Psychologen hatten in diesem Bericht gesagt, dass Menschen in Extremsituationen oft so reagieren und dass es eine Art Schutzmassnahme sei. Irgendwie mochte ich diese Theorie, denn mit ihr konnte ich mir auch meine Gefühllosigkeit erklären. Ich handelte also ganz normal. Nur hatte ich den großen Zusammenbruch noch nicht hinter mir. Aber in jenen Tagen dachte ich weder daran, dass er jemals kommen würde, noch bemerkte ich, dass ich mich schon mitten darin befand.


    -



    Ich fuhr zurück in die WG und schon als ich die Tür öffnete, tönten mir wieder einmal laute Schreie und Gezicke entgegen. Langsam war ich es echt Leid, irgendwann war doch mal genug, schließlich waren wir ja erwachsene Menschen.
    Es waren Mara und Kira, natürlich, wie sollte es auch anders sein. Doch nachdem ich meine Handtasche an die Garderobe gehängt hatte, bemerkte ich, dass die beiden Schwestern sich gar nicht gegenseitig anschrieen, sondern lautstark mit Vera diskutierten, die auf der Couch rum lag und demonstrativ lässig dreinblickte, was grade Kira noch mehr zu provozieren schien.



    „Er zieht hier nicht ein!”, schrie sie mit hochrotem Kopf. „Kommt gar nicht in Frage!”
    Vorsichtig schlich ich mich in das Wohnzimmer und mischte mich in das ‚Gespräch’ ein. „Worum geht’s?”
    „Ihr Drogenmann soll jetzt bei uns wohnen”, fauchte Mara. „Kannst du dir das vorstellen? Wer hat denn immer rumgetönt ‚Keine Männer im Haus’? Ich fass es nicht…”



    „Sollte der hier einziehen, zieh ich sofort aus, und ich denke ich werde nicht die Einzige sein”, fuhr Kira dazwischen. Oft tat sie sehr gleichgültig und desinteressiert, auch wenn man ihr immer anmerkte, dass sie das eigentlich nie war, aber Jay hatte sie von Anfang an überhaupt nicht leiden gekonnt und stellte sich mit ihrer ganzen Kraft gegen ihn. Noch nie hatte es einer von uns gewagt, Vera so anzuschreien.



    „Blablabla, cool mal down Mädchen”, entgegnete Vera betont ruhig. „Denn wird doch auch für euch die ganze Miete billiger, was zickst’n so? Jay hat ziemlich viel Geld…”
    „Ja, und wenn ich daran denke, wie er es verdient hat, könnte ich kotzen. Ich hasse diesen Typen. Verstehst du? Ich hasse ihn.”
    Mit diesen Worten verließ Kira das Zimmer und man hörte nur noch ein dumpfes Poltern in der Küche.
    „Sie hat ja sonst nie Recht”, begann Mara, „aber dieses Mal hat sie meine volle Unterstützung. Vera, du weißt echt nicht, was du uns damit antust, was du dir antust.”



    „Man laber mich nicht voll”, keifte die rothaarige Frau. „Ihr habt doch keine Ahnung vom Leben, du ganz besonders nicht, du kleines Naivchen.”
    „Geht’s noch?!”, musste ich mich jetzt einfach dazwischen mischen. „Überleg mal, wie du uns hier behandelst.”
    „Ach, die kann doch gar nicht mehr klar denken, so voll gepumpt ist die mit diesen scheiß Drogen”, meinte Mara, die jetzt Tränen in den Augen hatte.
    „Ich nehme keine Drogen”, rief Vera ihr noch zu, doch Mara war auch schon in die Küche verschwunden, wohin ich ihr folgte.

    Kapitel 10 - Teil 2




    Mir stand ein stressiger Tag mit vielen Kunden bevor, und so musste ich mich wieder zusammenreißen und meinem eigenen Leben nachgehen. Ich hatte einfach keine Zeit, um Vera zu trauern, und so böse es ist, auch keine Lust. Irgendwie war ich sauer auf sie, sehr sauer. Was fiel ihr eigentlich ein, sich so wegzuschmeißen? Irgendwie waren ihre Träume auch meine gewesen. Der Glaube an eine bessere Welt mit glänzender Zukunft. Dieser war nun gestorben.



    Ich schlug mir Vera aus dem Kopf und beeilte mich, dass ich vor meinem ersten Kunden um elf noch ins Fitnessstudio gehen konnte.
    Ich lief schneller als sonst auf dem Laufband, einerseits wohl, weil ich wütend war, andererseits schien ich zu denken, dass ich so schneller ‘ankommen’ würde, wo auch immer ich hinwollte. Dabei bewegte ich mich doch nur auf der Stelle, die ganze Zeit, und kam nicht einen Millimeter vom Fleck.



    Irgendwie war es sinnlos. Laufen auf der Stelle war einfach nicht der Sinn des Laufens, Sex ohne Liebe war einfach nicht der Grundgedanke vom Sex, und sein Leben mit Drogen zu ersticken war auch nicht das, wofür es vorgesehen war. Was lebten wir hier eigentlich? Manchmal musste ich echt den Kopf schütteln.



    Nach dem sinnlosen Rennen auf dem Band blieb mir wenig Zeit bis zum ersten Kunden und so duschte ich schnell kalt und zwang mich in irgendwelche Klamotten aus der rechten Hälfte meines Schrankes. Die rechte Hälfte war schon seit meinem Einzug für meine Arbeitskleidung gewesen, links befanden sich meine Lieblingsshirts und Sachen, die ich in meiner Freizeit trug. Mir half es, so zwischen Arbeit und Freizeit zu differenzieren, vielleicht war es das Letzte, was dafür sorgte dass mein Job und mein Privatleben sich noch voneinander unterschieden.


    -



    Heute gelang es mir, meine Gefühle zurückzuhalten, und so vergraulte ich nicht noch mehr Kunden. Irgendwie war ich beruhigt, dass es bei diesem einen Ausrutscher geblieben war, auch wenn ich mich immer noch dafür verfluchte, dass es geschehen war.
    Nach dem ersten Kunden, der heute ungewöhnlich anspruchsvoll und somit anstrengend gewesen war, erwartete ich auch schon meinen nächsten. Es war ein 30 jähriger eher gutaussehender Mann, der für seine speziellen Wünsche und Anforderungen bekannt war. Er war wahrlich kein Durschnittskunde und sehr schwer zufrieden zu stellen, deswegen mochte ich ihn überhaupt nicht, aber es musste eben sein.



    Ich bekam nur beiläufig mit, wie ein starkes Hagelschauer vorüber zog und die dicken Körner gegen die Fenster des Beverly knallten und langsam daran herunter glitten. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass nur mein Köper arbeitete und meine Seele sich weit weg an irgendeinem schönen Stückchen Erde befand, wo die Sonne schien und das Gras grün war. Ich weiß nicht, ob es an der Assoziation von Grün und Hoffnung lag, aber in meinen Gedanken tauchte immer wieder diese Farbe auf, und ich liebte sie. Die graue Welt um mich herum nahm ich nur noch schemenhaft, irgendwie beiläufig war.



    Ich roch nicht mehr das billige Aftershave des nackten Mannes neben mir, nahm seinen widerlichen Atem auf meiner Haut kaum noch war, noch interessierten mich seine rauen, ungepflegten Hände, die gierig an mir herumfummelten und schienen, meine Haut zu zerkratzen. In diesen Momenten erschien es mir unwichtig, dass ich wie ein wertloses Tier oder wie eine billige Ware behandelt wurde und auch die starken Schmerzen, die mich von Zeit zu Zeit durchfuhren, konnte ich ignorieren. Natürlich war es da, aber irgendwie auch soweit weg, mich nicht betreffend. Ich hatte keinen Spaß am Sex.



    Kira und Vera hatten uns immer wieder erzählt, dass der Job auch Spaß machen konnte, wenn der Mann einigermaßen akzeptabel war. Ich war mir sicher, dass sie logen. Noch nie hatte es mir Spaß gemacht, noch nie war ein schönes Gefühl über mich gekommen. Aber man konnte es aushalten. Und je länger ich diesen Job ausübte, desto besser wurde ich darin. Zum Glück, denn ansonsten hätte ich ihn schon lange an den Nagel hängen können. Man durfte einfach nicht darüber nachdenken, was man machte. Dann ging es. Meistens.

    Tja, das Leben ist kein Wunschkonzert :) Sie haben sich das so auch ganz sicher nicht vorgestellt.
    Schade, dass euch das Ende nicht gefällt, aber ich hab da ehrlich gesagt mit gerechnet ;)


    Ian hörte schon gar nicht mehr zu. Er zitterte nicht mehr. Allein sein Brustkorb hob und senkte sich beim Atmen. Er würde nicht länger darüber grübeln, was für ein Mensch er war, ob er gut war, oder schlecht, was für Vorlieben und Abneigungen er hatte, ob er Fußball spielen konnte oder Künstler war.
    Eine Maschine. Nur ein verdammter Versuch künstlicher Intelligenz, die zu menschlich geworden war. Er existierte gar nicht. Hatte es nie. Und alles was ihm an ihm je menschlich vorgekommen war, war das geniale Werk eines Wahnsinnigen gewesen, dem es gelungen war, im Labor Gefühle zu erschaffen. Gefangen in einem Körper, gefangen in einem Geist, der keiner war.


    18




    „Es ist einfacher, als ihr denkt. Ihr könnt euch an nichts erinnern, weil es nichts zum Erinnern gibt. Ihr seid hier geboren, Ian.“
    „Was laberst du für eine *******?!“
    Kor blieb ruhig und wartete einen Moment, bis Ian seine Muskeln wieder entspannt hatte.
    „Ihr seid die pausenlose Arbeit, langjähriger Mitarbeiter. – Bemerkt ihr die Wortschöpfung „Pau-la“? Die Frage, wo ihr hier seid, ist am Einfachsten zu beantworten. Wir sind in einem Gebäude der EEEKI. Die EEEKI ist eine wissenschaftliche Einrichtung zur Entdeckung, Erforschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz. Es tut mir Leid, diese Wahrheit ist die Schlimmste, die es für euch geben kann, denn sie übertrifft den Tod und seelische und körperliche Folter um Welten. Ihr seid Robotor, Ian. Ihr habt nie existiert.“



    „Für uns seid ihr die milliardenschwere Frucht jahrzehnte-, fast jahrhundertelanger Arbeit. Ihr seid das exklusive Meisterstück der EEEKI, der Erschaffung perfekter künstlicher Intelligenz - die Erschaffung eines neuen Menschens. Ihr seid Maschinen, Robotor, Computer und alles was ihr erlebt, was ihr denkt, alles was ihr träumt und was ihr fühlt ist so irreal, wie eine optische Täuschung, nur viel ausgereifter. Euch zu verfeinern, wird nur noch Monate dauern.“
    Kor atmete tief durch und Paula starrte auf ihre Oberschenkel. Nein. Sie fühlte sich, als würde sie in einer Rüstung aus Eisen stecken, die sich immer enger um sie saugt und ihr die Luft zum Atmen nimmt.
    „Nur der letzte Schliff fehlt noch. Ist euch nicht aufgefallen, dass Paula etwas arg gefühllos ist? Ein Mensch wäre das nie. Eure Technologie ist noch nicht perfekt. Was ist mit Essen, Trinken, muss ein Mensch das nicht? Ihr habt seid vier Tagen nichts mehr zu euch genommen und noch nicht einmal das Verlangen danach. Ihr könnt Nahrung verwerten ja. Nur der stetige Instinkt, das auch zu wollen, fehlt euch noch. Ihr habt keine Überlebensreflexe, weil ihr das ja nicht tut – leben. Ihr braucht all diesen menschlichen Unfug nicht. Stoffwechsel – für euch nichts weiter, als ein Anpassungsversuch an die Menschheit, aber nichts von existentiellen Belang.“



    Als sich das Puzzle vor ihr zusammenfügte, krampfte ihr Herz sich zusammen und ihr sehnlichster Wunsch, das alles zu verstehen, endlich zu wissen, was hier vor sich ging wich den kalten Metallzangen der Erkenntnis, die sich in ihr Herz bohrten, sofern sie denn eins hatte.
    Plötzlich erschien alles so klar zusammenzupassen. Deswegen hatten sie keine Erinnerungen. Diese kalte Forschungsatmosphäre und das Gefühl, wie Versuchsratten eingesperrt zu sein. Paula spürte, wie ihr schwindelig wurde.
    Sie waren im Labor entstanden. Quasi aus dem Nichts erschaffen und das Wissen, das sie hatten, wurde über komplizierte Methoden in ihr Gehirn eingepflanzt. Sie hob den Kopf und der Raum schien sich auf einmal zu drehen. Ian hatte Erinnerungen, die er nicht haben durfte. Gar nicht haben konnte, da es nichts zum Erinnern gab.
    Paula bekam keine Luft mehr.
    Wurden sie deshalb so oft ohnmächtig? Weil sie einfach ausgeschaltet wurden?



    Es gab Wunschtage und ähnliches, um ihren Charakter zu erforschen und… und das Essen. Paula wurde plötzlich übel und es schien ein ungeheurer Druck der kalten Angst auf ihrem Magen zu lasten. Es hätte ihr viel früher auffallen müssen. Wie konnte sie so blind gewesen sein? Sie waren seit vier Tagen hier und nur ein Mal hatte es Nahrung gegeben. Aus Freundlichkeit, wie sie vermutet hatten, aber wahrscheinlich einfach nur aus Testzwecken.
    Laborversuche, von denen Ian erzählt hatte. Ihre temporäre Unfähigkeit, Gefühle zu empfinden. Kor, der ihre Entwicklung mit Sorge betrachtete, weil er sie trotz ihrer menschlichen Züge wie Maschinen behandeln musste. Es passte alles zusammen, wie ein Puzzle, dessen Teile die ganze Zeit vollständig ausgebreitet nebeneinander gelegen hatten.



    Wie hatten sie sie so menschlich wirken lassen können? Wie war es ihnen gelungen, all die kleinen Merkmale, die Haut und die… Paula stockte. Konnte es sein, dass nur sie selbst sich so menschengleich wahrnahmen? Dass es den Wissenschaftlern gelungen war, dass sie sich selbst als Menschen sahen und erlebten? Sahen sie vielleicht für einen außenstehenden Beobachter einfach nur aus wie Roboter? Paula kratzte sich mit ihrem Fingernagel eine tiefe Furche in die Haut ihrer Hand, bis es schmerzte. War das alles gar nicht echt? Bildete sie sich das alles nur ein und war selbst ihre Einbildung irreal, da sie so etwas als unmenschliches Wesen gar nicht empfinden konnte? Alles am Computer entstanden? Ihr ganzes Gesicht, ihre helle Haut mit den Sommerprossen, ihre Haare. Haare. Bei Ian musste etwas schiefgelaufen sein, dass sie bei ihm keine Haare wahrnahmen. Sie programmierten weiter herum, sodass sie jetzt langsam erschienen.



    „Aber was war mit der Mascara am ersten Tag? Was ist mit Ians Wunde und den…“
    „Alles Versuche, euch menschlicher erscheinen zu lassen. Es musste so perfekt wie möglich sein, um euch die Rolle zu erleichtern. Hier ist nichts dem Zufall überlassen, Paula, nichts. Und was Ians sogenannte Wunde angeht… ist euch gar nicht aufgefallen, dass sie überhaupt nicht heilt?“
    „Wer bist du Kor, wer bist du, dass du zu so etwas fähig bist?“ Ians Augen wirkten tot und starrten in die Leere.
    „Ich bin mitarbeitender Wissenschaftler hier und die Experimentierungen mit euch sind mein Job. Ich bin dafür verantwortlich, euch Tag und Nacht zu beobachten, alles zu dokumentieren, jedes noch so unwichtig erscheinendes Detail. Natürlich tue ich das nicht alleine, sondern habe mehrere Helfer, aber ich allein bin derjenige, der sich euch zeigen darf und der für die Kommunikation zuständig ist. Ich bin KOR, und KOR steht für Kontrollierender Observierer der Roboter. Steve hier ist einer der Psychologen, die für die Befragungen zuständig sind, bei dir unter anderem, um herauszufinden, an wie viel aus Lukes Leben du dich erinnerst – achja, und woher natürlich deine Kopfschmerzen kommen. Gegen die wir dir übrigens keine Tabletten geben können, weil du auf Aspirin natürlich nicht ansprechen würdest. Es tut mir Leid, Ian. Es tut mir fast wirklich Leid.“



    Ian hatte den Blick gesenkt und wirkte nun mehr denn je, wie ein lebloser Körper.
    „Wie viele noch?“, fragte er. „Wie viele habt ihr erschaffen?“
    „Von denen auf eurem Level, ihr seid auf Level N, dem derzeit höchsten – acht. Es gibt viele Weitere mehr, Zwischenversuche, Ausschuss, Veraltete. Ihr aber seid die Führenden Acht, die 8N. Nur noch wenige Monate, und wir können an die Öffentl…“
    „Wofür steht „Ian“?“
    „Was?“
    „Wenn hier nichts Zufall ist und jeder eurer beschissenen Namen eine Abkürzung ist, wofür steht dann „Ian“?“
    Kor atmete tief durch. Es schien ihm schwerzufallen, Ian zu eröffnen, dass sein Name, der ihm doch so viel menschliches gab, eine Schlichte Zahlen-Buchstaben-Kombination war.
    „Eins N.“
    „Was?“
    „Du bist der am weitesten Entwickelte der 8N. I – für die römische Ziffer Eins und an für das N. I-an.“



    „Das ist verrückt.“
    „Es grenzt an Genialität. Wisst ihr, was für Möglichkeiten unsere Forschung der Menschheit eröffnet? Eure Gefühle sind so leicht zu regulieren und ihr könnt nicht einmal sterben, ihr seid nicht verwundbar. Denkt nur mal daran, was ihr für das Militär bedeuten würdet. Er seid perfekt, man kann euch alles einpflanzen, alles Wissen, das ist wie bei Matrix. Ihr könntet die perfekten Ärzte sein, unglaubliche Genies – oder einfach nur Helfer auf der Straße. Die Möglichkeiten sind endlos... und wisst ihr, was es für all die Religionen und Philosophien dieser Welt bedeuten würde, wenn es uns tatsächliche gelinge, euch nicht unterscheidbar von einem natürlichen Menschen zu machen? Es wäre der Beweis, dass es keine Seele gäbe – dass der Mensch alleine durch Programmierung fühlen und empfinden kann. Es wäre…


    „Es gibt etwas, das noch schlimmer und unerträglicher ist, als die Ungewissheit. Ihr werdet euch wünschen, diese Frage nie gestellt zu haben und wahrscheinlich werden wir von unseren Methoden Gebrauch machen, die Informationen, die wir euch heute geben, wieder aus eurem Gedächtnis zu löschen. „Es gibt etwas, was noch schlimmer ist, als die Fragen, und das ist die Wahrheit.“
    Kor starrte Ian nun eindringlich an. Dieser bebte am ganzen Körper.
    „Wenn ihr mir nicht gleich erzählt, was… Warum zum Teufel können wir uns an nichts erinnern?!“
    Kor faltete die Hände, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und dann fing er an, die Geschichte zu erzählen, deren Ende furchtbarer war, als alles bisher Vorgestellte.


    Als Paula wieder aufwachte, brauchte sie einen Moment, sich ihrer Umgebung bewusst zu werden. Sie saß zusammengesackt und gefesselt auf einem harten Stuhl in einer Art Büroraum. Was war passiert? Ian, Kor… all das Geschreie und Gezeter. Und Ians Träume. Wer zur Hölle war Dr. Lukas Kahrio? Paula sah sich um. Sie hatten sie rausgebracht. Zum ersten Mal, seit der Zeit, der sie sich bewusst war, befand sie sich nicht mehr in dem schrecklich weißen Gefängnis. Sie verspürte eine übermannende Müdigkeit, zwang sich aber, die Augen offen zu behalten. Sie saß an einem Eichentisch – verdammt – woher wusste sie, dass das Eiche war? - und neben ihr saß Ian, der noch benommener zu sein schien, als sie selbst. Sie konnte nicht erkennen, ob er überhaupt bei Bewusstsein war.



    Paulas Glieder schmerzten und sie sehnte sich nach einem weichen Bett. Ob sie jemals wieder in einem schlafen würde? Sie schluckte. Was war mit ihr los? Ihr Handeln und ihre Gedanken waren ihr suspekt und auch wenn sie nicht wusste, wer sie war, machten ihre Reaktionen ihr Angst. Wieso war sie so gleichgültig? Wieso scherte sie sich einen Mist um das, was um sie herum geschah, was mit Ian los war, was hier drin passierte? Wieso zum Teufel schien sie all das gar nicht mehr zu berühren? Ein Schutzreflex?
    „Was macht ihr bloß mit mir?“ Paula wimmerte und jetzt spürte sie, dass ihr heiße Tränen die Wangen runter liefen. Sie fühlte sich wie ein Häufchen Elend. Wozu hatten sie sie hier hergebracht, in diesen dunklen Raum, der außer den Stühlen und dem Tisch kein weiteres Mobiliar enthielt? Für wen waren die anderen beiden Stühle gedacht, die auf der anderen Seite des Tisches standen? Würde Kor gleich auftauchen? Würde er sie aufklären? Würde sie endlich erfahren, was zum Teufel hier vor sich ging, wo sie war, was der Grund dieses Wahnsinns war und wann endlich man sie freilassen wollte?
    Wie lange sollte das noch so weitergehen? Könnte es sein, dass…



    In diesem Moment schwang die Tür auf und Kor, dessen Gesicht noch härter und irgendwie sorgenvoller wirkte als sonst und ein weiterer Mann betraten den Raum. Paula versuchte, in Kors Augen zu blicken, aber er schaute nur zu Boden, als würde er ihrem Blick absichtlich ausweichen.
    Das junge Mädchen rüttelte an ihren Fesseln.
    „Sucht man nach mir, Kor? Ist da draußen irgendwer, der sich Sorgen darum macht, wo ich bin?“ Sie wusste, dass sie keine Antwort zu erwarten hatte. „Wieso habt ihr uns entführt? Wozu das alles?! Etwas, über das ich noch nicht nachgedacht habe?“ Stille. Vielleicht war es das. Nur ein Rätsel nach dem Ausweg wie es sie öfter in Online-Flash-Games gab. Hinweise hier, Hinweise da und irgendwo versteckt in einer alten Vase in einer Bodenluke der Schlüssel zur Tür. Das Bescheuerte war nur, dass es keine Bodenluken gab. Es gab auch keine Vasen oder alte Gemälde, es gab nicht einmal eine verdammte Tür. Es gab überhaupt nichts, nicht den kleinsten Anhaltspunkt.



    Paula schloss die Augen und atmete tief durch. Sie hasste sich dafür, dass sie über Computerspiele Bescheid wusste, sich aber nicht einmal an ihren Namen erinnern konnte. Verlief eine Amnesie immer auf diese Art und Weise oder war es vielleicht etwas völlig anderes, das sie hier heimsuchte? Hatte sie überhaupt jemals eine Identität gehabt? Paulas Herz krampfte sich unwillkürlich zusammen. Sie war definitiv Teil eines kranken Experiments, so viel hatte sie mittlerweile verstanden. Aber wieso sie? Wozu? Was war in ihrer Vergangenheit passiert, dass man sie…
    „Paula, Ian, das ist Steve.“ Kor deutete auf den blonden Mann, der ihm gefolgt war und die beiden setzen sich auf die andere Seite des Tisches. Ian, ihr kennt euch ja schon.“
    Ian murmelte etwas, was Paula beim besten Willen nicht verstehen konnte. Es schien ihm unglaublich schwer zu fallen, bei Bewusstsein zu bleiben. Woher sollte ihr Mitgefangener Steve bereits kennen? War er schon einmal hier… Steve! Nannte Ian so nicht den Mann, der ihn in seinen Träumen verfolgte? Paula hustete und hatte das Gefühl, schwerer Luft zu bekommen. Was ging hier vor sich?



    „Ich habe euch versprochen, dass heute Redetag ist“, ergriff Kor wieder das Wort, nachdem er kurz gewartet hatte, um sicherzugehen, dass Ian aufnahmefähig genug war. „Ich weiß, dass ihr Fragen habt, die euch innerlich zerreißen und auf die ihr keine Antwort finden könnt, je sehr ihr euch auch den Kopf zermatert. Ja, wer seid ihr?“
    Kor schien jetzt durch Paula hindurchzublicken. „Ihr denkt, es kann nichts unerträglicher sein, als die Ungewissheit, die euch Tag und Nacht quält, das Nichtwissen, das euch zermürbt. Ihr wollt Antworten, irgendwelche, und es ist euch egal, wie sie lauten, wenn sie euch doch nur zu irgendeiner Erkenntnis bringen; wenn ihr durch sie endlich verstehen könnt, was ihr hier durchmacht. Ganz egal was es ist, denn ihr denkt, keine Wahrheit kann schlimmer sein, als die ewigen Fragen, die hämmernden Gedanken, die eurer gesamten Denken und Handeln bestimmen.“



    Paula nahm as dem Augenwinkel war, wie Ian den Kopf hob und Kor anstarrte.
    „Lasst uns gehen“, zischte er kraftlos. Sein ganzer Körper zitterte, als würde er furchtbar frieren, aber Paula wusste, dass das nicht der Grund dafür war. Ian saß dem Mann aus seinen Träumen gegenüber – einem Toten. Es war bemerkenswert, wie er sich zusammenreißen konnte, nicht völlig auszurasten. „Wir haben euch nichts getan!“
    „Es geht hier nicht um Schuld oder Rache, Ian, das ging es nie.“
    „Wer bist du?“, schrie Ian jetzt den Mann an, den Kor als Steve vorgestellt hatte. Dieser schien ungerührt. „Ich bin Steve, Ian, und ja, ich bin der Steve, den du in deinen Träumen gesehen hast.“
    „Mein Nachbar…“
    „Das Problem ist, Ian, dass ich nicht dein Nachbar bin. Ich war es auch nie und außer beim letzten Verhör sind wir uns noch nie zuvor begegnet.“
    „Was zum…“ Ians Körper bebte und die Adern an seinem Hals traten hervor.



    „Es war ein Experiment, Ian, und eines von denen, die schiefgelaufen sind. Man hatte versucht, dir Erinnerungen einzupflanzen, eine Identität zu geben und hat diese Erlebnisse von Dr. Lukas Kahrio – übrigens einer unserer Mitarbeiter, ein sehr fähiger Mann – auf dein Gehirn zu speichern. Wie eine Festplatte, die man beschreibt.“
    Kor biss sich auf die Innenseite der Wange und starrte auf den Tisch, während Steve mit seinen Erzählungen fortfuhr.
    „Es hat nicht geklappt und du hast nichts davon angenommen. Wolltest nicht Luke sein. Es klappte für kurze Sequenzen, einige Minuten, aber du fielst immer wieder in das Ich von Ian zurück. Das ist jetzt schon zwei Monate her. Aus irgendwelchen absonderlichen Gründen – wir sind dabei, sie zu untersuchen, daher auch einige Experimente, während einem bist du übrigens aufgewacht, denn du reagierst oft nicht, wie geplant und weist viele Anomalien auf – kehren jetzt diese Erinnerungen, die keine sind, als Träume in deinen Kopf zurück.“



    „Was soll dieser Scheiß? Warum sind wir hier?!“ Ian wandte sich vor Wut und Hass und versuchte, sich in seinem Stuhl nach oben zu drücken, woran die Eisenketten ihn aber hinderten.
    „Du machst uns Sorgen, Ian. Du reagierst ganz anders, als du solltest“, ergriff Kor jetzt wieder das Wort.
    „Wer zur Hölle bin ich?!“
    Kor atmete tief durch, dann sah er erst Ian, dann Paula in die Augen.

    So, kommen nun die letzten beiden Kapitel^^



    17



    Kor erwartete, dass Ian etwas sagen würde, irgendetwas entgegnen würde und sei es nur ein weiterer Fluch, aber er schwieg und starrte auf die Fliesen als würde er sie durch bloße Gedankenkraft zum Zerspringen bringen wollen.
    „Was macht ihr für eine ******* mit uns?“
    Paula, die noch eben so schweigsam und fügsam gewesen war, ballte die Hände zu Fäusten. „Wieso sind wir hier eingesperrt? Wo sind wir überhaupt?“
    „Es ist alles nicht so einfach, Paula. Ich würde vorschlagen, wir machen das in Ruhe. Du setzt dich erst einmal hin und…“



    Paula ließ sich hart auf die Knie fallen. Sie wirke wie ein beleidigter Teenager, der seinen Willen nicht bekommen hatte und nun schmollte. Kors Blick streifte Ian, der fürchterliche Schmerzen zu haben schien. Er jammerte nicht mehr, aber Kor hatte Angst, dass das nicht unbedingt ein gutes Zeichen war. Wie lange würde er noch bereit sein, zu kämpfen? Wann würde er sich aufgeben?
    „Ich halluziniere, oder?“



    Es war entsetzlich, wie schwach seine Stimme war. „Ich bilde mir Sachen ein, die nicht da sind. Ich habe Steve gesehen, hier im Raum, hinter dieser Scheibe…“
    „Ich weiß, dass ihr derzeit einiges nicht versteht. Es geht dir grade nicht so gut und…“
    „Es geht ihm nicht so gut?! Mensch Kor, Ian braucht einen Arzt, der stirbt uns hier noch weg!“ Paula war wieder aufgebrachter und Kor war innerlich froh darüber. Ihre teilnahmslose Apathie war nicht auszuhalten gewesen. Er musste dringend mit Francis sprechen.



    „Es wird kein Arzt kommen und ich glaube, das wisst ihr auch. Ian, wärst du bereit, mit uns zu reden?“
    „Was soll ich euch denn erzählen, ich habe doch schon alles…“
    „Du siehst doch selbst, dass es mir dir so nicht weitergehen kann. Du machst mir Sorgen und ich will probieren, es im Guten zu versuchen.“
    „Im Guten?!“ Ian hob seinen Kopf und seine kalten Augen schienen durch Kor hindurchzustarren. Er biss seine Zähne zusammen, dann richtete er sich auf und kam den einen Schritt auf die Scheibe zu.
    „Im Guten?! Willst du mich eigentlich verarschen? Ich glaub du hast nicht den blassesten Schimmer, was du für einen Scheiß redest!“ Ians Stimme überschlug sich, als er gegen die Scheibe trat.



    „Ich hasse es, dich anzubetteln, aber gib mir was gegen diesen Wahnsinn in meinem Kopf! Ich halte das nicht aus, Kor. Du kannst dir das nicht vorstellen! Weißt du, wie es sich anfühlt wenn…“
    Ian stockte und Kor war froh darüber, denn das brüchige Zittern in Ians Schreien ging an seine Substanz. Er war für einen solchen Job einfach nicht gemacht.
    „Diese blutigen Hände, Kor! Es ist, als überlagern sie jedes Bild, das mein krankes Hirn sonst noch irgendwie erreicht. Ich kriege sie nicht aus meinem Kopf! Dieses Blut von Steve… Luke… was verdammt wollte Steve und wieso hab ich… wieso habt ihr mich hier eingesperrt?“



    „Ich kann dir keine Schmerzmittel geben, aber wir werden euch gleich rausholen und in ein Besprechungszimmer gehen und dann…“
    „Lasst uns doch einfach frei, verdammt. Es hat doch keinen Sinn…“
    „Ian, beruhig dich und mach’ es nicht noch schlimmer. Setz dich hin und atme tief durch. Es wird nicht sehr lange dauern, höchstens ein, zwei Minuten.“
    „Was zur Hölle ist das für ein bescheuertes Spiel hier?“ Ian dachte nicht im Traum daran, sich zu beruhigen. Sein Puls raste und auch wenn Kor wahrscheinlich Recht hatte und er gut daran täte, sich zu schonen, war es ihm schleierhaft, wie er ernsthaft erwarten konnte, dass Ian sich setzen und gemütlich auf sein Ende warten würde.
    Die Einwegscheibe verdunkelte sich und Ians Blick fiel auf Paula, die noch immer auf dem Boden saß und paralysiert dreinblickte.



    „Was für ein scheiß Experiment ist das?! Ich kann nicht glauben, dass das hier wirklich passiert. Wir träumen nur, oder? Wir sind einfach nur in einem bekloppten Traum gefangen und können nicht aufwachen!“
    Er wusste nicht, ob er eine Antwort von Paula erwartet hatte, aber grade als er merkte, dass sie das Bewusstsein verloren hatte, klappten seine Beine zusammen und sein Körper schlug auf den harten Boden auf. Und dann war sie endlich da – die Dunkelheit.


    -