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Paulas Herz schlug schneller. Sie rief Ian herbei, der vor der Liege hockte und den Boden darunter begutachtete.
Der junge Mann schaute erst ungläubig, dann lief er aber die wenigen Schritte auf Paula zu und fuhr mit seinen Fingerkuppen die winzigen Fugen entlang. Ian sagte nichts und Paula befürchtete für einen Moment, er würde ihre Hoffnungen zerschlagen; sagen, dass das alles sein könnte, aber ganz sicher kein Ausgang, aber er tat es nicht.
„Wie haben wir das übersehen können?“, fragte er nur und dann probierte er, sich gegen die Tür zu stemmen, um diese zum Aufspringen zu bewegen, auch wenn sie beide wussten, dass diese Versuche sinnlos waren. Die Tür war von außen fest verriegelt und jedenfalls im Moment gab es noch keine Möglichkeit, sie von innen irgendwie zu öffnen.
„So kommt er also hier rein“, stellte Ian fest, als er einige Schritte zurück ging, seinen Blick noch immer auf der Wand haftend.

„Und was machen wir jetzt?“, hörte Paula sich fragen, obwohl sie nicht damit rechnete, dass Ian so schnell einen Plan gefasst hatte.
„Warten“, entgegnete er. „Er wird ja wieder hereinkommen. Und dann werden wir es irgendwie schaffen, ihn zu überwältigen.“
Paula sah Ian an und schwieg. Ob er Recht hatte? Ob es wirklich so einfach sein würde? Sie war sich sicher, dass Kor aufpassen würde. Diese ganze Sache war viel zu gut geplant, viel zu gut überlegt, als dass er nicht damit rechnen würde, dass sie irgendwann die Tür erkennen und davor auf ihn lauern würden.

Kor würde keine Fehler machen, nicht derart grobe, dessen war sich Paula in ihrem Inneren schmerzlich bewusst. Und dann erinnerte sie sich wieder daran, dass Kor gesagt hatte, er würde jedes ihrer Worte hören und wenn er tatsächlich überall Lautsprecher oder Ähnliches installiert hatte, müssten sie sich etwas viel Besseres einfallen lassen als so offen über ihre doch sehr trivialen Ausbruchspläne zu reden und dann auch noch zu erwarten, dass sie ihnen gelingen würden. Kor war nicht dumm, er handelte nicht unüberlegt und Ian täte besser daran, sich dieses einzugestehen.

Die Stunden vergingen und Paula saß an der Wand gegenüber des kleinen Fensters und sah zu, wie die Welt draußen in der zunehmenden Dunkelheit verschwand. Es wurde Nacht. Ihre erste Nacht in Gefangenschaft – oder jedenfalls die erste, derer sie sich bewusst war. Ian schien sich nicht entscheiden zu können, ob er unruhig hin- und herlaufen und ihren Entführer beleidigen oder sich doch lieber ruhig verhalten und sich seinem Schicksal ergeben sollte. Heute Nacht würden sie hier nicht rauskommen.

Paula hatte probiert, einzuschlafen, aber obwohl sie müde war, war es ihr nicht gelungen. Sie wusste, dass Ian auf dem Boden schlafen musste, wenn sie auf der Pritsche lag und das wollte sie ihrem Mitgefangenen nicht zumuten, auch wenn dieser meinte, dass sie ein Vorrecht auf die Liege hätte, weil sie eine Frau war.
Paula wollte nicht auf Grund ihres Geschlechtes bevorteilt werden. Sie wusste, dass Ian es gut meinte, aber sie brachte es nicht über sich, diesen Vorteil auszukosten und so hatte sie es nicht lange mit ihrem Gewissen ausmachen können, auf der Pritsche zu liegen, während der junge Mann mit nackten Oberkörper auf den kalten Fließen lag, sein T-Shirt als Kopfkissen verwendend.

Paula konnte sowieso nicht schlafen. Ihre Gedanken und Ängste ergriffen immer mehr Besitz von ihr und das grelle Neonlicht brannte ihr in den Augen. Als sie sich nun an der kahlen Wand niedergelassen hatte, bot sie Ian zum dritten Mal die Liege an. Warum Kor ihnen nur eine gegeben hatte? Wusste er nicht, was er ihnen damit antat, hatte er keine zweite bekommen oder war es schlimmer, erfreute er sich gar an ihrem Leid?
‚Ian hätte seinen Wunsch nicht vergeuden sollen’, fuhr es ihr unwillkürlich durch den Kopf. ‚Wieso hatte er nicht nach einem zweiten Bett verlangt, einem richtigen Bett?