Kapitel 123: Phantasiewelten
                Am Morgen erwachte ich erholt wie schon lange nicht mehr. Verschwommen                  erinnerte ich mich an einen seltsamen Traum. Darin grub ich vor                  der Hütte ein tiefes Loch und plötzlich schoss ein Gysir                  aus dem Boden. Was das wohl wieder zu bedeuten hatte? Nur gut,                  dass es ein Traum war.
                Dabei viel mir ein, dass ich gestern Abend noch von Schätzen                  gelesen hatte, die in dieser Gegend vergraben sein sollten. Und                  irgendwie inspirierte mein Traum mich dazu, nach einer Schaufel                  zu greifen und einfach drauf los zu graben. Doch das einzige was                  ich fand, waren Knochen, Knochen und nichts als Knochen. Die einzige,                  die diesen Pfund als Schatz bezeichnet hätte, wäre wohl                  Goya gewesen.
                Als Klaudia aufwachte, war sie enttäuscht, dass es immer                  noch nicht geschneit hatte. Allerdings hielt dies nur einige wenige                  Minuten an. Spätestens, als ich ihr gegrillte Pfannkuchen                  zum Frühstück servierte, war sie wieder glücklich                  und zufrieden. Und da es zwar recht kühl, aber dennoch trocken                  und sonnig war, riet uns der Reiseleiter vor Ort einen Ausflug                  zu unternehmen, solange das Wetter noch so beständig war.                  Kurzerhand entschlossen wir uns für die Holzfällerexpedition,                  die uns einen Einblick in das Leben der Einheimischen geben sollte.
                Ich hatte zunächst befürchtet, dass Klaudia sich bei                  diesem Ausflug langweilen könnte. Doch damit hatte ich weit                  gefehlt. Als wir wieder zurückkamen, stürzte sie sich                  umgehend auf einen der übrigen Gäste des Feriendorfes                  und berichtete ihm von ihrem Erlebnis: "Hallo Mister! Haben                  sie schon mal einen Biber gesehen? Einen echten und nicht so einen                  aus dem Fernsehen? Mami und ich haben heute eine ganze Familie                  getroffen. Erst waren die voll böse und wollten uns beißen,                  aber dann hat der nette Mann, der uns begleitet hat Futter rausgeholt                  und die Biber haben es gefressen und waren dann nicht mehr böse.                  Die sind sogar ganz nah an uns heran gekommen. Ja ganz ehrlich,                  Mister, das war da hinten im Wald. Mami kann ihnen die Geschichte                  auch erzählen."
                Ich lächelte dem Mann entschuldigend zu und er verabschiedete                  sich höflich von meiner übermütigen Tochter, die                  schon dabei war, dem nächsten Gast ihre Biber-Geschichte                  zu erzählen. Währenddessen rief ich Zuhause an, um mich                  bei Tristan zu erkundigen, ob denn auch alles in Ordnung sei.                  Insbesondere um Kinga machte ich mir Sorgen, doch Tristan versicherte,                  dass Kinga zwar aufmüpfig wie immer, aber sicher in ihrem                  Zimmer war. "Ich passe schon darauf auf, dass sie nicht ausbüchst.                  Und vielleicht tut es ja euch beiden gut, wenn ihr mal etwas Abstand                  voneinander bekommt." Ich konnte nur hoffen, dass Tristan                  Recht behielt.
                Den Abend verbrachten wir dann bei einem Lagerfeuer im Freien.                  Der Mann von heute Nachmittag schloss sich uns an und erzählte                  nun im Gegenzug Klaudia die ein oder andere unglaubliche Geschichte.                  Das allein begeisterte meine Tochter schon, doch als er dann auch                  noch Marshmallows aus seinem Rucksack zauberte, war sie ganz aus                  dem Häuschen.
                Doch der Ausflug und die frische Bergluft zollten ihren Tribut                  und langsam aber sicher klappten Klaudias Augenlider zu. Bevor                  sie auf dem kalten Waldboden einschlief, brachte ich sie ins Bett.                  Mir war allerdings noch nicht nach Schlafen zumute. Freudig überrascht                  entdeckte ich einen Whirlpool zwischen den anderen Ferienhäusern                  und gesellte mich zu den beiden Frauen, die sich dort angeregt                  unterhielten. Es war herrlich in dem warmen Wasser zu sitzen und                  zu beobachten, wie eine Wolke aus Wasserdampf in die kalte Nachtluft                  hinaufstieg.
                In der Nacht träumte ich wieder die abstrusesten Dinge. Klaudia                  lief in den Wald, um die Biberfamilie wieder zu sehen. Und als                  sie sie fand, verwandelte sich einer der Biber in einen Bigfoot.                  Das Ungeheuer brüllte meine kleine Tochter an, doch anstatt                  schreiend wegzulaufen, brüllte sie einfach zurück und                  begann dann mit dem haarigen Monster herumzualbern. Also irgendetwas                  musste hier in der Luft liegen, dass mich so seltsam träumen                  ließ.
                Die Luft wurde merklich kühler. Eigentlich war es fast schon                  so kalt, dass man eine Jacke hätte anziehen müssen.                  Aber wenn man so lange in der Wüste gelebt hat, vergisst                  man leider manchmal, sich über das Wetter Gedanken zu machen.                  Frösteln stampfen Klaudia und ich zu einem ehemaligen Sägewerk,                  das zur Touristenattraktion ausgebaut worden war. Und um nicht                  ganz zu erfrieren, bestellten wir uns erst einmal heiße                  Pfannkuchen. Burger und Marshmallows waren zwar lecker, aber jeden                  Tag musste selbst Klaudia sie nicht essen.
                Und um sich auch weiterhin schön warm zu halten, schloss                  sich Klaudia einer Gruppe Kinder an, die von einer Einheimischen                  in einen traditionellen Volkstanz eingewiesen wurden. Ich hielt                  mich lieber im Hintergrund und beobachtete lediglich die hüpfende                  und schreiende Kinderschar. Ich weiß, als Mutter ist man                  immer etwas voreingenommen, aber Klaudia war wirklich die talentierteste                  von all den Kindern. Ich war richtig stolz auf mein Pummelchen.
                Während Klaudia also immer kompliziertere Folgen von Klatschen,                  Hüpfen, Drehen, Schreien, Klatschen, Hüpfen lernte,                  schaute ich mich ein wenig auf dem Gelände um. Eine riesige                  Holzscheibe stach in mein Auge, die früher einmal zu einem                  stattlichen Baum gehört haben musste. Wenn ich mir so den                  Durchmesser ansah, dann muss der Baum bestimmt 40 Meter hoch gewesen                  sein. "Der Baum war mal 53,76 Meter hoch". Ich muss                  wohl laut vor mich hin gedacht haben. Ein kleiner Junge, der                  eben noch mit Klaudia getanzt hatte, stand hinter mir und verbesserte                  mich. "Mein Opa hat ihn selbst gefällt." Hhm, ich                  war nicht sicher, ob man wirklich stolz darauf sein sollte, der                  Holzfäller eines solch erhabenen Baumes zu sein. Aber ich                  behielt das lieber für mich.
                Aber dann spürte ich die Macht, die mit so einer Axt verbunden                  war. Kaum hielt ich sie in der hand, durchströmte die Energie                  meinen ganzen Körper und ich hegte nur noch den einen Wunsch:                  Fälle den größten Baum!
                Ich entließ einen Urschrei aus dem tiefsten Inneren meiner                  Seele und warf die Axt von mir. Und sie traf ihr Ziel genau. Erst                  die eine Axt, den die zweite, dann die dritte. Erst langsam legte                  sich der Nebel des Rausches und ich realisierte, dass ich gerade                  drei kiloschwere Äxte exakt in das Zentrum einer Zielscheibe                  geschlagen hatte. Das nannte ich mal Anfängerglück.                  Und das Anfängerglück sollte man bekanntlich nicht überstrapazieren,                  als verzichtete ich auf eine Wiederholung dieses Spektakels.
                Leider kam das Ende dieses Urlaubs viel zu früh. Am letzten                  Abend legte ich mich in die Hängematte und beobachtete die                  Sterne am Himmel. Hier war alles so ruhig, so friedlich. Ich wollte                  für immer die Harmonie spüren, die hier in der Luft                  zu liegen schien. Denn in der Sierra Simlone warteten nur Probleme                  auf mich. Mein Mann hatte mich verlasse, meine Tochter hasste                  mich und ich durfte meinen besten Freund nicht mehr nahe sein.                  Doch ich schob diese Gedanken beiseite. Nicht heute, heute wollte                  ich einfach nur zufrieden sein.
                Noch vor Sonnenaufgang kletterte Klaudia unter der warmen Daunendecke                  hervor und lief zum Fenster. Gestern Abend war es kalt geworden,                  bitter kalt und das Thermometer an unserer Hütte hatte eindeutig                  Frost angezeigt. Sie hatte so sehr auf Schnee gehofft, doch der                  Blick aus dem Fenster enthüllte die gleiche grüne Landschaft,                  wie an den vorherigen Tagen.
                Und mit den ersten Sonnenstrahlen kletterten die Temperaturen                  auch wieder. Doch Klaudias Enttäuschung hielt nicht lange                  an. Es hatte ja eh keinen Sinn Trübsal zu blasen, also konnte                  man auch was Lustiges unternehmen. Und so kramte sie einen Baseball                  hervor und wir vertrieben uns die Zeit, bis das Taxi kam, dass                  uns zurück zum Flughafen bringen sollte, indem wir uns den                  kleinen Ball gegenseitig zuwarfen.
                "Hättet ihr nicht länger weg bleiben können?                  Oder am besten gar nicht wiederkommen?" Diese freundliche                  Begrüßung durch Kinga ließ keinen Zweifel daran,                  dass ich wieder Zuhause war. Und es hatte sich nichts verändert.                  Gut, ich hätte damit rechnen müssen, aber in mir war                  immer noch die Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden würde                  und Kinga wieder das nette, liebe Mädchen von früher                  wurde.
                Doch bis es so weit war, musste ich wohl noch viele Kämpfe                  mit ihr austragen. Kämpfe, denen Klaudia am liebsten aus                  den Weg gehen wollte. Da sie aber unvermeidlich schienen, versuchte                  sie einfach aus der Schusslinie zu geraten. Und während ich,                  kaum fünf Minuten in der Simlane, schon wieder mit Kinga                  stritt, hockte sie sich in eine Ecke und blätterte durch                  eine Märchenbuch. So schön der Urlaub auch war, sie                  erkannte, dass sich Zuhause nichts geändert hatte. Und das                  würde es auch nicht, also blieb ihr nur die Flucht in ihre                  Phantasiewelt.