Danke, ihr beiden! Ich hoffe, die kalten Schauer sind nicht allzu unangenehm... hier kommt die nächste Erzählung...
Nach einer wahren Begebenheit in Irland, 1956
Der Mond scheint hell durch eine Ritze in der Wand des Hühnerhauses. Viele Nächte schon beobachtet er ihn, wie er stetig runder wird, um dann sichelförmig schmaler zu werden und schliesslich einer dunklen Scheibe zu weichen, nur um in den folgenden Nächten den Zyklus erneut zu beginnen. Die Hühner gackern leise und beruhigend, während er sich in das weiche Heu schmiegt.
Gedämpfte Stimmen dringen aus dem Backsteinhaus zum Hühnerstall hinüber. Licht brennt in einem Fenster. Eine Frau streitet mit einem alten Mann. Immer wieder schaut sie gehetzt zum Hühnerhaus hinüber. Sie denkt an ihn. Ihr Vater darf ihn nicht finden. „Wenn du den Balg nicht zum Verschwinden bringst, dann tu’ ich es!“, hat er damals geschrien. Ein uneheliches Kind - eine Schande für das ganze Dorf. Doch wo kann man schon ein Kind verstecken?
Das Licht von draussen fällt durch ein schmutziges Leinentuch gedämpft auf den blechernen Teller, der zwischen den Strohhalmen liegt. Er teilt sich das Essen mit den Ratten und den Hühnern, seinen einzigen Gefährten in kalten Nächten, an einsamen Tagen. Stumm. Sprachlos. Lieblos. Kein Kontakt zu Aussen lässt das Leben im Innern verkümmern.
Manchmal hört er Stimmen draussen. Kinder spielen auf der Wiese neben dem Hühnerhaus. Ein Junge lacht unter dem schmutzigen Fenster. Er schnuppert durch die Ritze, durch den er des Nachts den Mond sehen kann. Der Junge hört das Schnüffeln und klopft neugierig gegen die morschen Holzbretter, späht durch die dreckige Scheibe, kann jedoch nichts erkennen. Ein anderer ruft und der Junge rennt zu seinen Freunden zurück.
Die Frau hat ihn ins Hühnerhaus gebracht, in eine zerschlissene Wolldecke gewickelt, die der Vater hoffentlich nicht vermissen würde. Sie hat geweint, ihn geküsst, sein Schreien ignoriert und ihn behutsam zwischen die Hühner gelegt. Sie wusste, ihr Vater würde ihn töten. Hier ist er sicher.
Der Fleck, den die fahle Sonne auf das Stroh wirft wandert von der einen Ecke des Stalls in die andere. Der Junge späht wieder durch das Fenster. Er ist sich sicher, dass er etwas gehört hat. Er riecht ihn. Er schiebt das Leinentuch beiseite und starrt den Jungen an. Diesem entfährt ein spitzer Schrei, bevor er mit weit aufgerissenen Augen davonrennt.
Die Sonne weicht dem Mond. Gedämpfte Stimmen dringen aus dem Backsteinhaus zum Hühnerstall hinüber. Licht brennt in einem Fenster. Eine Frau streitet mit einem alten Mann. Und die Hühner gackern leise im Schlaf, während sich eine Ratte vom blechernen Teller bedient. Es wird kalt in dieser sternklaren Nacht.
Fortsetzung auf der nächsten Seite