Und hier der neueste Teil meiner Fortsetzungsgeschichte:
Die Welt der Dunkelheit
von Jan Marvin
Kurz nach Mitternacht hatten wir die beiden toten Ghule Sophies und die Menschen, dessen Leichen wir verstreut im Haus fanden, weggeschafft, sodass sie keine größere Gefahr durch die Polizei mehr hervorrufen konnten. Der Prinz war persönlich zu Madame Sophie’s Anwesen gekommen, um sich das Ausmaß des Blutbades anzusehen und Pläne zu schmieden, dieser akuten Bedrohung zu begegnen. Die Camarilla war in sehr großer Gefahr, der Sabbat konnte alles vernichten, was über Jahrhunderte aufgebaut wurde. Die Bürde der Camarilla war in dieser Zeit doppelt schwer, denn während die Sabbatvampire zusammen mit den Unabhängigen schwere Schläge austeilten, musste die Camarilla dafür sorgen, den Schaden zu begrenzen und unschuldige Menschen aus der Sache herauszuhalten.
Für uns war kaum noch Zeit, gegen den Feind anzugehen und gleichzeitig die Traditionen der Maskerade zu wahren.
Judith wirkte seltsam. Beinahe verstört. Sie lehnte an der Wand nahe der Treppe, die nach unten führte, das schwarze Kleid blutgetränkt und feucht. Sie starrte an die gegenüberliegende Wand an das Bild, dass, verziert mit einem barock anmutenden Bilderrahmen, eine Jagdszene aus dem England des späten 19. Jahrhunderts zeigte. Doch sie sah es nicht an, sie starrte hindurch, unfähig, das Bild als das zu erkennen, was es war.
„Womit habe ich das verdient? Womit habe ich das verdient?“, murmelte sie vor sich hin.
Ich ging langsam auf sie zu, wischte mir das Blut mit einem Taschentuch von den Händen.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich ruhig.
Sie antwortete nicht. Wie immer, wenn sie wütend, überrascht oder traurig war. Nur dieses Mal war es kaum Trauer oder Wut, ich glaube, es war Verzweiflung über die Situation. Sie hatte ihr Leben verloren, hatte seit Tagen niemanden aus ihrem alten Leben gesprochen oder gesehen und befand sich nun mitten im Blut von Menschen, Ghulen und einer Vampirin, die sie töten wollte. Dabei war sie selbst ein Kainskind, das noch vor Stunden beinahe einen Menschen getötet hätte und seinen Erzeuger angegriffen hatte. Wären die Umstände andere gewesen, hätte ich sie eine Weile in Ruhe gelassen, leider ließen die Geschehnisse der letzten Nächte eben dies nicht zu. Es war einfach zu gefährlich, sie allein zu lassen.
„Judith, ich weiß, wie du dich fühlst, und es tut mir leid. Aber wir müssen diese Sache hier noch hinter uns bringen. Wenn das vorbei ist, werde ich dir deine Freiheit geben, doch jetzt haben wir Probleme, die über deine und meine Belange hinausgehen. Ich hoffe, du verstehst das.“
Wahrscheinlich waren das die falschen Worte, doch wusste ich nicht, wie ich mich sonst hätte ausdrücken sollen.
„Du hast mir diesen ganzen Mist hier doch eingebrockt. Ohne dich wäre ich gar nicht hier. Und jetzt sieh mich an. Sieh mich an, hab ich gesagt. Ich stehe hier in einem meiner Lieblingskleider, dass vollgeschmiert mit Blut ist und glaube, dass ich langsam verrückt werde.“
Darauf konnte selbst ich nichts mehr sagen. Sie hatte Recht, ich hatte Schuld.
„Judith, hör auf damit. Glaub nicht, dass du die einzige bist, der es so geht. Frag Jack, er ist genauso reingerissen worden wie du. Es ist aber die Fähigkeit der Toreador, sich daran zu gewöhnen und das Beste daraus zu machen. Wir sind die letzten Vampire, die noch so etwas wie Kultur besitzen. All die anderen versuchen, ihr Unleben als Strafe, als Sühne oder als Verdammung zu sehen. Wir hingegen nehmen die Chance des Kainitenblutes wahr und tun die Dinge, die wir im Leben nicht zu tun imstande waren. Ich habe seit meiner Verwandlung Bücher geschrieben. Gut, sie waren nicht gerade mit Erfolg besudelt, aber ich habe es getan, weil ich glaube, dass das Schreiben meine persönliche Erfüllung ist. Ich glaube auch, dass wir, die Toreador, diejenigen sein werden, die diese Welt und die Welt der Kainskinder retten werden, da wir uns dessen bewusst sind, was wir sind, und somit die Fähigkeit haben, alles aus diesem Unleben herauszuholen, was es gibt. Nicht allein Macht, Geld oder Loyalität. Nein, auch Kultur und Freude, Schönheit und Unterhaltung gehören dazu. Wer auf Macht oder Rache aus ist, endet irgendwann als griesgrämiger Ahn in einem Grab, von dem aus er die für sich minderwertigen steuert. Wir wollen das aber nicht. Wir wollen unser Unleben genießen, es herausfordern, denn nur wer wagt, kann auch gewinnen. Wird dir darüber klar, dann bist du eine echte Toreador. Und einen kleinen Hinweis habe ich noch: Wein schmeckt für dich noch genauso köstlich wie früher.“
„Gibt es Probleme?“, fragte der Prinz, als er plötzlich neben uns stand. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er zu uns gekommen war.
„Nein, mein Prinz. Ab jetzt habe ich keine Probleme mehr“, antwortete Judith. Sogar der Prinz war ein wenig überrascht über ihre Antwort. Offenbar hatte sie verstanden. Sie war jetzt eine richtige Toreador.
„Mein Prinz, ich werde ihre Ausbildung bereits in zwei Wochen beenden, dann könnt ihr sie offiziell empfangen. Ich werde wohl eine kleine Feierlichkeit veranstalten, wenn es soweit ist, ihr seid selbstverständlich eingeladen.“
„Eure Einladung ehrt mich, Malakai. Ich werde da sein, definitiv. Doch erst müssen wir uns um den Fleischformer und die Assassine kümmern. Wollt ihr mir folgen?“
Wir gingen zu der Assamite hin, die ich gepfählt hatte. Sie lag still da, ihre Augen weit aufgerissen, starr. Sie schien bei Bewusstsein, doch sie konnte auf nichts reagieren. Ich sah, wie der Prinz tief Luft holte, er pumpte Blut, um sich zu stärken, dann zog er den Pflock aus ihrem Herzen, dem gleich wieder ein Strom von dunklem Blut folgte. Sie fing an zu zittern, doch es hörte sogleich wieder auf. Sie sah dem Prinzen hasserfüllt in die Augen und versuchte sofort, ihn anzuspucken. Er hob die Hand und fing damit ihren Blutspeichel ab. Man konnte sehen, wie seine Haut anfing, sich langsam unter einem Zischen aufzulösen, doch er zuckte nicht einmal mit den Wimpern und schloss die Wunden sofort.
„Seelenstärke“ flüsterte ich Judith zu. Sie nickte.
„Wer bist du? Für wen arbeitest du?“, fragte Prinz Alexander barsch.
„Warum sollte ich dir das erzählen, Degenerierter?“
Er schlug einmal mit der flachen Hand zu, ihr Kopf wirbelte hart herum.
„Gut, dass wir wissen, von welchem Blute wir sind. Nun rede, Assamit!“
„Eher will ich sterben!“, schrie sie.
„Nun, dass lässt sich einrichten.“, sagte Alexander in ruhigem, aber bedrohlichen Ton.
Dann zog er ein langes Messer unter seinem Mantel hervor, stand auf, zog sie mit hoch und schlug ihr den Kopf ab. Er fiel mit einem schnalzenden Geräusch auf den vom Blut genässten Boden. Ditsch. Er wischte das Messer mit einem weißen Tuch ab, das sich sofort rot färbte. „Werft ihr Blut weg. Es ist verdorben.“
Judith sah mich verwundert an, ich nickte ihr zu und zerschmetterte das Fläschchen auf dem Boden. Sie tat es mir nach, doch dann sah sie mich wieder an.
„Er kennt mich einfach zu gut.“
Sie lächelte. „In Ordnung, aber warum wegwerfen?“
„Weil es vergiftet ist.“, antwortete der Prinz für mich. „Assamiten können ihr Blut vergiften, sodass es uns zusehens schwächt. Sie konnte ihr Blut mit Säure anreichern, also kann sie es auch vergiften. Nehmt nie das Blut eines Assamiten, wenn er seine Disziplinen bereits angewandt hat.“
„Warum musstet ihr sie töten?“, fragte Judith vorwurfsvoll.
„Wenn ich sie freigelassen hätte, wäre sie gegangen und hätte weitere Informationen preisgegeben. Jetzt müssen sich die Urheber vergewissern, dass der Auftrag erledigt wurde. Ich denke nicht, dass sie Sophie haben wollten, ich glaube eher, dass sie uns erst einmal verängstigen wollen, schwächen, bis sie uns direkt angreifen.“
„Ich hatte auch schon solche Gedanken. Was sagt ihr zu dem Tzimisce, Prinz Alexander?“, fragte ich. Ohne den Prinzen antworten zu lassen, fuhr ich fort. „Er muss sehr mächtig sein, er konnte über mehrere hundert Meter seine Disziplin nutzen, und das bei einem Ghul. Das ist durchaus beängstigend, findet ihr nicht?“
„Um den werde ich mich persönlich kümmern. Soll er versuchen, das bei mir zu tun. Selbst wenn er ein Ahn ist, ich werde ihn eigenhändig in Stücke reißen.“
Seine Stimme klang unheimlich ruhig und beiläufig, als würden ihm diese Geschehnisse hier wenig bedeuten. Für Judith musste der Prinz auf seltsame Weise sadistisch und gefühlskalt erscheinen, doch ich wusste, dass er nicht das Monster ist, für das er sich ausgibt. Seine Gefühle sind zwar im Lauf der Jahrhunderte schwächer geworden, doch er ist sich seines Handelns noch völlig bewusst; er kennt die Konsequenzen dessen, was er tut, was ihn zu einem guten Prinzen macht.
„Ich schlage vor, ihr stellt auf eure Weise Nachforschungen an, ich werde mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich würde euch gern eine Unterkunft in meiner Residenz anbieten, aber ich befürchte, dass mein Heim ebenso unsicher ist wie alle anderen. Ich werde euch unterstützen, wenn ich kann, aber mehr kann ich für euch nicht tun.“
„Ich weiß eure Mühe zu schätzen, mein Prinz. Wie geht es Madame Sophie? Ich hoffe, sie ist wohlauf.“
„Keine Sorge, junger Malakai, sie wird es überstehen. Kümmert euch nicht weiter um sie. Ich bitte euch nun, zu gehen, denn wenn die Sabbatbrut hier noch in der Nähe ist, wäre es zu gefährlich, auf einem Haufen zu sitzen.“
Wir fuhren also wieder los, auf der Suche nach einer Bleibe für die nächsten Nächte. Judith schien in einer Art Traumwelt zu schweben, zumindest schien sie das Gefühl zu haben, zu träumen. Leider musste ich sie in diesem Fall enttäuschen. Sie würde noch jedes kleine Detail der Grausamkeit dieser Welt erfahren, ohne Schleier, ohne Ablenkung, sie würde jeden erdenklichen Einblick in die Welt dieses ganz normalen Wahnsinns erhalten, und jeder Eindruck würde sie zehn Mal so stark treffen wie einen Menschen, weil sie wusste, dass sie sich dem nicht mehr entziehen konnte, sie würde die Ewigkeit damit verbringen, in dieser unserer Welt zu leben. Viele Vampire, die sich dieser Tatsache in ihrem Unleben bewusst wurden, haben sich freiwillig dem Sonnenlicht ausgesetzt, andere begannen, nachzuforschen, was denn der Sinn all dessen sei. Nun, ich bin da etwas rationeller veranlagt, was Mythen und Monster anbelangt. Ich glaube zwar an Kain, allerdings nicht in einer derart mystifizierten Form. Lasst es mich so ausdrücken: Ich glaube an den ersten aller Vampire, der unser aller Urvater ist, aber ich denke eher, dass die Vampire an sich kaum mehr als eine weitere Art übernatürlicher Wesen sind, so wie Werwölfe, Feen oder schlicht und ergreifend Magi, die Zauberkünstler unter den Sethskindern, den Menschen. Und woher die kommen, fragt keiner. Wie auch immer, es ist das Beste, wenn jeder Kainit für sich selbst entscheidet, was er ist. Das klingt vielleicht, entgegen dem, was ich bisher gesagt habe, sehr liberal, aber ich sehe das eher egoistisch: Jeder sollte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, statt andere damit zu belästigen. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie belastend ein Nervenbündel, das einen über Hunderte Jahre folgt, sein kann.
Ich fuhr an eine Tankstelle, um etwas zu trinken zu kaufen. Eigentlich wollte ich nur die Flaschen, um Blutbehälter zu haben, andererseits konnte ich damit testen, wie weit Judith’s Geschmackssinn reichte, sonst hätte ich ihr eine Liste mit Getränken geben müssen, die sie zu bestimmten Anlässen trinken und so tun sollte, als wären sie vorzüglich. Ich hielt den Wagen an, stellte ihn neben eine Zapfsäule und gab Judith die Aufgabe, voll zu tanken. Während sie das tat, konzentrierte ich meine Wahrnehmung auf die unmittelbare Umgebung, aus reiner Vorsicht, und entdeckte einen Schatten, der verdächtig nach einem Vampir aussah. Als er sah, dass ich ihn beobachtete, trat er einen Schritt vor, jedoch nicht weit genug, um aus dem Schatten der Tankstelle ins Licht zu gelangen. Jetzt erkannte ich ihn deutlich. „Wenn du dich schon verdunkelst, Nikolai, dann solltest du es so tun, dass ich dich nicht entdecke."
Ich musste grinsen, bei dem Gedanken, dass uns jemand zusah. Er würde mich sehen, wie ich mit der Wand spreche, jedoch niemand anderen.
„Sei gegrüßt, werter Malakai, ich habe euch gesucht.“
„Genau. Und ich habe dich gefunden.“, antwortete ich spöttisch.
„Sei nicht so arrogant, Neonat. Ich kann euch eine Unterkunft anbieten, wenn ihr keine findet.“
Neonat war der Ausdruck für einen Vampir, der noch nicht älter als dreißig war. Nikolai war schon seit mehr als fünfzig Jahren ein Kainskind, das machte ihn zu einem sogenannten Ancillae.
Ich lachte. „Oh, russischer Kollege, ich glaube, ein ganzes Jahr in einem von Kakerlaken zerfressenen Hotel ist besser, als ein einziger Tag in den Gefilden der Kanalisation unter deinesgleichen.“
„Im Bezirk Spandau befindet sich ein verlassener Wasserturm, er gehört mir, ihr könnt ihn haben, bis der... Ärger vorüber ist.“
Er breitete in einladender Geste die Hände aus.
„Und was muss ich dafür tun?“, fragte ich skeptisch. Ich wusste, dass er etwas dafür erwarten würde. Kein Vampir bietet einem Clansfremden ohne Gegenleistung seine Domäne an. Schon gar nicht Nosferatu.
„Ich war schon lange nicht mehr in einem dieser neumodischen Tanzlokale...“
Alter Narr. Er schien tatsächlich zu glauben, dass ich ihm meine Domäne überlassen würde, als Jagdrevier. Ich drehte mich wortlos um und betrat den Verkaufsraum der Tankstelle. Ich sah mich im Weinregal um. Eine Hand berührte meine Schulter, ich drehte mich um und sah erstaunt, wie Nikolai hinter mir stand. In einer voll beleuchteten Tankstelle, mit Dutzenden Kameras überall stand er direkt neben mir und lächelte... Nein, grinste mich an. Nosferatu können nicht lächeln. Dazu ähnelt ihr Gesicht viel zu sehr an das einer geächteten Fratze. Meine Meinung. Das Gesicht eines Verdunkelten wirkt, als würden alle Schatten der Umgebung an ihm haften, sie wirken sehr dunkel, und sobald sie in richtigem Schatten stehen sind sie nahezu unsichtbar. Nicht einmal ein Vampir mit geschärften Sinnen kann ihn dann noch entdecken.
Den Verkäufer an der Kasse schien Nikolai nicht zu interessieren, er schaute nicht ein einziges Mal zu uns hinüber, was mich erkennen ließ, warum Nikolai sich hereintraute: Er hatte seine Disziplin der Verdunklung verstärkt, und damit ihre Wirkung. Damit konnte er sich über beleuchtete Plätze durch Menschenmassen hindurchwagen, ohne gesehen zu werden. Diese Kraft der Verdunklung beeinflusst den Geist der Menschen, sie schauen unbewusst weg, weichen ihm aus oder wechseln unwillkürlich die Straßenseite, ohne im Geringsten zu wissen, warum sie das tun. Selbst auf Kameras ist er nicht zu sehen, weil der Beobachter immer in dem Moment, in dem der Verdunkelte auf dem Bild erscheint, wegsieht, das Bild gestört ist oder er nicht konzentriert genug hinsieht. Manche Vampire können mit Hilfe dieser Disziplin sogar ihr Aussehen ändern, er verwandelt sich in einen völlig harmlosen, unauffälligen Körper, bei dem man im Vorbeigehen keinerlei Aufmerksamkeit verschwendet.
Nikolai flüsterte, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. „Mein Freund, da du einen Zutritt in deine Domäne nicht zulässt, könnte ich dir etwas anderes anbieten.“
Ich sah ihn fragend und mit hochgezogener Augenbraue an.
„Bringe mir bei, so schnell zu sein wie du, und du wirst auf ewig freien Zugang zu meiner gesamten Domäne haben und ich garantiere dir unbehelligtes Reisen durch die Kanalisation dieser Stadt. Auf ewig.“
Das klang nach einem guten Vorschlag. Zugegeben, die Disziplin der Geschwindigkeit, die es einem erlaubt, sich schneller zu bewegen als das menschliche Auge folgen kann, ist eine sehr mächtige Disziplin, allerdings ist das Domänenrecht eines Nosferatu sowie freier Zugang zur Kanalisation in manchen Belangen Gold wert. Nirgends kann man bessere Informationen erhalten als bei den von Kain verfluchten Nosferatu, das war sicher. Ich willigte ein, ohne groß zu zögern, bezahlte zwei Flaschen mittelprächtigen Weins und die Tankfüllung an der Kasse und ging zurück zum Auto. Judith stand angespannt da, den Blick ins Leere gerichtet, aber voll konzentriert. „Judith?“, fragte ich.
„Ich sehe... Schleier... Farben... Sie sind wunderschön...“
Sie stand da wie eine Salzsäule, ohne Regung, den Blick stur auf die Straße gerichtet.
„Welche Farben siehst du?“
„Blau, grün, braun, gelb... Da ist orange, da hinten ist rot-schwarz...“
„WAS?“, rief ich entsetzt dazwischen.
Sie hatte Auspex erkannt und angewendet, wahrscheinlich ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Die letzte Farbkombination, die sie nannte, war mehr als beunruhigend. Eine Aura, die von schwarz durchzogen ist, zeigt Diablerie an. Das konnte nur eines bedeuten: Entweder hatte einer der Vampire Berlins ein Verbrechen begangen, oder die Assamiten waren nicht weit. Sie waren nicht nur gefürchtete Mörder, sondern auch berüchtigte Diableristen, was sie zu einem Feind machte, vor dem man sich eher verstecken als sich ihnen stellen sollte. Wir mussten uns also beeilen, uns blieb nicht viel Zeit, in Sicherheit zu kommen. Ich zog Judith ins Auto, setzte mich rein und fuhr los. Nikolai war verschwunden, wahrscheinlich in die Kanalisation. Wir fuhren also nach Spandau, zum alten Wasserturm, der schon seit Jahren leer stand. Wie er in Nikolai’s Besitz kam, war mir unklar, vielleicht hatte er ihn von der Stadt gekauft, vielleicht hatte auch ein anderer Kainit ihn gekauft und Nikolai hat ihn, auf welche Weise auch immer, erhalten.
Um ein Uhr morgens sind die Straßen der Stadt fast völlig leer, nur Nachtarbeiter oder tanzwütige Teenager waren jetzt noch unterwegs. Die Nacht war recht kühl, fast wolkenlos, man konnte viele Sterne am Himmel sehen, während der Mond einem das Gefühl gab, direkt in eine starke Glühbirne zu schauen, so hell leuchtete er. Wir fuhren auf der Heerstraße in Richtung Spandau, zum alten Wasserturm, den mir Nikolai versprochen hatte. Während der Fahrt erzählte ich Judith von einigen weiteren Dingen, die sie wissen musste, um zu überleben.
„Judith, das folgende Thema ist jetzt unheimlich wichtig. Es bestimmt unsere Art, es definiert das, woran alle Kainskinder der Camarilla glauben, woran sich nahezu alle zu halten versuchen.“
Sie sah mich mit einem ungläubigen „Was kommt jetzt?“ -Blick an, gleichzeitig erkannte ich in ihren Augen, dass sie wenig Motivation hatte, noch mehr Neues und Unglaubliches zu erfahren. Glücklicherweise konnte ich sie enttäuschen. „Es ist nicht so schlimm, wie du denkst, keine Angst. Es geht um deine Raserei.“
„Tut mir Leid, ehrlich. Ich hätte Maria fast getötet, nicht wahr?“
„Darum geht es nicht. Du konntest nichts dafür, Maria ist auch nicht verärgert oder hat Angst vor dir, mach dir um sie keine Sorgen. Es geht darum, dass du auf dich achten musst. Du hast mit deiner Verwandlung etwas freigesetzt, was wir ‚Das Tier‘ nennen. Es ist der Urtrieb aller Vampire. Es ist das, was uns zu Vampiren macht, neben dem Bluttrinken natürlich. Das Tier versucht immer, an die Oberfläche zu kommen, zu wüten und zu töten, um an die Quelle unseres Unlebens zu kommen. Wenn du wenig Blut im Körper hast, ist die Gefahr groß, dass das Tier nach außen tritt und die Kontrolle übernimmt. Dann bist du nahezu willenlos den Gelüsten des Monsters ausgesetzt und kannst nichts dagegen tun. Ebenso können Dinge wie Feuer, Sonnenlicht oder pure verbale Provokation eine Raserei auslösen.“
„Und wie kann ich dagegen angehen?“
„Du musst eine Art innere Ruhe aufbauen, so wie Sterbliche das mit Meditation oder mentalem Training machen. Du musst versuchen, dich nicht so schnell reizen zu lassen, trink regelmäßig, so dass du zum Einen so gut wie möglich gesättigt bist und zum Anderen noch genug Blut im Körper hast, um zum Beispiel deine Haut zu wärmen oder zu atmen. Wenn du glaubst, dass du in einen Kampf geraten könntest, trink vorher so viel wie möglich, denn im Kampf ist der Blutverlust am höchsten, da man sich stärker oder schneller macht und natürlich Wunden heilen muss. Und wenn du merkst, dass du die Kontrolle verlierst, kämpf dagegen an, so stark du kannst. Ich werde immer versuchen, dir dabei zu helfen.“
„Ich verstehe.“
Ihr dunkles Haar war matt, stumpf, ihre Haut war noch blasser als ohnehin schon und das Mondlicht verstärkte den Eindruck noch. Sie wirkte beinahe unheimlich. Ich bog in eine Querstraße ein und fuhr in die Innenstadt von Spandau.
„Wo willst du hin? Der Wasserturm ist doch in der anderen Richtung.“
„Ich weiß. Hast du Durst?“
„Ja, warum?“
Ich reagierte nicht auf ihre Gegenfrage. Dann verstand sie, das verriet ihr Blick. Ich hielt vor einem Wohnhaus nahe des Bahnhofs, es war eins dieser Altbauten, die in den Nachkriegsjahren gebaut worden sind, graue Wände, hohe Fenster und Kohleöfen in den Wohnungen.
„Hier wohnt ein alter Freund von mir.“ erklärte ich.
„Wie viele ‚alte Freunde‘ hast du eigentlich?“, entgegnete sie ein wenig amüsiert.
Ich lachte. „Wenn man so alt ist wie ich, lernt man viele Leute kennen. Und wenn man mal Hilfe braucht, ist das vielleicht gar nicht so schlecht.“
„Wer ist es?“
„Er heißt Vincenze Rattoni, er ist Italiener, ein Ventrue.“
„Das waren doch die machtbesessen, oder?“
„Sehr richtig. Vince ist harmlos, er redet gern und viel, aber für einen Blaublütigen ist er wirklich in Ordnung.“
Ich erklärte ihr noch, dass Vincenze kein Adliger war, dass die Bezeichnung ‚Blaublütige‘ mehr ein Spitzname war, da viele Ventrue tatsächlich aus adligen Familien stammten, was sich in ihrer Denkweise wiederspiegelte.
Nachdem ich mehrmals geklingelt hatte, öffnete er mir endlich die Tür. Seine Wohnung war das perfekte Gegenteil des Treppenhauses. Im Aufgang lag Müll verstreut, der Putz war bereits von den Wänden gebröckelt, außerdem knarrten die Treppenstufen so laut, dass man Tote damit wecken konnte. Doch seine Wohnung... Nun, ich persönlich würde seine Einrichtung als geschmackvoll bezeichnen, jedoch mit einer starken Neigung zur Dekadenz. Cremefarbene Wände, gesäumt von weißen Holzornamenten, kunstvoll geschnitzt, dazu ebenholzfarbene Kommoden und Schränke aus vergangenen Zeitaltern, überall hingen Schmuckstücke aus verschiedensten Kulturen an den Wänden. Masken, Bilder, Waffen, Vasen, alles, was man sich vorstellen konnte. Dass die Decken der Wohnung so hoch waren, schien ihm sehr recht zu sein, somit hatte er noch mehr Platz, sein Sammelsurium an zu präsentieren. Doch man erkannte auch, dass die meisten Stücke nicht seinem Geschmack entsprachen, vielmehr wollte er damit eine Wirkung nach außen erzielen, für Besucher wie mich. Er war weder hedonistisch noch dekadent, im Gegensatz zu einigen anderen seines und meines Clans, mit denen er am meisten verkehrte.
„Willkommen, Malakai. Besuch? Wen hast du mitgebracht? Möchtet ihr was trinken? Was gibt es neues? Kommt doch erst mal rein und setzt euch, ich habe einen herrlichen Wein da. Oder wollt ihr etwas Vitae? Ich habe so viel zu erzählen.“
„Vince, bleib ruhig. Hallo, mein Freund.“
Als wir uns gesetzt hatten, sah mich Judith an, als hätte ich den Verstand verloren. Vince war in der Küche beschäftigt, sodass ich zumindest flüstern konnte. „Keine Angst. Wie gesagt, er redet viel, aber er ist hilfsbereit. Ich habe ihn vor vielen Jahren in Florenz kennengelernt, er war dort Mäze einer kleinen Gruppe von Architekten, von denen mittlerweile einer im Clan Toreador ist, ein anderer bei den Ventrue. Er hat mir geholfen, als ein paar Tremere es auf mich abgesehen hatten, warum, weiß ich bis heute nicht. Jetzt sitzt er auch hier und versucht, sein Unleben zu gestalten.“
„Vertraust du ihm?“
„Nein.“
Da kam er auch schon mit einer Flasche Wein Weißwein aus der Küche und hielt sie mir vor die Nase. Irgendeine südafrikanische Sorte, deren Namen ich bereits wieder vergessen habe. Er schenkte allen ein und setzte sich. „Ich wusste gar nicht, dass du ein Kind zeugen darfst. Wo hast du sie kennengelernt? Ich weiß noch, als ich einst ein Kind zeugte. Er war ein Architekt aus Florenz, dessen Arbeit ich mit finanzierte. Er war ein Meister der Motivation, leider ein miserabler Architekt, was aber uninteressant war. Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen, als ich zu mir nach Hause einlud.“ Er lachte lauthals. „Ich dachte, er stirbt vor Schock, bevor ich ihm den Kuss geben konnte. Das Beste ist, sein Ghul übernimmt derzeit die Geschäfte eines Architektenbüros irgendwo im Südtirol. Sie sollen sehr erfolgreich sein, hörte ich. Und was ist mit euch?“
„Du hast dich kein Stück verändert, Rattoni. Wie dem auch sei, sie braucht ein Kleid für den Abend, außerdem noch Kleidung für die Straße. Hast du etwas im Schrank, dass ich gebrauchen könnte?“
„Puh...“, murmelte er. „Ein Kleid ist kein Problem, nur die Straßenkleidung, da sieht es nicht so gut aus.“
Jetzt, wo er sie sich richtig angesehen hatte, fiel ihm das viele Blut auf unserer Kleidung auf. Beinahe schockiert saß er da und starrte uns an.
„Assamiten. Wir haben keine Zeit für Erklärungen.“, sagte ich. „Sie braucht Blut und ich muss zu Nikolai, ich habe zu tun, du verstehst.“
Völlig regungslos saß er da, als hätte er plötzlich eine schockierende Erkenntnis erlangt.
„Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Ich habe Gerüchte gehört, aber ich hatte keine Ahnung...“
Damit brach er ab und bewegte sich geistesverloren in Richtung Schlafzimmer.
„Was hat er denn?“, fragte Judith verwundert.
„Nun, sein Clan versorgt ihn nur selten mit Informationen, außerdem nimmt er nur unregelmäßig an Elysien teil, daher weiß er selten, was in der Welt der Dunkelheit vor sich geht. Ihn interessieren die Menschen mehr als die Kainskinder. Manchmal schweift er sogar fern jeder Realität, als wäre er nie ein Kainit gewesen. Eigentlich wäre das ein Grund, ihm zu trauen, allerdings... er ist und bleibt ein Ventrue.“
Sie sah mich kurz erstaunt an, was ich wohl damit meinte, aber ich ging nicht darauf ein; sie würde schon früh genug merken, was es mit den Ventrue auf sich hatte.
Vincenze kam mit einem dunklen, violetten Abendkleid zurück. Er wollte eigentlich erfreut wirken, dass er etwas Passendes gefunden hatte, doch es gelang ihm nicht. Sorge stand in seinem Gesicht, ein Ausdruck, den man selten zu sehen bekam.
„Hier, das müsste passen. Eins meiner… Kinder hat es mal getragen, ich hoffe, es macht dir nichts aus. Das ganze Blut… Oh Mann, was habt ihr bloß gemacht?“
Er setzte sich mit einem Seufzer auf die Couch und starrte in die Leere. „Was habt ihr nun vor?“
„Ich brauche einen Klüngel.“, antwortete ich. „Und zwar schnell. Toreador, Brujah, Ventrue, Nosferatu, völlig egal. Nur keine Tremere. Hast du Vorschläge?“
Wieder seufzte er, als läge eine schwere Last auf seinen Schultern. „Nimm Nikolai, der ist für alles gut. Wenn du einen Brujah brauchst, würde ich diesen Johnny empfehlen, der neue hier in Berlin. Er ist ein Choleriker, aber loyal und ein guter Kämpfer. Kennst du Ben, den Malkavianer? Ich hörte, dass er eine Menge draufhat, gerade was Manipulation angeht. Und ehrlich gesagt, ich würde auch mitkommen.“
„Vergiss den Malkavianer. Ich habe keine Lust, nach einem Kampf mit einem Pflock im Herzen aufzuwachen und zusehen zu müssen, wie der Malkavianer mich aussaugt.“
„Warum sollte er das tun?“, fragte Judith erstaunt.
„Ganz einfach: Diese Brut Malkavs ist verrückt. Malkav, der Clansgründer, war geisteskrank, und das hat sich auf seine Kinder übertragen, bis heute. Niemand weiß, was ein Malkavianer vorhat, niemand kennt ihre Ziele und niemand weiß, welche Mittel sie nutzen, um ihre Ziele zu verfolgen. Ich halte sie für durchgedreht und gefährlich. Deshalb will ich keinen von ihnen in einem Klüngel.“
„Klüngel?“, entgegnete sie.
„Ein Klüngel ist nichts weiter als eine Gruppe von Vampiren, die sich zeitweise zusammenschließt, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. In unserem Fall wäre das die Vertreibung des Sabbat aus der Stadt.“
Sie nickte und trank noch einen Schluck von diesem viel zu herben Wein aus Südafrika. Scheinbar schmeckte er ihr. Vielleicht hatte sie sich sogar den Namen behalten. Ich für meinen Teil leerte das Glas und bedankte mich bei Vincenze für alles. Viel Wein würde ich in nächster Zeit nicht zu trinken bekommen...