Hier nun, wie versprochen, Teil Drei der Vampir-Saga
"Von einem Krieg unter vielen"
von Jan Marvin
Wir saßen noch lange, bis in die Morgenstunden zusammen in ihrem Wohnzimmer und versuchten, die Dinge auszuwerten. Das heißt, Judith stellte Fragen und ich versuchte, sie geduldig zu beantworten und sie zu beruhigen. Natürlich war sie eingeschüchtert und ängstlich... Zuerst erzählt ein bekannter Nosferatu, dass sich Assamiten in der Stadt aufhielten, dann verbrennt mein Haus und als nächstes wird Jake, mein Ghul, durch einen Tzimisce derart gequält, dass ich ihn mit meinem eigenen Dolch niederstrecke. Wie hätte es jetzt noch schlimmer werden können?
Oh, es ging schlimmer...
„War das Fleischformen, was mit deinem Ghul passiert ist?“, fragte sie verunsichert.
„Ja. Der Polizist war ein Tzimisce, das alles war fingiert. Ich wette, ich bin nicht der einzige, dem so etwas heute Abend passiert ist.“
„Warum hast du Jake getötet?“
„Er wäre so oder so gestorben, ich habe nur seine Schmerzen beendet. Der Tzimisce hätte ihn noch stundenlang so leiden lassen können. Es wird mir ein Vergnügen sein, diesem Sadisten von einem Vampir das Herz aus der Brust zu reißen und es zu verspeisen.“
„Hör auf damit. Was werden wir als nächstes tun?“
„Erst einmal werden wir beide trainieren, um deine Fähigkeiten aufzudecken. Wir müssen dir morgen Abend unbedingt Blut besorgen, du hast in den letzten zwei Tagen viel zu wenig getrunken. Wenn wir das haben, kümmern wir uns um Assamiten, Tzimisce und das Feuer, das mein Haus zerstört hat.“
„Moment, du hast doch viel weniger getrunken als ich... warum redest du dann nur von mir?“
„Mein Körper kann mehr Blut speichern als deiner, außerdem verarbeitet er es besser. Du wirst lernen, mit deinem Blut umzugehen, sodass du nicht ständig trinken musst. Ich schlage vor, wir legen uns jetzt hin und schlafen. Die Sonne ist bereits aufgegangen, ich werde mich vorsichtshalber in den Bettkasten legen. Tu das am besten auch. Wir legen uns eine bequeme Decke hinein und schlafen.“
Sie nahm meinen Vorschlag an und versprach noch, die Vorhänge ihrer Wohnung gegen elektrische auszutauschen, die das Licht vollständig aus der Wohnung hielten.
Der Tag ihrer ersten richtigen Jagd war gekommen. Wir standen genau bei Sonnenuntergang auf, eine Folge dessen, dass kein Ghul da war, um uns zu wecken. Die Vorhänge ihrer Wohnung waren zwar zugezogen, allerdings verspürte ich dennoch ein Jucken auf der Haut, das bald einem Brennen wich. Ich begab mich – sie hinter mir her ziehend – ins Badezimmer und nahm mein Mobiltelefon zur Hand. Es waren mehrere neue Nachrichten eingegangen. Die erste war von Madame Sophie, sie wollte ihre Sorge ausdrücken und bot mir Zuflucht in ihrem Heim an. Die zweite Nachricht kam von Jack. Er meldete, dass einer seiner Ghule gestorben sei, die Zeichen würden auf Assamiten hindeuten. Ich öffnete das Telefonbuch und wählte den Eintrag ‚Sophie L. ‘, ein kurzer Signalton erklang, dann das Zeichen dafür, dass es klingelte.
„Malakai? Ist alles in Ordnung bei euch? Ich habe mir Sorgen gemacht.“
„Mit mir ist alles in Ordnung, Madame, mein Kind ist ebenfalls wohlauf. Meine Ghule sind tot, außerdem haben wir Tzimisce in der Stadt.“
„Was? Sabbat in Berlin? Kanntet ihr den Vampir?“
„Selbstverständlich nicht. Er hat meinen Ghul getötet, jetzt würde ich gern wissen, ob wir ein Krisentreffen einberufen sollten.“
„Ich werde den Prinzen sofort informieren, haltet euch bereit.“
„Ich danke euch.“
Dann legte ich auf.
„Judith, wir werden heute auf die Jagd gehen, doch leider müssen wir uns beeilen, wir haben nicht viel Zeit. Warte, vielleicht kann ich uns ein Blutpüppchen organisieren.“
„Ein was?“
„Blutpüppchen. Menschen, die freiwillig von sich trinken lassen. Ich habe selbst drei, aber nicht hier in Berlin.“
„Warum sollte das jemand tun?“
„Was würdest du tun, hättest du die Wahl zwischen Tod oder Blutpüppchen?“
Keine Antwort. Ich nahm wieder mein Telefon, diesmal rief ich Julio, auch ein Toreador, an und fragte ihn, ob er mir seine Herde zur Verfügung stellen könnte. Erst nach langem Reden und der Auswertung der Geschehnisse letzter Nacht willigte er ein, mir zwei Menschen zu ‚leihen‘. Wir vereinbarten, uns bei ihm einzufinden, er wollte sichergehen, dass seine Menschen unversehrt blieben.
Als wir gegen 21Uhr ankamen, erwartete Julio uns beide bereits, zusammen mit Maria und Thomas, seinen Herdenmitgliedern. Julio war ein etwas klein geratener Kerl, aber nett anzusehen, er hatte goldblondes Haar und aristokratische Züge. Er empfing uns in einem edlen Nadelstreifenanzug.
„Hallo Julio, welch Freude, dich wiederzusehen.“
„Heuchler.“ antwortete er lachend. „Das ist Judith? Sieht gut aus.“
„Ja, das ist sie. Sie bracht dringend Blut, ich könnte auch was vertragen, wir haben leider so gut wie keine Zeit, ich warte auf einen Anruf von Sophie.“
„Sophie? Ich verstehe. Na dann, bitte sehr.“
Judith sah mich ein wenig ungläubig an.
„Stell dich ihnen vor, wenn du möchtest. Du brauchst keine Angst haben, sie tun dir nichts. Trink.“, sagte ich in lehrerhaftem Ton.
Sie ging vorsichtig an Maria heran, wie eine Katze, die sich an ihre Beute heranpirscht. Maria stand einfach da und lächelte sie ermutigend an. „Judith, keine Angst um mich. Es tut nicht weh. Ich helfe dir damit. Du musst nur rechtzeitig aufhören, ich merke nicht, wenn ich Blut verliere.“
Judith atmete tief durch, dann legte sie Maria’s Haare zurück, um ihren Hals freizulegen. Sie fühlte den Hals ab und tastete nach der Halsschlagader, dann legte sie den Mund an... und setzte sofort wieder ab. „Ich kann das nicht.“, keuchte sie. Maria nahm ein kleines Messer aus ihrer Hosentasche und ritzte sich ins Handgelenk, sofort blutete die Wunde. Als Judith das Blut laufen sah, griff sie sofort zur Hand und fing an, zu trinken. Schnell, durstig, wie ein Verhungernder sog sie an der offenen Wunde von Maria’s Hand. Immer mehr, immer mehr versank Judith im Strom ihrer Gier, ihre Haut schien zu erzittern, sie trank und trank, bis Maria’s Haut anfing, zu erblassen. Ich ging hin und legte Judith meine Hand auf die Schulter, um sie aufhören zu lassen. Doch in dem Moment drehte sie sich um, fauchte mich an und versuchte, mich zu schlagen. Ich wich zurück und trat ihr gegen den Kopf. Maria schleppte sich bereits weg, Thomas und Julio halfen ihr. Judith konzentrierte sich jetzt voll auf mich. Sie wirkte wie ein aggressives Tier, bereit, seine Beute gegen alles und jeden zu verteidigen, der sich ihr in den Weg stellte. Ihre Augen zeugten von einem Raubtier, einem Monster in sich, das nur eines im Sinn hat: Fressen. Mit unmenschlicher Geschwindigkeit rannte sie auf mich zu, um sich auf mich zu werfen. Ich wich mit der gleichen Gewandtheit aus und versetzte ihr einen Tritt in den Rücken. Dann konzentrierte ich mich wieder auf ihren Geist und sprach „Still.“. Doch es nützte nichts, ihre Raserei hatte ihren Verstand völlig eingenommen und abgeschaltet. Julio, der etwas älter war als ich, schnellte zu uns hinüber und versetzte ihr einen Schlag, der einem Menschen sämtliche Knochen pulverisiert hätte. Nun, scheinbar tat er das auch bei meinem Kind, sie fiel sofort zu Boden. Wir trugen sie auf die Wohnzimmercouch in Julio’s Wohnung. Er hatte seine Zuflucht vollständig mit moderner Kunst möbliert. Alles war teils rund, teils eckig, meist aus Metall und Glas. Nicht hässlich, aber nicht mein Geschmack. Als sie ein paar Minuten auf der Couch gelegen hatte, wachte sie wieder auf und fragte, was passiert sei. Ich erklärte ihr, dass sie in den Zustand der Raserei gefallen ist und sich deshalb an nichts mehr erinnern kann. Ich erzählte ihr nicht, dass sie beinahe Maria getötet hätte und dies auch bei mir versucht hat, das hätte eine weitere Diskussion nach sich gezogen, wofür aber nun wirklich keine Zeit war.
„Ich habe Schmerzen.“
„Natürlich, Julio musste dir mächtig wehtun, damit du aufhörst. Hier, trink noch etwas, es ist frisch und noch warm, ich habe mich bereits gestärkt. Und versuche herauszufinden, wo genau die Schmerzen sind, konzentriere dich darauf und treibe dein Blut dorthin, das wird die Wunden heilen.“
Mein Telefon klingelte. „Lady Sophie?“
„Malakai, kommt sofort zum Elysium der Brujah, wir versammeln uns dort. Schnell.“
Abrupt beendete sie das Gespräch.
„Julio, du kommst mit, ich fahre uns hin. Maria, Thomas, danke für eure Hilfe, ich werde mich revanchieren. Und entschuldigt ihren Ausbruch, sie ist noch sehr jung.“
Maria lächelte schwach, aber man konnte Verständnis erkennen. Judith unterdessen musste sich vorkommen wie in einem Traumland, verlassen von der Realität, hineingepresst in eine Welt, die mit der ihr vertrauten nichts mehr gemein hat. Sie trinkt Blut, wandelt nachts, und alles, woran sie geglaubt hat, ist ins Gegenteil verkehrt.
Es war schon kurz vor Mitternacht, als wir am Brujah-Elysium ankamen. Das Elysium stellte ein kleiner Park mit einem Springbrunnen in der Mitte dar. Die Zugänge zum Park waren mit kleinen, aus Stein geschaffenen Figuren in Menschengestalt geschmückt. Allenfalls mittelprächtig, aber irrelevant. Ein paar Bäume säumten die Wege, einzelne Fichten und Ahornbäume standen frei verteilt auf den Grasflächen, und einige wenige Laternen tauchten die Stätte in ein bedrohliches Halbdunkel. Ein ruhiger Ort, fast angenehm, wären es nicht die Brujah, denen dieser Ort gehörte. Wie auch immer, wir kamen gerade noch rechtzeitig an, ich konnte den Prinzen zusammen mit den anderen Primogenen – das waren die Mitglieder des Erstgeborenenrates, sozusagen die Clansvertreter, zu denen auch Sophie gehörte – stehen sehen. Es waren einige andere Vampire anwesend, darunter ein paar Gangrel, zwei Nosferatu, auch Nikolai, einige Brujah, die bekannten Toreador und zwei Tremere. Sie alle stellten so etwas wie die wichtigsten Mitglieder der Domäne Berlin dar, da sie alle den größten Einfluss auf ihre Clanbrüder hatten. Ich gehörte trotz meines Alters auch dazu, da ich von Sophie zu ihrem Stellvertreter ernannt wurde. Ich war nicht der jüngste unter ihnen, so jung war ich auch nicht, ich denke, das Wissen Sophies um meine genetische Nähe zu Kain war ausschlaggebend. Nicht viele unter der Gruppe standen von der Erbfolge her Kain so nahe wie ich, was mich zu einem respektablen Mitglied machte.
In dem Moment, als wir eintrafen, bat der Prinz um Aufmerksamkeit.
„Kinder Berlins, unvorhergesehenes ist geschehen. Zwei Nächte zuvor wurden Assamiten von den Nosferatu entdeckt, in der letzten Nacht starben mehrere Ghule des Clans Toreador und Brujah, außerdem wurde die Zuflucht Malakais zerstört. Malakai konnte zudem berichten, dass auch Tzimisce in der Stadt sind. All dies lässt darauf schließen, dass der Sabbat den Dshihad, unseren heiligen Krieg, offen austragen will. Wir müssen damit rechnen, dass auch Lasombra anwesend sind und anfangen werden, uns zu jagen. Ich rufe hiermit die Blutjagd auf jeden Vampir aus, der einen der unseren angreift. Er soll gejagt und vernichtet werden, keine Gnade soll walten. Wer diese Kainskinder unterstützt, solle ebenfalls vernichtet werden. Niemand wird eine Strafe erhalten, sollte er Diablerie an einem dieser Vampire begehen, sie sind vogelfrei und haben kein Recht, auf unseren Straßen zu existieren. So sei es.“
Zustimmende Laute waren zu hören, einige Brujah und Gangrel jubelten sogar. Judith stand nur da und schaute den Prinzen fragend an.
„Blutjagd ist die Anweisung, einen bestimmten Vampir wegen eines Verbrechens zu jagen und zu vernichten. Sie ist die einzig legitime Form, ein Kainskind endgültig zu töten. Wenn dich also jemand angreift, brauchst du keinen Grund, ihn zu töten, dann hast du ihn. Du verfügst über außerordentliche Schnelligkeit, was dich für viele zu einem überlegenen Gegner macht. Wenn du einen Sabbatvampir in Raserei tötest, wirst du keine Strafe erwarten müssen.“
„Verstehe. Also haben wir einen offenen Krieg?“
„Mehr oder weniger. Selbst bei der Blutjagd müssen die Gesetze der Camarilla gewahrt bleiben, egal, was passiert.“
„Und was ist Diablerie, oder wie das hieß?“
„Diablerie, richtig. Diablerie nennt man es, wenn du einen anderen Vampir leer trinkst, um ihn zu töten und einen Teil seiner Kräfte aufnehmen zu können. Du kannst mit Diablerie sogar deine Generation, also deine genetische Nähe zu Kain, erhöhen und mächtiger werden.“
„Welche Generation bin ich denn?“
„Du bist ein Vampir der zehnten Generation, was nicht wenig ist. Du bist zwar nicht so mächtig wie ein Ahn, aber kaum ein junger Vampir kann dir etwas anhaben. Und übrigens: Es ist ein unglaublicher faux pas, einen anderen Vampir nach seiner Generation zu fragen, die nehmen einem das schnell übel.“
Es war also soweit. Wir mussten davon ausgehen, dass die Sabbatvampire Jagd auf uns machen würden. Ghule der Brujah und der Toreador wurden getötet, was bedeutete, dass der Sabbat wusste, dass diese beiden Clans die stärksten in Berlin waren. Auch mussten sie wissen, wer in der Stadt Vampir war und wer nicht. Sie waren uns einen Schritt voraus, und das gefiel mir nicht.
Alle in der Runde diskutierten nun, was sie tun würden und was nicht, wen sie um Hilfe bitten würden und wen auf keinen Fall, ich selbst ging direkt auf Sophie zu.
„Madame, könnte ich euch kurz sprechen?“
„Aber sicher, Malakai.“ antwortete sie in ihrem gewohnt beherrschten Ton.
Als wir uns ein Stück vom Mob entfernt hatten, winkte ich Judith zu uns rüber, sie sollte wissen, was ich denke.
„Sophie, ich fürchte, es gibt den einen oder anderen Spitzel unter uns. Wir müssen herausfinden, wer das ist. Ich schlage vor, wir lassen die Nosferatu das ganze übernehmen. Gangrel und Brujah sollen Wache spielen, während wir uns gegenseitig schützen und herausfinden, was hinter den Angriffen steckt.“
„Ein ausgezeichneter Vorschlag, ich habe das gleiche gedacht. Aber glaubt ihr, dass es einen besonderen Grund für die Angriffe gibt?“
„Assamiten, Tzimisce, vielleicht sogar Lasombra. Muss ich noch mehr sagen?“
„Ich verstehe, worauf ihr hinauswollt. Ich werde dem Prinzen sagen, was ihr denkt. Mal sehen, was er dazu sagt.“
Sie drehte sich um und ging, als plötzlich Ben aus der Verdunklung auftauchte. Judith erschrak regelrecht, ich war das mittlerweile so gewöhnt, dass ich ihn kaum beachtete.
„Ich bin Ben.“, sagte er, als wäre er ein kleines Kind.
„Und wer bist du?“, fragte er Judith im selben Ton.
„Ich bin Judith von den Toreador. Welchem Clan gehört ihr an?“
„Ich bin Ben.“
„Er ist Malkavianer.“, redete ich dazwischen. „Was gibt es denn, Ben?“
„Wir sind in Gefahr. Sie werden uns jagen und vernichten.“
„Richtig, Ben, was meinst du dazu?“
„Ich glaube, wir sollten gegen sie kämpfen.“
Dann verdunkelte er sich wieder. Ich konzentrierte mich auf die Umgebung und versuchte, ihn mit den Augen verfolgen zu können. Erst funktionierte es, ich konnte seine Aura erkennen, doch dann verschwand sie in der Menge. Diese Fähigkeit ist als Auspex bekannt, sie gibt einem Vampir die Möglichkeit, Dinge wahrnehmen zu können, die Menschen nicht erkennen würden. So zum Beispiel die Aura eines Verdunkelten.
Es wurde verbissen weiterdiskutiert, stellenweise wurde es auffällig laut. Der Prinz versuchte, die Menge zu beruhigen, um die Maskerade zu wahren, was dann auch funktionierte. Julio und Jack Black kamen zu mir herüber. Jack trug seine bevorzugte Kleidung: Ein dunkles Jackett, darunter ein leuchtend pinkfarbenes Hemd ohne Schlips. Geschmacklos bis zur Unendlichkeit, aber nichts, worüber man debattieren müsste.
„Hey, Malakai, Mist wegen deinem Haus, was?“, meinte Jack.
„Das kannst du laut sagen.“, erwiderte ich gelassen.
„Du kannst bei mir wohnen, wenn du möchtest, ist kein Problem für mich.“
„Danke, Jack, das weiß ich zu schätzen. Ich habe aber schon eine Zuflucht.“
Ich erzählte ihm noch von dem Angebot Madame Sophies und verabschiedete mich alsbald. Ich bedeutete Julio, mitzukommen, ich hatte vor, Sophie’s Zuflucht aufzusuchen.
Alles war dunkel, als wir ankamen. Das in barockem Stil gehaltene Herrenhaus stand da wie ein Monument der Unendlichkeit. Nichts und niemand schien diesem Haus etwas anhaben zu können, gleichzeitig zeugte das Bauwerk vom erlesenen Geschmack der Madame. Der Eingangsbereich war ein kleines Rondell, zentriert von einem kleinen, runden Blumenbeet, Stiefmütterchen, Petunien, in der Mitte eine kleine Blautanne. Das Gemäuer des Hauses wirkte, als wäre es Jahrhunderte zuvor errichtet worden, mit der gleichen Meisterhand, wie die Architekten es schon damals taten. Jedes der vielen Fenster an der Frontseite hatte einen massiven Sims, jedes dritte war ein kleiner Balkon mit einem Gusseisengitter geschmückt. Genau über der Eingangstür schwebte ein großer Balkon, eher eine Terrasse, mit marmorierten Säulen geschmückt, welche die Decke stützten. Die Eingangstür erinnerte an Kirchentore, mit Eisen beschlagen und kunstvoll ausgeschmückt. Eine außerordentlich respektable Bleibe, dachte ich bei mir. Ich drehte mich zu Judith um, um sie zu fragen, was sie denn davon hielt, jedoch stand sie nur starr da und sah sich das Haus an. Nicht das jetzt auch noch...
„Judith?“
Keine Reaktion.
„Judith, wir müssen rein.“
Wieder nichts. Dann schlug ich ihr mit der flachen Hand kräftig vors Gesicht, woraufhin sie sich schüttelte und mich verdutzt ansah. „Was ist denn? Ist das nicht wunderschön?“
„Ja. Sieh nicht hin, folge mir einfach.“
Als wir drinnen waren, fragte sie mich, warum ich sie geschlagen habe.
„Setz dich.“
Sie nahm auf einer hölzernen Bank platz. Der Boden knallte unter jedem Schritt, man konnte ein tausendfaches Echo hören. Das Haus wirkte von außen schon gewaltig groß, doch von innen war es gigantisch. Keramikplatten bildeten den Boden, allesamt marmoriert, in verschiedenen Farben. Die Wände waren in einem warmen Terracotta-Ton gestrichen, Säulen säumten die Gänge, zwischen fast jeder Säule war irgendein Kunstwerk aufgestellt oder aufgehängt. Ich konnte vom Hauptgang aus einige Werke van Goghs und Dürers entdecken, dazu eine Statue aus den Händen Michelangelos. Sehr beeindruckend. Direkt vom Eingang aus führte eine breite Treppe nach oben, wahrscheinlich zu den Schlafgemächern. Das Haus muss ein Vermögen gekostet haben.
„Hör mir jetzt gut zu, das ist überlebenswichtig. Du weißt, dass wir Toreador verliebt in die Kunst sind. Du weißt auch, dass jeder von uns versucht ist, Kunst zu schaffen oder Kunst zu haben. Und genau das ist das Problem: Wenn uns etwas wirklich beeindruckt, fasziniert, wenn etwas so schön ist, dass es schon fast wehtut, können wir uns nicht mehr davon losreißen, wir verfallen der Schönheit. Das ist an sich nicht so schlimm, aber es ist nicht nur einmal vorgekommen, dass ein Toreador im Kampf getötet wurde, weil er eine Statue oder etwas in der Art unwiderstehlich fand. Wenn du also merkst, dass einer von uns starr dasteht und sich nicht mehr rührt, tu ihm weh. Irgendwie. Er muss es aber merken. Er wird es dir nicht übel nehmen, da wir alle das Schicksal teilen. Du warst von dem Haus so angetan, dass ich dich schlagen musste.“
„Und was verheimlichst du mir noch so alles?“
„Alles zu seiner Zeit, Liebes. Ich verheimliche dir rein gar nichts. Ich halte es nur für unnötig, deinen Verstand mit Informationen zu überladen. Wie nannten die Engländer das? Learning by Doing?“
Etwas lenkte meine Aufmerksamkeit von Judith auf die Treppe. Es war ein feiner Geruch, der aus Richtung des zweiten Stockwerks kam. Süßlich... bitter... von einem Lebewesen... es war Blut. Ich konnte das Blut bis hier herriechen. Entweder hatten sich meine Sinne verschärft, oder jemand hatte derart viel Blut verloren, dass man es nicht ignorieren konnte. „Folge mir.“, sagte ich leise zu Judith.
Schritt für Schritt gingen wir die marmorierte Treppe hinauf, wir versuchten, so leise wie möglich zu sein. Die Pflanzen, die an beiden Seiten der Treppe standen, wehten leicht im Wind, der durch das Haus zog. Die Treppe führte einmal im Kreis herum auf das Obergeschoss, sodass man nicht gleich sehen konnte, ob etwas da oben war. Ich ging also die Treppe rückwärts hoch, dann weiter vorwärts, bis ich den seitlich zur Treppe verlaufenden Gang erreichte. Judith war dicht hinter mir, sie war jederzeit bereit, zu kämpfen, das sah ich ihr an. Plötzlich spürte ich, wie der Boden unter mir rutschig wurde, als würde man barfuß durch einen frisch benutzten Duschraum gehen. Ich sah nach unten und musste mich beherrschen, nicht zu erschrecken: Der Boden war vollkommen mit Blut bedeckt. Ich kniete mich hin, berührte das Blut und leckte daran und stellte fest, dass das Blut von Menschen und Ghulen war. Meine Nerven, hätte ich denn noch welche, wären zum Zerreißen gespannt gewesen. Aber auch so machte sich großes Unbehagen in mir breit. Ich lugte um die Ecke in den völlig unbeleuchteten Gang, der nur durch das Mondlicht erhellt wurde, konnte jedoch nichts sehen. Der Versuch, Auspex anzuwenden, fruchtete schon mehr. Ich konnte eine schwache Aura erkennen, die in einem der Zimmer war. Leider kannte ich diese Aura nicht, jedenfalls habe ich sie noch nie gesehen, was mich noch mehr beunruhigte. Langsam bewegte ich mich den Gang entlang, dicht gefolgt von Judith. Ich hätte schwören können, dass sie zitterte. Der vom Blut durchnässte Boden machte schnalzende Geräusche, als ich hindurchwatete, dem Zimmer immer näher kam. Plötzlich sprang eine dunkle Gestalt aus dem Zimmer, in dem ich die Aura entdeckt hatte. Die Gestalt zertrümmerte dabei die gesamte Tür, fiel auf den Boden, rollte sich geschickt ab und sah mich an. Ich konnte erkennen, dass es eine Frau war, wahrscheinlich ein Vampir, aber das konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Sie nahm langsam ein langes Messer aus der an ihrem Gürtel befestigten Scheide und leckte daran, dann schlug es mir ins Gesicht: Assamiten! Sie hatten die Fähigkeit, ihr Blut mit Gift anzureichern, was sie dann auf Nahkampfwaffen auftrugen. Mein Gegner hatte nicht am Messer geleckt, sondern sich die Zunge aufgeschlitzt, um Gift auf das Messer laufen zu lassen. Dann griff sie an.
Alles ging unheimlich schnell. In einem weiten Ausfallschritt setzte sie nach vorne, um mich zu überraschen, doch ich wich aus und versuchte, ihr in die Seite zu treten. Durch ihren Schwung viel sie zu Boden und wurde in einer unglaublichen Geschwindigkeit gegen die Wand geschleudert. Judith hatte sie gepackt und geworfen. Die Assamite sprang gekonnt auf und warf das Messer nach Judith, doch sie fing es im Flug ab und schleuderte es zurück. Ein Schrei ertönte, als das Messer die Brust der Assamite durchschlug. Blut spritzte förmlich aus der Wunde, sie muss sehr viel getrunken haben für diesen Auftrag. Ihr Blick war hasserfüllt, als sie sich aufrappelte, um wieder anzugreifen. Diesmal kam ich Judith zuvor, ich setzte meine Schnelligkeit und meine Kraft ein, um auf sie zu springen und auf den Boden zu drücken, was mir im ersten Moment auch gelang. Doch in einer blitzschnellen Bewegung drehte sie sich um und warf ihren Kopf an meinen. Ich wurde durch die schiere Wucht ihrer Attacke zurückgeworfen und landete hart erst an der Wand, dann am Boden. Judith unterdessen machte eine verwirrend schnelle Kombination aus Tritten und Schlägen, die selbst die Assamite zu beeindrucken schien. Ein kräftiger Rückhandschlag im richtigen Moment schickte Judith jedoch jäh zu Boden. Ich stand auf und rannte wieder auf sie zu, doch diesmal würde sie nicht erwarten, was ich tat. Sie holte bereits zum Schlag aus, ich stoppte außerhalb ihrer Reichweite, rollte tief nach vorn und tauchte direkt vor ihrem Gesicht wieder auf. Dann nahm ich ihren Kopf zwischen meine Hände, hielt ihre Ohren fest und begann, sie nach rechts und links zu wirbeln, bis ich genug Schwung hatte, um sie der Schwerkraft zu entreißen. Als sie abhob, ließ ich los; sie flog hoch in den Gang hinein und wurde plötzlich hart mit einem Wirbeltritt an die Wand befördert. Ich konnte etliche Knochen brechen hören. Die Assamite keuchte auf, dann hörte ich, wie sie tief ein- und wieder ausatmete. Ich eilte zu ihr, nahm mir das Messer, das auf dem Boden lag und schwang es quer über ihren Hals. Sie schrie auf, gluckste, dann lief das Blut in Strömen an ihr herunter. „Judith, suche einen Pflock!“ rief ich.
„Irgendwas langes, dünnes aus Holz! Schnell!“
Nur wenige Momente später kam sie wieder mit einem kunstvoll geschnitzten Holzpflock. Die Assamite hatte inzwischen fast ihr ganzes Blut verloren, nachdem ich ihr mit dem Messer zusätzlich in den Bauch gestochen hatte. Ihr Lederoutfit war vollkommen durchnässt von dunklem Blut. Ich nahm den Pflock entgegen und sah ihr in die kalten, grauen Augen. „Für wen arbeitest du?“
„Du kannst mich mal.“
„Ich bin noch freundlich zu dir, Assamit. Mein Prinz wird es nicht sein. Für wen arbeitest du?“
„Töte mich.“
„Wenn ich dir damit einen Gefallen tun kann, bitte sehr!“
Ich rammte den Pflock mit größtmöglicher Kraft in ihre Brust, ich konnte einen weiteren Knochen brechen hören, dann stöhnte sie auf und fiel in sich zusammen. Jetzt lag sie in ihrer Starre und würde keine Gefahr mehr darstellen. Dann nahm ich ein kleines Fläschchen aus meiner Jacke und füllte es mit ihrem Blut, ich verschloss die Flasche fest und steckte sie wieder ein.
„Was machst du da?“ fragte Judith verwundert.
„Ich nehme ihr Blut an mich. Du erinnerst dich doch, dass ich dir echtes Vampirblut eines toten Kainskindes gegeben habe, oder?“
„Ja. Aber sie lebt noch.“
„Nicht, wenn der Prinz mit ihr fertig ist. Wenn er sie laufen lässt, werfe ich das Blut weg, andernfalls binde ich mich an sie, geistig gesehen, und das will ich nun wirklich nicht.“
„Ich verstehe. Kannst du für mich auch etwas mitnehmen?“
„Such dir ein Fläschchen wie meines, das man gut verschließen kann, dann komm her. Aber beeil dich, bald ist sie blutleer, das vermischte Blut vom Boden ist nicht gut.“
Unerwartet ging das Licht an. Die grandios gebauten Kronleuchter erhellten den gesamten Flur, und mir offenbarte sich ein Bild, dass ich lieber nicht gesehen hätte: Der Boden war in so tiefes Rot getaucht, dass man meinen könnte, das Blut wäre mehrere Meter tief. Ohne daran zu denken, wer das Licht eingeschaltet haben könnte, ging ich in das Zimmer, in dem sich die Assassine zuletzt befunden hatte. Die Tür, die von der Assamite zerstört wurde, war aus massivem Eichenholz gefertigt, eine unglaubliche Kraft war nötig, um diese derart zuzurichten. Als ich durch die zertrümmerte Tür trat, watete ich weiter durch Blut. Der Teppich war völlig mit dem Vitae getränkt, und jetzt erkannte ich auch die Quelle des roten Saftes. Auf dem Himmelbett, das von feinsten Tüchern behangen war, lagen zwei Leichen, wahrscheinlich Ghule, das konnte ich nicht genau sagen. Auf dem Bett, an den Wänden, den Stühlen und Kommoden, überall klebte der Lebenssaft.
Schritte kamen die Treppe herauf. Schnelle, eilige Schritte, nahezu stürmisch. Es waren Frauenschuhe, nicht diese modernen, ältere. Die Schritte verklangen, als die Dame das Obergeschoss erreichte, dann knallten sie weiter auf den Bodenplatten. Ich drehte mich um und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Lady Sophie kam mit wildem, entschlossenen Blick in das Zimmer, hatte sogar eine Pistole in der Hand. Ein Bild, dass ich von ihr ganz und gar nicht gewöhnt war. Ihre Haare waren durcheinander, ihr Kleid zerwühlt... Ganz das Gegenteil der edlen Madame, allerdings ließ die Situation wohl auch kaum etwas anderes zu. Ihre Wildheit wich Überraschung, als sie mich erkannte.
„Malakai! Was ist hier los!“, schrie sie voller Entsetzen.
„Madame, beruhigt euch. Die gepflockte Dame da draußen, ihr habt sie ja schon besichtigt, ist eine Assamite. Sie hat eure Ghule und wahrscheinlich auch die Herde getötet und dieses... Blutbad angerichtet. Ach so, entschuldigt, aber ich musste euren Pflock nutzen, um sie zur Strecke zu bringen. Lasst uns doch in den Salon gehen, dort riecht es angenehmer.“
Ich spürte plötzlich einen starken Drang, weiter erzählen zu müssen, als würde eine fremde Macht von meinem Geist Besitz ergreifen. Sophie sah mich durchdringend und mit eisigen Augen an. „Sprich“, sagte sie.
„Ich kam hier herein und wollte mich weiter mit Judith unterhalten, ich roch Blut, das offen im zweiten Stockwerk sein musste, also ging ich die Treppe hinauf, um nachzusehen. Als ich die Treppe hinaufgegangen war, griff uns die Assamite an, wir setzten sie außer Gefecht, danach untersuchte ich das Schlafgemach und fand eure beiden toten Ghule und das Blut. Dann kamt ihr bereits.“
Die fremde Macht, die sich meines Geistes bemächtigt hatte, ließ mich frei. „Ihr habt kein Vertrauen zu mir, Madame?“, fragte ich neutral.
„Das ist es nicht, werter Malakai. Ihr habt nur den Drang, Dinge zu untertreiben. Ich musste alles wissen.“
„Nun, das nächste Mal braucht ihr eure Beherrschung nicht anwenden, da ich euch nie anlüge. Solltet ihr das noch öfter tun, muss ich euer Vertrauen in Frage stellen. Auch öffentlich.“
Mit diesen Worten verließ ich das Zimmer und entdeckte Judith gedankenverloren auf dem Flur stehend. Sie beobachtete die Assamite eingehend. Vielleicht starrte sie auch unbewusst auf sie, das konnte ich nicht eindeutig erkennen.
„Judith, alles in Ordnung? Hast du Schmerzen? Bist du verletzt?“
„Nein, ich habe... ich habe meine Wunden geheilt. Das ist es nicht.“
„Was dann? Red mit mir, ich kann dir helfen.“
„Lass uns hier verschwinden, bitte.“
Leider war das in diesem Moment nicht möglich, es gab viel zu viele Dinge zu klären. Warum töteten die Sabbatvampire, oder in diesem Fall, die Assamiten, die Ghule der Toreador? Warum richteten sie derartige Blutbäder an? Warum griffen sie auf ein Mal, und so massiv an? Ich sagte zu Judith, sie solle nach Hause fahren, aber das lehnte sie ab, sie fühlte sich allein nicht sicher, sagte sie. Nun, das konnte ich verstehen, bisher wurde kaum jemand von uns verschont, viele sichere Orte gab es wohl tatsächlich nicht mehr. Ich jedenfalls fasste den Entschluss, bei Sophie zu bleiben. Auch wenn sie mir nicht vertraute, sie musste geschützt werden. Sie war zu wichtig für die Camarilla. Und ich fasste den Entschluss, ab jetzt eine Pistole zu tragen...