Oxana - Wege des Gewissens

  • Hallo Stev, wieder eine tolle FS. Ich denke, Oxana hat die rechte Entscheidung getroffen, Kinga fortzuschicken. Was sie getrieben hat, ist ja schon weit über jugendlichen Leichtsinn und "Austesten" hinaus gegangen :(


    Dass sie Dominics Antrag bisher noch nicht angenommen hat, verstehe ich nur teils. Sie sind so sehr füreinander gemacht. Aber vielleicht hat sie recht, er könnte ihr den Fehltritt ewig vorhalten.



    Du machst immer tolle Bilder, die Geschichte ist superschön. Nur einen kleinen Punkt hätte ich, der mich manchmal stört, nämlich dass Deine Sims so oft dasselbe tragen (wie Klaudia, die schon seit dutzenden FS dieselben Kleider anhat usw.) Das lässt es ein bißchen weniger realistisch wirken, was ich etwas schade finde, weil Du Dir mit den Kulissen usw. immer so riesige Mühe machst und alles so echt ausschaut :)


    Aber das ist wirklich nur ein wiiiinziger Punkt. :)

  • Kapitel 140: Verluste



    Und wieder fuhren meine Gefühle Achterbahn. So konnte es einfach nicht weiter gehen. Wenn ich nicht endlich eine Entscheidung traf, dann würde ich noch durch drehen. Tristan und Kasimir brachen auf zur Zentrale der Ölgesellschaft und ich zog mich um und ging hinaus auf die Plantage. Doch wenn ich alleine war, dann musste ich ständig an Kinga denken und auch das bekam mir auf Dauer nicht gut. Goya begleitete mich, nicht länger sauer, dass ich sie aus dem Haus verjagt hatte, und half mir nach Schädlingen in den Zitrusbäumen Ausschau zu halten.



    Ich blieb den ganzen Tag auf der Plantage. Als ich am Abend in die Simlane zurückkehrte, saß Kasimir bereits missmutig auf dem Sofa. "Wie ist die Sitzung verlaufen?", fragte ich vorsichtig, da ich bereits ahnte, dass die Antwort nicht positiv ausfallen würde. Kasimir stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. "Die Gesellschaft steht kurz vor dem Bankrott. Durch die Steuer ist unser Öl viel zu teuer. Keiner will es mehr kaufen. Wir versuchen erstmal, die Krise auszusitzen. Alle Bohrtürme wurden still gelegt, auch hier in der Sierra Simlone, um die laufenden Kosten zu senken. Wir können nur hoffen, dass das Simnistrische Wirtschaftsministerium nur die Muskeln spielen lassen wollte."



    Das waren keine guten Nachrichten. "Die Welthandelsorganisation wird doch sicher eingreifen. So eine Steuererhöhung kann nicht rechtens sein", erwiderte ich. Doch Kasimir schnaufte nur verächtlich. "Also ob sich Simnistrien je darum geschert hätte, was die WTO oder die Vereinten Nationen sagen. Ach egal, sei‘s drum. Tristan und ich sind fürs erste beurlaubt, unbezahlt versteht sich."



    "Wo ist Tristan denn überhaupt?", fragte ich und Kasimir deutete auf das Arbeitszimmer. Mein langjähriger Freund und Mitbewohner saß am PC und schrieb eifrig e-mails. "Alles in Ordnung?", erkundigte ich mich besorgt. Tristan antwortete eine Weile nicht, sondern starrt nur auf den Bildschirm. Dann schüttelte er den Kopf. "Nein Oxana, nichts ist in Ordnung. Morgen wird bekannt, dass die SimÖl die Förderung eingestellt hat. Die Aktienkurse werden ins Bodenlose stürzen." Ich verstand zunächst nicht, warum Tristan sich deswegen solche Sorgen machte. Was kümmerte uns die Börse?



    "Oxana, wir verlieren dadurch unser ganzes Geld! Du hattest mich nach der Scheidung doch gebeten, deine Ersparnisse zu verwalten. Ich hab es an der Börse angelegt. In Aktien der SimÖl. Morgen werden sie nichts mehr wert sein." Geschockt sah ich ihn an. "Und du kannst nichts dagegen tun?", fragte ich fassungslos. Tristan seufzte schwer. "Ich versuche gerade zu retten was geht, aber ich will ehrlich sein, Oxana, ich fürchte, dass ich nichts mehr tun kann." Tristan wagte es nicht, mich anzusehen. Er hatte gerade nicht nur sein Geld verloren, sondern auch meins und das belastete ihn noch schwerer.



    "Es tut mir leid, Oxana. Es tut mir so wahnsinnig leid", flüsterte er. "Aber das Haus ist sicher, ebenso dein Land. Ich habe nur deine Ersparnisse angelegt, das versichere ich dir." An das Haus hatte ich gar nicht gedacht, aber ich war erleichtert, dass ich mir darum keine Sorgen machen musste. Nur Tristan sah immer noch so aus, als ob er jeden Moment zusammenbrechen würde.



    "Das ist doch nicht deine Schuld Tristan", tröstete ich meinen Freund. "Niemand konnte ahnen, dass so etwas passiert. Ich weiß doch, dass du mein Geld nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt hast. Und es ist doch nur Geld, solange die Farm sicher ist, ist alles nur halb so schlimm. Wir müssen den Gürtel jetzt etwas enger schnallen, aber es wird sicher bald wieder aufwärts gehen." So ganz glaubte ich meinen Worten selbst nicht, aber Tristan fühle sich nach dieser Ansprach zumindest etwas besser.





    "Warte doch erst ab, wie sich die Börse entwickelt", redete Kasimir auf mich ein. Wir lagen zusammen auf dem Bett und er nahm mich in den Arm. Ich wusste, dass es falsch war. Es war Dominik gegenüber einfach nicht fair, aber ich brauchte eine Schulter, an die ich mich anlehnen konnte. Mein schlechtes Gewissen Kinga gegenüber lastete seit Wochen auf mir und jetzt kamen auch noch die finanziellen Probleme hinzu.



    So nah waren wir uns schon lange nicht gekommen und Kasimir nutzte die Gelegenheit, um intim zu werden. Seine Hand rutschte unter mein Leibchen und berührte mich. Doch ich konnte das nicht. Ich griff seine Hand und schob sie bestimmt fort. Hastig richtete ich mich auf und setzte mich auf die Kante des Bettes "Kasimir, es tut mir leid", flüsterte ich und meinte diese Worte ernst. Er erwiderte darauf nicht, sonders starrte enttäuscht und frustriert an die Wand vor ihm. "Ich schlafe heute in Kingas Zimmer", erklärte ich ohne ihn anzublicken und verließ das Schlafzimmer.



    Warum tat ich das bloß immer wieder? Warum verletzte ich bloß immer alle Menschen um mich herum? Kasimir liebte mich und ich stieß ich von mir weg. In gewisser Weise betrog ich ihn sogar mit Dominik. So durfte es nicht weiter gehen. Wie so oft in letzter Zeit, kuschelte ich mich in Kingas Bettdecke. Beim Gedanken an meine Tochter stiegen mir die Tränen in die Augen. Auch sie hatte ich nicht so lieben können, wie sie es verdient hatte. Warum tat ich allen Menschen um mich herum immer nur weh?





    Obwohl ich schon kurz nach Sonnenaufgang wach wurde, blieb ich noch lange im Bett liegen. Erst als ich Klaudias Schulbus hörte, entschied ich mich dazu, das Bett zu verlassen. Das Haus lag vollkommen still da. Ich nahm mir eine Handarbeitszeitschrift und begann einen Artikel über das Häkeln von Tischdecken zu lesen. Eigentlich interessiert es mich nicht, aber es lenkte mich ab. "Morgen Oxana", begrüßte Tristan mich, als er mit der Morgenzeitung in der Hand das Haus betrat. "Hattest du etwa Streit mit Kasimir?", fragte er neugierig.



    Ich legte die Zeitschrift beiseite und Tristan setzte sich zu mir auf das Sofa. "Streit würde ich es nicht nennen", antwortete ich wahrheitsgemäß. "Aber ich fürchte, ich hab Kasimir in den letzten Wochen genügend Gründe gegeben, um wütend auf mich zu sein." "Ja, er war ziemlich angepisst", bestätigte Tristan. "Deshalb ist er auch ganz früh am Morgen zur Herde rausgefahren. Darum musst dich also nicht kümmern." Ich wusste nicht, ob ich darüber wirklich froh sein sollte. Die Arbeit auf der Farm war nämlich eine willkommene Ablenkung.



    "Willst du darüber reden, was dich bedrückt?", fragte Tristan einfühlsam. "Ich merke doch, dass Kasimir und du schon seit Wochen Probleme habt." Ich schluckte schwer. Sollte ich wirklich mit Tristan besprechen, dass ich mich zwischen Kasimir und Dominik nicht entscheiden konnte? Schließlich entschied ich mich dagegen. Tristan war zwar ein enger Vertrauter, aber seine Auffassung von Beziehung, Liebe und Treue unterschied sich so sehr von meiner, dass ich nicht glaubte, von ihm eine Lösung für mein Problem zu erhalten.



    Tristan kannte mich gut genug, um nicht weiter nachzuhaken. Ich hielt mich aus seinen Liebesangelegenheiten heraus und er sich aus meinen. So handhabten wir das nun schon seit Jahren und waren damit beide gut gefahren. Er nahm die Fernbedienung und schaltete den Nachrichtensender ein. "Dann wollen wir doch mal schauen, wie schlimm die Lage wirklich ist", seufzte er. Und die Lage war schlimm. Der SNAX war über Nacht um fast 10 % eingebrochen. Nach Bekanntgabe des Förderstopps bei der SimÖl brach die Aktie binnen Stunden um über 80 % ein. Tristan und ich konnten nur fassungslos mit ansehen, wie unsere Ersparnisse sich in Luft auflösten.



    Tristan hatte versuchte zu retten, was zu retten war und verkaufte den Großteil unserer Aktien, bevor sie vollständig an Wert verloren. Niemand glaubte, dass die Aktienkurse in den nächsten Monaten wieder steigen würden, denn der Ton zwischen der SimNation und Simnistrien wurde Zusehens schärfer. Am Ende blieben uns von einem Aktienwert von fast 50000 § knapp 2500 §. Mein Mitbewohner zog sich blass wie eine Wand in die hinterste Ecke des Gartens zurück. Ich hatte Tristan noch nie so niedergeschlagen erlebt.



    Der Verlust des Geldes machte mir erstaunlich wenig aus. Wahrscheinlich hatte ich in letzter Zeit zu viele Verluste verkraften müssen, als das ich mir den Kopf des Geldes wegen zerbrach. Tristan hingegen hockte stundenlang auf der Stiege zum Whirlpool, mitten in der Mittagssonne, und es sah nicht so aus, als ob er bald wieder ins Haus kommen würde. Sonst war Tristan immer derjenige, der mich aus einem tiefen Loch zog, doch diesmal brauchte er Hilfe. Aber nicht von mir, sondern von dem Mann, den er liebte. Ich rief Frank an und bat ihn, so schnell es ging zu kommen. Und allein der Anblick seines Freundes genügte, damit Tristan in Tränen ausbrach und sein Gesicht in Franks Schulter vergrub. Frank brauchte nichts zu sagen. Es genügte, dass er Tristan in dieser schweren Stunde Trost spendete.



    Ich beobachtete die beiden durchs Küchenfenster hindurch. Tristan wirkte nach wie vor sehr niedergeschlagen, aber immer wieder huschte ab und an ein Lächeln über sein Gesicht. Die beiden liebten sich, gar keine Frage, und das obwohl Tristan sein Bett immer wieder mit anderen Männern teilte. Und bei diesem Anblick wurde mir bewusst, wie einsam ich war, wie sehr ich mich nach wahrer Liebe sehnte.

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  • Kapitel 141: Herz oder Vernunft?



    Ich griff nach meinen Schlüsseln auf dem Küchentresen und verließ fluchtartig das Haus. Nur mit Mühe gelang es mir, die Tränen zu unterdrücken. Ich war so durcheinander, dass ich gar nicht realisierte, wohin ich lief. Und schließlich stand ich auf "Norman", Gerdas Farm. Verwirrt blickte ich mich um und brauchte einige Minuten um zu erkennen, wo ich war. Allerdings bemerkte mich bereits Elvira durch die gläserne Haustür hindurch.



    Mit einem Teller Waffeln in der Hand blieb sie mitten in der Küche stehen und beobachtete, wie ich orientierungslos immer wieder auf das Haus zuging und mich von ihm entfernte. "Mama", rief sie, "Tante Oxana steht vor dem Haus. Aber sie verhält sich irgendwie seltsam. Ich glaube, du solltest mal nach ihr sehen."



    Meine beste Freundin Gerda war gerade damit beschäftigt, das Badezimmer zu putzen. Es war nicht leicht ein Haus, das von fünf Personen, drei davon Männer, bewohnt wurde, sauber zu halten. Dass die Arbeit auf der Farm nicht gerade sauber war, machte es nicht einfacher. Sie hörte Elviras Rufen, stellte den Mopp beiseite und wischte sich mit dem Handrücken eine Strähne aus dem verschwitzten Gesicht. Elvira klang ernsthaft besorgt, also war es wohl besser, wenn sie mal nachsah.



    Gerda erkannte auf den ersten Blick, wie aufgelöst ich war. Sie wollte mich gerade ins Haus bitten, als meine Beine nachgaben und ich beinah hinfiel. Doch Gerda packte mich fest am Arm und hielt mich so auf den Beinen. "Ist schon in Ordnung, Oxana", redete sie auf mich ein und klopfte mir auf den Rücken. "Nach einer starken Tasse Kaffee geht es dir sicher gleich besser."



    Gerda führte mich in Wohnzimmer und ich nahm auf dem Sofa Platz. Sie ging kurz in die Küche und kehrte mit zwei Tassen frisch aufgebrühten Kaffee zurück. Ich nahm einen tiefen Schluck und augenblicklich ging es mir besser. Gerda blickte mich auffordernd an. "Jetzt erzähl schon, Oxana. Wo drückt denn der Schuh?" Wie so oft wollte ich zunächst abwinken und so tun, als ob alles in Ordnung sei, aber wozu hatte man Freunde, wenn man sich ihnen nicht anvertrauen konnte. "Ich liebe zwei Männer", antwortete ich also und fügte ein kleinlautes, "Wieder einmal", hinzu.



    Nun war es an Gerda einen tiefen Schluck vom Kaffee zu nehmen. Wir waren nun schon seit Jahren befreundet, aber es viel mir schwer, dieses Thema Gerda gegenüber anzusprechen. Immerhin hatte ich eine Affäre mit ihrem Mann gehabt. Und auch wenn dies nun schon 15 Jahre zurück lag, so schämte ich mich ihr gegenüber dafür. Gerda setzte die Tasse wieder ab und zu meiner Erleichterung erkannte ich keinen Vorwurf in ihren Blick. "Der eine Typ wird wohl Kasimir sein und wer ist der zweite Glückliche, der dein Herz erobert hat?", fragte sie.



    "Es ist Dominik. Er...er hat mir einen Heiratsantrag gemacht als ich mit ihm aus Warschau zurück gekommen bin. Ich war so überrumpelt, dass ich abgelehnt habe. Immerhin war und bin ich doch mit Kasimir zusammen. Wie sollte ich da annehmen? Ich hab ihm gesagt, dass ich nachdenken muss." "Aber du liebst Dominik, nicht wahr?", fragte Gerda. Ich nickte. "Wo liegt dann dein Problem? Trenn dich von Kasimir und nimm Dominiks Antrag an. Ich verstehe ohnehin nicht, was dich bei Kasimir hält."



    Gerda hatte meine Beziehung zu Kasimir nie gutgeheißen. Ich konnte sie sogar verstehen, denn immerhin war Kasimir als stadtweiter Weiberheld bekannt und vor vielen Jahren hatte er auch mich ausgenutzt. Aber ich war nun schon seit über drei Jahren mit ihm zusammen und auch wenn er anderen gegenüber oft unangenehm war, so hatte ich nie daran gezweifelt, dass seine Absichten mir gegenüber dieses Mal ernst waren. Er war erwachsen geworden. Er hatte aus seinen Fehlern gelernt und mich für sich gewonnen. "Ich fühle mich bei ihm sicher", antwortete ich Gerda schließlich. "Ich weiß, dass er mich leibt...und ich liebe ihn auch. Das Leben mit ihm ist so unkompliziert. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst, Gerda, aber ich bin an die Beziehung mit Kasimir ohne Erwartungen heran gegangen und sie ist gut geworden. Wir führen ein schönes Leben zusammen und auch Klaudia kommt gut mit ihm aus. Er hilft mir mit der Farm und ich…bin einfach nicht mehr einsam."



    "Aber mit Dominik wärst du auch nicht einsam", wand Gerda ein. "Und er ist Klaudias Vater. Meinst du nicht, dass er noch viel besser mit ihr auskommen würde?" Natürlich hatte Gerda recht damit. All diese Gedanken hatte ich mir doch schon unzählige Male selbst gemacht. "Ich habe Angst, Gerda", gestand ich meiner Freundin. "Ich liebe Dominik. Ich liebe ihn, wie ich sonst noch nie einen Mann geliebt habe...vielleich, vielleicht mit Ausnahme von Albert. Und ich sehne mich danach, wieder in seinen Armen zu liegen. Aber was ist, wenn er mir meinen Betrug nicht verzeihen kann? Er sagt zwar, dass er darüber hinweg ist, aber was ist, wenn er mir in drei Monaten, drei Jahre oder gar in einem Jahrzehnt vorwirft, dass ich ihn wegen Kinga belogen habe? Ich kann mit dieser Angst nicht Leben. Ich könnte es nicht ertragen, diese Verachtung noch einmal in seinen Augen zu sehen." Gerda sah mich voller Mitgefühl an. Endlich verstand sie, warum ich keine Entscheidung treffen konnte.



    Aber ihr war auch klar, dass ich eine Entscheidung treffen musste, wenn ich mich nicht selbst zugrunde richten wollte. Sie stand auf, nahm mir die Tasse aus der Hand und stellte sie auf den Tisch neben den Fernseher. "Liebst du Kasimir?", fragte sie. "Ja". "Und liebst du Dominik?" "Ja, oh ja." "Und wenn du deine Augen schließt und dir dich selbst in dreißig Jahren vorstellst, war sitz da auf der Veranda neben dir?" "Dominik", hauchte ich ganz wie von selbst, ohne darüber nachzudenken. "Dann schnapp ihn dir! Denk nicht darüber nach, was sein könnte! Du wirst es nur herausfinden, wenn du dich traust. Und wenn du dich jetzt nicht für Dominik entscheidest, dann wirst du dich immer fragen, wie es hätte werden können. Ich war damals bereit, Albert für dich gehen zu lassen. Nun bist du an der Reihe deine Ängste zu überwinden und zu Dominik zurück zu kehren."



    "Aber...", wollte ich erwidern, doch Gerda ließ keine Widerworte zu. Stattdessen griff sie meine Hände und redete auf mich ein. "Du liebst Dominik. Wenn du von ihm sprichst, dann sehe ich in deinen Augen den Glanz, mit dem du früher Albert angesehen hast. Ihr beide gehört einfach zusammen. Du wirst zu Kasimir gehen und dich von ihm trennen und dann wirst du Dominik anrufen und seinen Antrag annehmen, wie du das schon hättest tun sollen, als er dich gefragt hat. Ist das klar Oxana?" Gerda blickte mir tief in die Augen. Ich wusste, dass sie nur das Beste für mich wollte und ich erkannte schlagartig, dass sie absolut Recht hatte. Ich liebte Dominik und ich wollte keinen anderen Mann als ihn. Sicherheit hin oder her. "Gut Gerda, so mache ich das."



    "Ach du dummes Huhn, dass man dich zu deinem Glück auch immer zwingen muss", schniefte Gerda und schloss mich fest in den Arm. Und auch ich begann leise zu schluchzen. "Danke Gerda. Danke, dass ich dich habe." Gerda drückte mich noch einmal fest, dann löste sie die Umarmung. "Und jetzt trinkst du deinen Kaffee zuende", befahl sie mir im mütterlichen Ton. "Und du bleibst zum Abendessen, keine Widerworte!"



    Es war, als ob mir eine riesige Last vom Herzen gefallen wäre. Endlich konnte ich wieder in die Zukunft blicken. Aber zunächst wollte ich den Abend mit meiner Freundin verbringen. Ich half Gerda beim Zubereiten des Abendessens. Nebenbei erzählte sie mir von den Neuigkeiten in der Familie: "Ich werde bald Oma, Oxana. Miranda ist schwanger. Frank und sie haben es mir am Sonntag nach dem Gottesdienst erzählt. Mein erstes Enkelkind! Oh, Oxana, ich freue mich ja so."



    "Dann wird Kinga ja bald Tanta", entfuhr es mir. Gerda blickte mich aus großen Augen an und für einen Moment hatte ich Angst etwas Falsches gesagt zu haben. "Daran hab ich ja noch überhaupt nicht gedacht. Unsere Familienbeziehungen sind aber auch sehr verworren." Gerda nahm es demnach mit Humor und fröhlich fuhr sie mit der Zubereitung des Salates fort. "Ich hoffe, dass dein Bruder und Desdemona sich auch bald dazu entschließen ein Kind zu bekommen. Weißt du Oxana, ich bin erst glücklich, wenn ich eine große Familie um mich herum habe."



    "Und zu dieser Familie gehört an erster Stelle dein Ehemann", Volker war unbemerkt in die Küche geschlichen und begrüßte seine Ehefrau mit einem zärtlichen Kuss. Gerda und er hatten sich vor etwa drei Jahren auf einer Viehauktion kennengerlernt und der rüstige Farmer hatte schnell Gerdas Herz erobert. Bereits nach fünf Monaten gaben sie sich das Ja-Wort und führten seitdem eine glückliche Ehe. Gerda hatte ihre Entscheidung seitdem nicht ein einziges Mal bereut und ich bewunderte sie dafür, dass sie bereit war ein solches Risiko einzugehen, um glücklich zu werden.



    Zum Abendessen erschienen dann auch Hans und Mika. Die beiden waren inzwischen sogar eine Lebensgemeinschaft eingegangen. Zwar ist es Gerda am Anfang schwer gefallen zu akzeptieren, dass ihr einziger Sohn keine Schwiegertochter mit nach Hause bringen würde, doch inzwischen war sie mit ihrem zweiten Sohn mehr als zufrieden. So wie es momentan aussah, würden Mika und Hans "Norman" übernehmen, sobald Gerda und Volker nicht mehr in der Lage waren, die Farm selbst zu bewirtschaften. Leider konnte Elvira nicht zum Essen bleiben, da sie mit einem Team von Geologen die Höhlen in der Umgebung erforschte. Ich hätte gerne auch mit der jüngsten Kappetochter ein paar Worte gewechselt.

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  • Kapitel 142: Alles ist gesagt



    Ich hatte Angst davor, mich Kasimir zu stellen. Ich hatte mir noch nicht überlegt, wie ich ihm meinen Entschluss mitteilen sollte. Gerda verstand meine Unsicherheit und wir unterhielten uns auf ihrer Veranda bis weit nach Mitternacht. Erst dann machte ich mich auf den Weg in die Simlane. Die Lichter im Haus waren alle erloschen. Alle Schliefen bereits, alle bis auf Goya. Meine Hündin begrüßte mich schwanzwedelnd. Im fahlen Licht des Mondes glänzten ihre Augen und ich hatte das Gefühl, als ob sie genau verstand, was in meinem Herzen vor sich ging. "Ach Goya, manchmal beneide ich dich um dein Leben", sagte ich und strichelte meiner Hündin über den flachen Kopf.



    Wie auch schon in der letzten Nacht, schlief ich in Kingas Bett. Ich war selbst erstaunt, wie fest ich schlief und obwohl ich mich vor der Konfrontation mit Kasimir fürchtete, zweifelte ich nicht eine Sekunde an meinem Entschluss. Ich zog mich an und fand Kasimir im Badezimmer vor dem Spiegel vor. Er war geradedabei, sich den Bart zu trimmen, als ich vorsichtig an die Tür klopfte und hineinging. Er erblickte mein Spiegelbild, drehte sich aber nicht zu mir um. Im Spiegel sah ich seine versteinerte Mine. Er war immer noch wütend auch mich. Trotzdem musste ich da jetzt durch. "Kasimir, ich muss mit dir sprechen", sagte ich, "aber nicht hier, lass uns ins Schlafzimmer gehen, dort sind mir ungestört."



    Kasimir schnaufte schwer, nickte dann aber zustimmend. Ich ging voraus und er folgte mir mit einigen Sekunden Abstand. "Nun, Perle, was willst du mir sagen?", fragte er gereizt. Da lag mehr in seiner Stimme als der bloße Ärger über mein Verhalten der letzten Wochen. Ich erkannte, dass er frustriert war, weil er es nicht schafte, an mich heran zu kommen. Es wurde wirklich allerhöchste Zeit, diese Farce zu beenden. "Kasimir, ich möchte, dass du ausziehst. Bitte verlass mein Haus, wenn es geht noch heute", brachte ich schnell auf den Punkt.



    "Das, das ist doch jetzt ein schlechter Scherz?", fragte er ungläubig. "Perle, komm schon. Wir hatten Probleme in letzter Zeit, aber das ist doch kein Grund um alles hinzuschmeißen." Ich biss mir auf die Lippen. Warum musste er mich jetzt so anblicken? Warum schrie er mich nicht einfach an, sondern wurde auf einmal einfühlsam? Warum zeigte er ausgerechnet jetzt seine weiche Seite, die ich an ihm wahrhaftig liebte? Doch dann schüttelte ich energisch mit dem Kopf. "Nein, Kasimir, es hat keinen Sinn mehr. Ich will, dass du gehst."



    Kasimir Augen huschten plötzlich wütend von einer Seite zur anderen. Ich sah, wie seine Fäuste sich ballten und er seine Arme anspannte. "Wer ist es?", fragte er grimmig. "Wer ist das Schwein, mit dem du mich betrügst? Ich schwöre dir, dass ich ihn umbringen werde." Das war die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte und auf diese Situation hatte ich mich mental vorbereitet.



    Selbstbewusst umfasste ich seine geballte Faust und hielt sie sanft umschlossen. "Nein, das wirst du nicht", hauchte ich. "Und du weißt schon längst, welcher Mann es ist." Kasimir entspannte sich sichtlich und blickte an mir vorbei. "Dominik!", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich nickte lediglich leicht zur Bestätigung. Immer noch hielt ich Kasimirs Hand und beobachtet, wie seine Brust sich unter heftigem Atmen hob und senkte. "Ich liebe dich, Kasimir", sagte ich schließlich. "Und wir hatten drei wunderbare gemeinsame Jahre, aber ihn liebe ich einfach mehr."



    "Bitte hass mich nicht dafür, Kasimir", flehte ich ihn an. "Ich hab dir nie etwas vorgespielt und ich war dir auch immer treu gewesen. Aber mit Dominik verbindet mich so viel. Er ist der Vater meiner Kinder und nach all den Jahren hat er mir verziehen. Ich hatte nie aufgehört ihn zu lieben und jetzt kann ich nicht anders als die Hand zu ergreifen, die er mir entgegenstreckt. Ich weiß, dass es kein Trost für dich ist, aber gebe es Dominik nicht, dann hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dich zu verlassen." Kasimir erwiderte nichts aber ich hatte nichts anderes erwartet.



    Ich ließ seine Hand los. Immer noch blickte Kasimir mich nicht an, sonder starrt stur auf die Vase auf dem Boden und atmete schwer. Alles war gesagt worden. Ich konnte nichts mehr unternehmen, um es für Kasimir einfach zu machen. Als ich an ihm vorbei ging, blieb ich ein letztes Mal stehen und streckte meine Hand aus, um über seinen Rücken zu streichel. Doch in letzter Sekunde entschied ich mich dagegen. Das würde es ihm nur noch schwerer machen. Und als ich das Zimmer verließ, huschte ein Lächeln über meine Lippen. Ich war endlich frei für Dominik.



    Kasimir packte seine Sachen und rief sich ein Taxi. Tristan war wirklich geschockt, als er hörte, dass Kasimir und ich uns getrennt hatten. Obwohl die beiden sich zunächst nicht grün werden konnten, sind sie durch die gemeinsame Arbeit zu so etwas wie Freunden geworden. "Ruf an, wenn du in Seda Azul eine Wohnung gefunden hast", ermahnte Tristan ihn beim Abschied am Taxi. "Werd ich machen. Und sag der Kleinen, dass sie mich jederzeit besuchen kann. Ich kann einfach nicht warten, bis Klaudia aus der Schule kommt."



    Ich beobachte Kasimirs Weggang mit gemischten Gefühlen. Er hatte sich nicht mehr von mir verabschiedet, was aber nur zu verständlich war. Ich würde ihn und unser gemeinsames Leben vermissen. Aber die trüben Gedanken verflogen, wenn ich an die Zukunft mit Dominik dachte.



    Erst jetzt erzählte ich Tristan von Dominiks Antrag und plötzlich verstand mein langjähriger Mitbewohner, warum ich mich in letzter Zeit so seltsam verhalten hatte und warum ich mich von Kasimir getrennt hatte. "Aber bist du dir sicher, dass es nicht zu spät ist?", fragt er und tippte sich auf sein Handgelenk, an dem eine Uhr hätte sein müssen. "Was ist, wenn Dominik es sich inzwischen anders überlegt hat. Ihr habt seit sechs Wochen kaum ein Wort miteinander gewechselt." "Ich bin mir sicher, dass er immer noch auf mich wartet", antwortete ich mit mehr Zweifel in der Stimme, als beabsichtigt. Ich hatte schon versucht ihn anzurufen, aber es ging nur der Anrufbeantworter ran. Ich würde es weiter versuchen müssen.





    "Dominik Blech." Mein Herz raste, als ich beim dritten Versuch am späten Nachmittag endlich die ersehnet Stimme vernahm. "Dominik, hier ist Oxana", sprach ich mit zittriger Stimme in den Hörer. "Wenn du es immer noch möchtest, dann werde ich deine Frau. Ich bin endlich bereit dazu. Bitte Dominik, komm zurück nach Hause." "Ich bin sofort bei dir", war seine einzige Antwort und er legte auf.



    Vor Glück drehte sich alles in meinem Kopf. Dominik würde zu mir kommen! Meine Träume würden endlich wahr werden. Wie ein Honigkuchenpferd grinsend ging ich zu Klaudias Zimmer. Meine Tochter war inzwischen von der Schule heimgekehrt und erledigte auf dem Boden hockend ihre Hausaufgaben. Eine Unsitte, die ich ihr einfach nicht abgewöhnen konnte. Doch heute war es mir egal. Ich hockte mich zu ihr und grinste sie breit an. Klaudia schaute von ihrem Heft auf und blickte mich verwirrt an. "Dein Vater kommt wieder zurück!", platzte es dann aus mir heraus. "Wir werden wieder ein richtige Familie werden."



    Klaudia blinzelte ungläubig. Dann sprang sie plötzlich auf und warf Stift und Heft einfach beiseite. "Papa kommt wieder?! Papa kommt wirklich wieder?!", fragte sie vor Freude schreiend. "Und ihr beide seid dann wieder ein richtiges Paar?" Ich verzog grinsend den Mund und nickte eifrig. Jetzt gab es für Klaudia kein Halten mehr. Laut jubeln hüpfte sie im Zimmer herum und warf sich mir schlussendlich um den Hals.



    Es erschien mir wie eine Ewigkeit, bis Dominik mit seinem Wagen aus SimVegas vor der Simlane hielt und aus dem Auto stieg. Als ich meinen Mann sah, hielt mich nichts mehr. Ich stürmte die Stufen der Veranda hinunter und sprang Dominik in die Arme. Dominik lachte herzhaft. "Ach Brodlowska, hättest du mich nicht schon vor sechs Wochen so in Empfang nehmen können?"



    Vor Freude liefen mir die Tränen übers Gesicht. "Ich war ja so dumm, Dominik. Ich liebe dich so sehr. Ich versteh selbst nicht, wie ich dich zurückweisen konnte." Dominik zog mich fest zu sich heran. "Ich werde nicht mehr zulassen, dass du mich noch einmal zurückweist, Brodlowska", sagte er bestimmt und küsste mich. Wie sehr hatte ich es vermisst, seine Lippen auf meinen zu spüren. Ich wollte ihn nie wieder loslassen.



    Ich krallte mich regelrecht in ihm fest, als er mich sanft wegschob, um etwas aus seiner Tasche zu kramen. Meine Augen weiteten sich, als ich die kleine Ringschachtel erkannt. "Diese Frage stelle ich dir jetzt zum vierten Mal und ich hoffe, dass ich sie nie wieder stellen muss. Und vor allem hoffe ich, dass ich zum ersten Mal die richtige Antwort zu hören bekomme. Brodlowska, willst du meine Frau werden?"



    "Ja, ich will, ich will, ich will", schrie ich voller Inbrunst. Dominiks erster Antrag war mehr ein schlechter Scherz bei unserem Kennenlernen gewesen, den zweiten hatte ich erst nach sechs Jahren beantwortet, den dritten sogar abgelehnt, aber diesen Fehler würde ich nie wieder begehen. Überglücklich schloss er mich in die Arme und küsste mich immer und immer wieder.



    Mit meinen Händen fuhr ich durch sein inzwischen schütteres Haar, betrachtete die Fältchen, die sich unübersehbar um seine Augen herum und an den Mundwinkeln gebildet hatten. Durch meine Schuld hatten mir so viele gemeinsame Jahre verpasst. Aber ich schwor mir selbst, dass wir diese verlorene Zeit wieder rausholen würden, indem wir unser weiteres Leben noch intensiver lebten.



    Kapitel 143: Ein Stück vom Himmel




    Auch die Freude über die Rückkehr ihres Vaters war bei Klaudia unbeschreiblich. So wie ich hätte sie ihn am Abend am liebsten gar nicht mehr gehen lassen. Aber Dominik musste noch einmal zurück nach SimVegas. Es gab noch viel zu erledigen, bis er und sein Sohn Sky zu uns in die Simlane ziehen konnten. Aber Dominik versprach mir, dass er spätestens morgen Abend wieder bei mir sein würde. Alles was bis dahin nicht erledigt war, würde er schon irgendwie von hier aus regeln. Länger wollte er nicht von mir getrennt bleiben.




    Vielleicht war es gut, dass Dominik nicht direkt bei mir blieb, denn so hatte ich Zeit noch selbst einige Dinge zu klären. All meine Ängste, dass er vielleicht doch einen Rückzieher machen könnte, fielen mit einem Schlag von mir ab. Was blieb war meine große Sorge und Trauer um Kinga. Und eine Hoffnung keimte in mir auch, wenn Dominik zu mir zurückkehrte, vielleicht ... vielleicht würde dann auch meine Tochter wieder heim kommen und wir könnten wieder die Familie sein, die wir einst waren. Diese wage Hoffnung ließ mich die halbe Nacht nicht schlafen und so wählte ich früh am Samstag Morgen die Nummer meiner Schwester Joanna.




    Doch nicht sie, sondern meine Nichte Magdalena hob den Hörer ab. Sie war Joannas ältestes Kind und nur ein halbes Jahr älter als Klaudia. Eigentlich war sie mir fast fremd, denn durch das angespannte Verhältnis zu meiner Schwester hatte ich kaum Gelegenheit gehabt, meine Nichte und meinen Neffen kennenzulernen. "Magda, ist deine Mutter zuhause?", fragte ich, nachdem ich mich nach der Familie erkundigt und mit ihr geplaudert hatte. "Ja, Mama ist da", bestätigte sie. "Sie steht schon in der Tür und wartet nur darauf, dass ich ihr den Hörer übergebe. Bis bald dann, Tante Oxana."




    "Du weißt weswegen ich anrufe, Jojo", sagte ich geradehinaus, nachdem Magdalene meiner Schwester den Hörer gereicht hatte. "Wie geht es Kinga? Kann sie bald wieder nach Hause?" "Nein", antwortet Joanna und machte so mit einem Schlag all meine Hoffnungen zunichte. "Xana, als ich dir anbot, mich um Kinga zu kümmern, da hatte ich dir gesagt, dass es ein langer Weg werden würde. Sie ist noch nicht so weit, um zurückzukehren. Ja, sie ist inzwischen clean, aber sie hat noch nicht begriffen, dass sie ihr Verhalten ändern muss. Wenn ich sie jetzt wieder zu dir lassen würde, dann würde sie sofort in ihr altes Muster verfallen. Du musst Geduld haben, Xana."




    "Aber wie lange, Jojo?", schluchzte ich in das Telefon. "Wochen? Monate? Jahre? Ich vermisse sie so sehr. Ich weiß, dass ich ihr keine gute Mutter war, aber ich würde alles tun, um meine Fehler ungeschehen zu machen." Joanna schwieg einen Moment. Ich spürte, dass sie genau über ihre folgenden Worte nachdachte. "Xana, erwarte nicht zu viel. In Kinga hat sich eine unheimliche Wut aufgestaut. Ich kann ihr helfen, weg von den Drogen zu kommen, ich kann ihr helfen, einen neuen Sinn im Leben zu sehen, aber ich kann sie nicht dazu bringen, dir zu verzeihen. Das muss sie schon selbst tun und ich bin mir nicht sicher, ob sie jemals dazu bereit sein wird. Sie ist eine Brodlowska und wir Brodlowskas verzeihen nicht leicht, das weißt du selbst am Besten."




    Ja, das wusste ich nur zu genau. Ich konnte meinen beiden Vätern nie verzeihen und selbst Joanna hatte ich nie ganz verziehen, dass sie mich damals für ihre Machenschaften missbraucht hatte. Tief im inneren wusste ich, dass es Kinga genauso ging. "Bitte Sorge dafür, dass meine Kleine auf eigenen Beinen stehen und mit erhobenem Kopf durch das Leben gehen kann", bat ich Joanna deshalb mit zittriger Stimme. Ich konnte meine Tränen kaum noch zurück halten. "Und sag...sag ihr, dass ich ihr niemals einen Vorwurf machen werde." Joanna versprach es mir. "Ich werde aus Kinga eine starke und unabhängige Frau machen, die sich im Leben behaupten wird. Vertrau mir, Xana." Und das tat ich. Joanna war meine Schwester und was immer sie auch früher getan haben mochte, ich wusste, dass ihr Kinga genauso viel bedeutete wie mir.







    "Mami, was tust du da?", fragte Klaudia besorgt, als sie aus dem Wohnzimmer kam und mich in Kingas Zimmer entdeckte. "Ich räume die Sachen deiner Schwester weg", erklärte ich ruhig, aber in Wahrheit musste ich alle Kraft aufbringen, damit meine Stimme nicht versagte. Klaudia sah sich in Kingas Zimmer um. Alle Regale waren ausgeräumt und unter dem Fenster standen mehrere Kisten, in die ich Kingas Habseligkeiten verstaut hatte. Gerade war ich dabei, das letzte ihrer Plakate vorsichtig von der Wand zu nehmen.




    "Aber warum?", fragte Klaudia verständnislos. "Heißt das, Kinga kommt nie mehr zurück?" Ich bemühte mich noch immer, möglichst sachlich zu bleiben. "Ich weiß es nicht", war deshalb meine ehrliche Antwort. "Vielleicht kommt sie zurück, ich hoffe es sehr, aber das wird noch lange dauern. Und bis dahin braucht dein kleiner Bruder ein Zimmer. Er muss schließlich irgendwo schlafen können."




    Ich hatte recht mit allem was ich sagte. Sky brauchte das Zimmer jetzt dringender als Kinga, die wahrscheinlich nicht einmal im Traum daran dachte zurückzukehren. Aber deswegen Schmerzte es nicht weniger. Klaudia bemerkte, wie meine Augen wieder einmal anfingen bedenklich zu glänzen. Und da nahm sie mich einfach in den Arm. Ich war ihr so dankbar für diese Geste. "Du musst das nicht alleine machen, Mami", erklärte sie. "Komm, ich helf dir dabei alles einzupacken und auf den Dachboden zu tragen. Und dann machen mir das Zimmer schön für Sky."




    Den ganzen Vormittag verbrachten Klaudia und ich damit, Kingas Sachen und auch die Möbel auf den Dachboden zu tragen. Bei den schweren Dingen erhielten wir natürlich tatkräftige Unterstützung von Tristan. Und auch wenn das Geld knapp war, rief ich die Handwerker, die in Kingas Zimmer neue Farbe an die Wand brachten und einen Teppich verlegten, der eher an die Bedürfnisse eines kleinen Jungen angepasst war. Ich hatte auch beschlossen, neue, kindgerechte Möbel für Sky zu kaufen, doch die konnten erst am Montag geliefert werden. Nachdem die Handwerker gegangen waren, betrachtet ich das leere Zimmer. Es sah schön aus und würde Sky sicher gefallen. Es stimmte mich nur traurig, dass es nun endgültig nicht mehr Kingas Zimmer war.




    Uns am frühen Abend traf Dominik dann mit seinem Sohn ein. Klaudia begrüßte ihren Vater freudestrahlend mit einem Kuss, kaum dass er die Koffer abgestellt hatte. Und ich entdeckte den kleinen, fünfjährigen Jungen, der sich leicht eingeschüchtert hinter dem Schrank versteckte.




    "Hallo, kleiner Mann", begrüßte ich ihn freundlich. "Du musst dich doch nicht verstecken." Ich kam auf ihm zu und streckte ihm meine Hand entgegen, die er, zwar misstrauisch guckend, auch annahm. "Du bist also Sky?", fragte ich und Dominiks Sohn nickte zaghaft. "Das da ist mein Papa", sagte er und zeigte auf Dominik, was mir ein herzhaftes Lächeln entlockte. Klaudia hatte mir über all die Jahre viel von ihrem kleinen Bruder erzählt und ich kannte auch allerlei Fotos von ihm, doch wir waren uns noch nie persönlich begegnet.




    Man konnte richtig sehen, wie der Kleine langsam auftaute und seine Scheu abwarf. "Bist du meine neue Mama?", fragte er nämlich ohne Vorwarnung und zeigte mit seinem kleinen Finger auf mich. Unsicher schaute ich zu Dominik. Wir hatten noch gar keine Gelegenheit gehabt zu besprechen, was genau ich für Sky nun sein sollte. Dominik zuckte kurz mit den Schultern und nickte mir zu. "Ja, Sky", sagte ich folglich an seinen Sohn gewandt. "Wenn du es möchtest, dann bin ich deine neue Mama."




    "Darf ich dich dann auch Mama nennen?", fragte er vorsichtig. Ich war überwältigt von dieser Frage. Ich hätte nie erwartet, das Sky mich so schnell akzeptieren würde. "Natürlich darfst du das." Und ehe ich es mich versah, schlang er auch schon seine kurzen Ärmchen um meinen Hals. Ich würde ihm eine gute Mutter sein, das schwor ich mir. Ich würde mich um ihn kümmern, als ob er mein eigener Sohn wäre. Nein, er war mein eigener Sohn. Er war der Sohn, den ich mir mit Dominik gewünscht hatte, aber nicht mehr bekommen konnte. Im Stillen dankte ich Gott dafür, dass er mir diese neue Chance gab.




    "Komm, Sky, lass uns in mein Zimmer gehen und zusammen spielen", sagte Klaudia zu ihrem Bruder, als der sich von mir gelöst hatte. Der lachte seine Schwester hell an und hüpfte ihr hinterher in ihr Zimmer. Klaudia war eine großartige große Schwester. Sky vergötterte sie regelrecht und hatte sich in der Vergangenheit immer gefreut, wenn Klaudia Dominik und ihn übers Wochenende in SimVegas besucht hatte. Und auch jetzt war Klaudia nur all zu gern bereit, ihre Spielsachen mit ihrem Bruder zu teilen, ja sie ihm sogar zu überlassen, den so langsam war sie aus dem Alter raus, in dem man noch mit Teddybären spielte.






    Ich war an diesem Tag glücklich wie schon lange nicht mehr und so schien es allen Bewohnern der Simlane zu gehen. Allen bis auf Tristan, der recht betrübt im Sessel vor dem erloschenen Kamin saß. "Freust du dich etwa nicht, dass Dominik wieder hier eingezogen ist", fragte ich ihn unsicher und setzte mich zu ihm. "Nein, das ist es nicht", entgegnete er. "Es ist schön, dass ihr wieder eine Familie seid. Nur...ich fühle mich hier irgendwie überflüssig. Du, Dominik und die Kinder, ihr seid jetzt eine richtige Familie. Ich störe da nur. Es ist wohl besser, wenn ich ausziehe und mir eine eigene Wohnung suche."




    Vor Schreck klappte mir der Kinnladen herunter. "Aber du kannst doch nicht ausziehen. Das geht doch nicht", stammelte ich. Tristan lebte nun schon seit 20 Jahren mit mir unter einem Dach und jetzt wollte er von hier weg? Er hatte mir schon so oft geholfen mich wieder aufzurappeln und mutig nach vorne zu blicken, wenn es in meinem Leben mal wieder drunter und drüber ging. Wie sollte ich denn ohne ihn zurechtkommen? "Wollen Frank und du etwas zusammen ziehen? Ist es deswegen?", hakte ich weiter nach.




    "Nein, es ist nicht wegen Frank", antworte Tristan niedergeschlagen. "So wie wir beide leben, ist es schon gut. Jeder hat seinen Freiraum, aber wenn wir uns sehen wollen, dann können wir das jederzeit tun. Vielleicht will ich in 10, 15 Jahren mit ihm zusammenziehen, aber jetzt kann ich mir das noch überhaupt nicht vorstellen. Nein, Oxana, es ist, weil ich dir so viele Probleme bereitet habe. Dein ganzes Erspartes ist weg. Ich kann verstehen, wenn du mich nicht mehr hier haben möchtest."




    "Aahhhh, Tristan Linse, jetzt hör doch mit diesem Geld-Quatsch auf!" schrie ich laut heraus und sprang aus meinem Sessel auf. Von meinem Ausbruch erschrocken richte sich auch Tristan ruckartig auf. Ich raufte mir derweil meine Streichholz-kurzen Haare und schüttelte ungläubig den Kopf. "Wie oft soll ich dir denn noch erklären, dass der Verlust des Geldes nicht solch ein Drama ist. Ja, das Geld ist weg, aber daran können wir nichts mehr ändern und schließlich konntest du nicht ahnen, dass sich die politische Lage so zuspitzt."




    "Ich will die Worte 'Geld' und 'Auszug' nie wieder aus deinem Mund hören, haben wir uns da verstanden?" Mit dem rechten Handrücken schlug ich mehrmals drohend in meine geöffnete Hand um meiner Ansage mehr Nachdruck zu verleihen. Und da begann Tristan zu lachen. "Ist ja schon gut, Frau General, ich ergebe mich ja. Ich werde nicht ausziehen und ich versuche, dass Thema Geld zu meiden. Versprochen." Erleichtert atmete ich auf. Hoffentlich war das Thema jetzt ein für alle Mal gegessen.

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  • Kapitel 144: Starke Frauen


    SimCity



    Das dreigeschossige Gebäude unterschied sich kaum von anderen Bauten in der Umgebung. Es war neu, modern und durchaus ansehnlich, aber dennoch fiel es kaum auf. Dazu war es einfach zu gewöhnlich. Der Flughafen von SimCity war nur wenige hundert Meter entfernt. Ein passender Ort für den Sitz der "Sky Meal"- Company, des Unternehmens, welches das Caitering der Fluggesellschaften übernahm, die SimCity anflogen.




    Zumindest wirkte es nach außen hin so. Doch in der obersten Etage des Bürogebäudes schritt eine Frau unruhig umher. Immer wieder blickte sie zum Globus, der in ihrem edel ausgestatteten Büro stand. Sie war es nicht gewohnt, dass etwas nicht so verlief, wie sie es geplant hatte. Und in letzter Zeit liefen einige Dinge nicht nach Plan. Immer noch stand sie vor dem Globus und richtete ihren Blick auf den südamerikanischen Kontinent. "Verflucht", spie sie und ballte ihre Hand zu einer Faust zusammen.




    Müde nahm sie in ihrem Ledersessel platz und rieb sich die Schläfen. Vor vier Stunden hatte sie die Nachricht erhalten, dass zwei ihrer Agenten in Simnistrien geschnappt wurden. Beide waren tot. Die beiden Agenten waren noch jung und unerfahren gewesen. Vielleicht war es ein Fehler, sie ausgerechnet nach Südamerika zu schicken um in ein Militärlager der ehemaligen Simnationalen Kolonie einzudringen? Nein! Wie sonst sollten ihre Agenten Erfahrung sammeln, wenn sie nicht auf Einsätze geschickt wurden? Und niemand hätte ahnen können, dass sich dieser Einsatz so verheerend entwickeln würde.




    Wieder zwei Agenten weniger, dachte sie. Es war nicht ungewöhnlich, dass es zu Verlusten kam. Aber in den letzten Monaten musste sie mehr Verluste hinnehmen, als ihr lieb war. Und in Simnistrien ging etwas Ungewöhnliches vor sich. Man konnte es in der ganzen Unterwelt spüren, aber niemand schien genaueres zu wissen. Die Informationen der beiden toten Agenten hätten ihr womöglich den entscheidenden Vorteil gegenüber den anderen Untergrundorganisationen gebracht. Sie seufzte und versuchte ihre Nackenmuskeln zu lockern, die hart wie Stein waren. Immerhin konnte sie sich darauf verlassen, dass ihre Agenten sich eher zu Tode foltern ließen, als dass sie Informationen über ihren Auftrag preisgaben.



    Plötzlich flog die Tür zu ihrem Büro auf und ein kleiner sechsjähriger Junge kam laut lachend auf sie zugestürmt. Beim Anblick ihres Sohnes hellte sich ihre Stimmung umgehend auf. "Mami, Mami!", rief er und fiel ihr um den Hals.




    Sie wuschelte dem Jungen durchs Haar und gab ihm einen Kuss auf die Wange, doch der verzog nur das Gesicht und wischte sich mit seinem Ärmel heftig über die Stelle, die ihre Lippen berührt hatten. Doch er war ihr nicht böse. "Darf ihr runter zu Igor in die Werkstatt?", fragte er stattdessen, "Bitte, Mami, bitte!" Seinen großen blauen Kulleraugen konnte selbst die Leiterin einer Untergrundorganisation nicht widerstehen und so stürmisch wie er in ihrem Büro aufgetaucht war, war er auch wieder in die Werkstatt verschwunden.





    Fast wäre er in den Mann hinein gerannt, der eben durch die Tür herein kam. "Vorsicht kleiner Mann“, ermahnte dieser ihn, "du rennst deinen Vater ja fast um." Doch der Kleine hörte gar nicht hin und lief in die Richtung, in der sich die Werkstatt befand. Der Mann nahm seine Frau in den Arm und küsste sie und zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie sich wohl. "Danke, dass du Jakob hergebracht hast, Tobias", bedankte sie sich bei ihrem Ehemann. Er lächelte sie an und streichelte liebevoll ihren Nacken. "Nachdem ich von den Problemen gehört hatte, dachte ich, dass du jede Aufmunterung gebrauchen könntest“, entgegnete er. "Du bist in letzter Zeit so selten zu Hause bei den Kindern, da dachte ich, du würdest dich freuen, ihn zu sehen."





    Und das tat sie. Doch leider war dies der einzige Glücksmoment, den sie sich in der jetzigen Situation erlauben konnte. Sie löste sich von ihr Mann und stemmte die Hände in die Hüfte. Jetzt war sie nicht mehr die Ehefrau und Mutter, sondern Donna Joanna, Patin der Mafia von SimCity, Leiterin von „Justice“, einer Geheimorganisation, die weltweit im Einsatz war. "Hast du etwas Neues erfahren?", fragte sie ihren Mann. "Wissen wir endlich, wie unsere Agenten entdeckt werden konnte?" "Nein", war seine kurze Antwort und sie stimmte Donna Joanna überhaupt nicht glücklich. "Dann sorge dafür, dass ich dies Information umgehend erhalte", herrschte sie Tobias an. "Wie soll ich diese Organisation leiten, wenn ich nur von inkompetenten Menschen umgeben bin?"





    "Ich werde mich sofort darum kümmern", versprach Tobias. Im Laufe der Zeit, hatte er sich in seine Rolle gefügt. Er war der Mann an der Seite einer mächtigen Frau. Und solange es um das Geschäft ging, dann war er nicht mehr, als jeder andere Agent dieser Organisation. Er kam damit zurecht. Joanna war schon ihm Begriff ihn hinaus zu schicken, als er ein weiteres wichtiges Thema ansprach. "Kinga ist nun so weit", erklärte er im ruhigen Tonfall. "Ich denke, wir können nun mit der Ausbildung beginnen. Ich erwarte nicht, dass sie uns weiterhin größere Probleme bereiten wird."





    In diesem Moment danke Joanna innerlich Gott dafür, dass er sie nicht endgültig verlassen hatte. Äußerlich zeigte sie keinerlei Regung. "Dann beginne sofort mit Phase zwei", wies sie Tobias an. "Durch ihr bockiges Verhalten haben wir ohnehin schon mehr Zeit verloren, als mir lieb ist. Und sollte sie noch einmal Ärger machen, dann schreck nicht davor zurück, auch harte Maßnahmen zu ergreifen." Tobias nickte und verließ den Raum. Erst als sie allein war, erlaubte Joanna sich ein Lächeln. Endlich machte sie Fortschritte bei ihrer Nichte. Sie hatte ihrer Schwester versprochen, ihre Tochter wieder in den Griff zu bekommen und nach Wochen schien ihre Arbeit erste Früchte zu tragen.



    zur gleichen Zeit in der Sierra Simlone...



    Dominik und Sky wohnten nun bei uns in der Sierra Simlone. Solange wie die Möbel für Skys Zimmer noch nicht angeliefert wurden, musste der Junge zusammen mit Dominik in unserem Schlafzimmer schlafen.



    Und ich nahm zusammen mit Klaudia in Tristans Bett Platz, während dieser die Nacht in Klaudias Bett verbrachte. Innerlich ärgerte ich mich, dass wir Kingas altes Bett schon auf den Dachboden gebracht hatten, denn so musste ich noch eine Nacht getrennt von Dominik verbringen.



    Aber das holten wir nach. Für einen kurzen Moment hatte ich befürchtet, dass es seltsam werden könnte, wenn Dominik und ich uns wieder so nah kamen. Aber das war es nicht. Es war, als ob wir uns nie getrennt hätten, also ob wir einfach wieder an der Stelle angesetzt hätten, an der wir bei dem tragischen Streit vor über sechs Jahren aufgehört hatten. Dominiks Küsse fühlten sich genauso elektrisierend an, wie schon damals und jede seiner Berührungen jagte einen Schauer durch meinen ganzen Körper.



    Meine Angst verflog vollständig und ich konnte mich Dominik mit jeder Faser meines Körpers hingeben. Kein Mann verstand es, mich glücklich zu machen. Und an seinem Blick, an all seinen Bewegungen erkannte ich, dass auch ich ihn glücklich machte.



    Es gab keine Worte, um mein Glück zu beschreiben. In dieser Nacht erreichte ich den Höhepunkt körperlichen Glücks, aber Dominiks Nähe versetzte mich auch in einen seelischen Höhenrausch. Ich fühlte mich so sicher und geborgen wie schon lange nicht mehr. Mit Dominik an meiner Seite konnte ich alles schaffen. Und selbst meine Probleme mit Kinga erschienen nicht mehr unlösbar. Er würde mir Kraft geben, diese Schwere Zeit der Trennung zu überstehen. Nein, wir würden uns gegenseitig Kraft spenden und ich war in diesem Augenblick überzeugt, dass ich auch Kinga bald wieder in meine Arme schließen konnte.





    Mit seinem Umzug zurück nach Sierra Simlone Stadt verlor Dominik auch seinen Job in SimVegas. Und in der Sierra Simlone konnte er aufgrund der andauernden Ölkrise nicht wieder als Wachmann bei der SimÖl anfangen. Dadurch blieb ihm aber sehr viel Zeit, um sich um Sky zu kümmern. Und auch wenn ich ihm ansah, dass die Arbeitslosigkeit an ihm nagte, so genoss er jede Sekunde mit seinem Sohn.



    Sky war ein sehr anhängliches Kind, das förmlich nach Liebe und Zuneigung schrie. Und die gab ich ihm, so gut ich es konnte. Dominik hatte mir erzählt, dass Ingrid, Skys Mutter, keinen Kontakt mehr zu ihrem Sohn wollte. Sie schrieb ihn zum Geburtstag zwar immer eine Karte, aber sie hatte den Jungen nicht mehr gesehen, seitdem sie überstürzt Mann und Kind verlassen hatte. Soweit ich das mitbekommen hatte, lebte sie jetzt in SimCity und arbeitet dort als Stylistin in den Filmstudios und das nicht unerfolgreich. Eine Familie passt einfach nicht in ihre Karriereplanung.



    Aber dafür konnte der Kleine nichts und er verstand auch nicht, warum seine Mutter ihn verlassen hatte. Er sehnte sich so sehr nach einem Ersatz für Ingrid, dass er mich sofort als seine Mutter akzeptiert hatte. Und immer noch lächelte ich zufrieden, wenn er beim Herumwirbeln schrie, "Noch schneller, noch schneller!", und mich dabei "Mami" nannte.



    Und gleichzeitig überkam mich dann immer solch ein wehmütiges Gefühl. Dieser Junge war nicht mein Fleisch und Blut, und doch hätte ich ihn nicht mehr lieben können. Warum war ich dann nicht in der Lage gewesen, Kinga so zu lieben? Diese Gedanken wurden besonders intensiv, wenn ich ungestört war und auf dem Feld oder der Plantage arbeitete. Wenn ich sie bloß mehr geliebt hätte, dann wäre sie nicht auf die schiefe Bahn geraten, dann wäre sie jetzt eine anständige, nette junge Frau. Ich hoffte inständig, dass sie das eines Tages doch noch werden konnte. Und ich hoffte inständig, dass ich Klaudia und Sky genug Liebe schenken konnte, um sie vor Kingas Schicksal zu bewahren.



    Seitdem Kinga fort war, besuchte ich wieder oft das Kloster des heiligen Ansbald. Ich betete dafür, dass Gott Kinga all die Kraft und Unterstützung gab, die sie brauchte. Ich betete aber auch dafür, dass Klaudia und Sky glücklich aufwachsen würden. Und ich dankte Gott dafür, dass er mir und Dominik eine zweite Chance gewährte. Mit seinem Segen würde unserer Liebe dieses Mal nichts mehr im Weg stehen. Schwester Beatrix leistete mir oft Gesellschaft und schloss mich in ihre Gebete ein. Der melodische Klang ihrer Stimme, wenn sie den Rosenkranz betete, gab auch mir inneren Frieden.



    Zum Dank unterstützte ich Schwester Beatrix und die übrigen Ordensschwester bei der Arbeit in der Kloster-Gärtnerei. Schwester Beatrix war nicht mehr die Jüngste und deshalb froh über jede Hilfe, die sie erhielt. So konnte sie sich für ein paar Stunden entspannt auf einen Stuhl setzen und das Treiben im Laden beobachten, während ich ihren Anweisungen entsprechend kleine Sträuße band.



    Diese Arbeit hatte so etwas Entspannendes. Hier im Kloster war mein Kopf frei von Sorgen und Ängsten, anders als bei der Arbeit auf der Farm, wo ich immerzu nur an die Probleme meiner Tochter dachte. Hier konnte ich aus tiefstem Herzen lächeln.

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  • Kapitel 145: Innerer Frieden



    Während ich meinen inneren Frieden im Kloster suchte, fand der Rest meiner Familie seinen im Pool hinter dem Haus. Obwohl es nun bereits November war, hatte die Sonne kaum an Kraft verloren und das Thermometer kletterte immer noch bis auf 30 °C. Sky war vom ersten Tag an begeistert, dass er nun ein Schwimmbad direkt hinter dem Haus hatte und Klaudia genoss es, mit ihrem Bruder und ihrem Vater im Wasser zu planschen.



    Mein Pummelchen war glücklich, wie schon lange nicht mehr. Zwar hatte sie Dominik in den vergangenen Jahren regelmäßig übers Wochenende besucht, aber ihn nun wieder jeden Tag um sich zu haben, war für sie das Größte. Und auch Dominik genoss es sein Zeit mit den Kinder zu verbringen, sei es nun beim gemeinsamen Spielen an der Konsole, einer Runde Minigolf oder einer wilden Wasserbombenschlacht hinter dem Haus.



    In meiner kleinen Welt schien alles fast wieder perfekt, doch mit Sorge musste ich verfolgen, wie sich die Spannungen zwischen der SimNation und Simnistrien weiter verschärften. "Erneut ist es in der simnistrischen Hauptstadt Tirasimpol zu Übergriffen auf Staatsbürger der SimNation gekommen. 12 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Nach Augenzeugenberichten beobachtete die simnistrische Polizei den Vorfall, griff aber nicht ein. Das Auswertige Amt rät dringend von Reisen nach Simnistrien ab", berichtete die Nachrichtensprecherin. Die heutigen Ereignisse waren allerdings nur die Spitze der immer weiter eskalierenden Ereignisse zwischen den beiden Staaten.



    "Unsere Regierung kann sich das doch nicht länger bieten lassen", bemerkte Dominik energisch. "Die Simnistrier tanzen uns schon seit Wochen auf der Nase herum! Die Ölförderung ist fast vollständig zum Erliegen gekommen und die SimÖl steht kurz vor dem Bankrott. Und jetzt werden auch noch unsere Staatsbürger bedroht! Fürst Ferdinant sollte es diesen Mistkerlen so richtig zeigen". Ich konnte Dominiks Verärgerung verstehen. Auch ich beobachtete die Geschehnisse mit wachsender Sorge. Allerdings hielt ich es für falsch, wenn die SimNation sich auf die Provokationen Simnistriens einließ.



    Doch über Politik wollte ich mir keine Gedanken machen. Wegen des Ölförderstopps hatten plötzlich sehr viele Menschen wieder sehr viel Freizeit und so nutzte ich die Gelegenheit, um mich nach langer Zeit mal wieder mit Manuela Bretz zu treffen. Nur hieß sie nicht mehr Bretz, sondern Holz und war mit Hektor verheiratete. Wir trafen uns also im öffentlichen Freibad und während ich Manuelas Mann näher kennenlernte, unterhielt Klaudia sich mit Manuela.



    Wie sich im Gespräch herausstellte, war Hektor der Vater von Timon, dem ersten Freund meiner Tochter Kinga. Zwar hatten die beiden sich schon vor Ewigkeiten getrennt, trotzdem erinnerte sich Hektor noch gut an Kinga. Allerdings kannte er nur die nette Kinga von damals. Ich hielt es nicht für nötig ihn darüber aufzuklären, was aus dem süßen Mädchen von früher geworden war. Außerdem tat es mir selbst gut, mich an die schönen alten Zeiten zu erinnern.



    Hektor hatte bereits zwei Kinder aus erster Ehe, als er Manuela zur Frau nahm. Timon und Marissa waren für Manu aber wie ihre eigenen Kinder, außerdem hatten sie mit Hektor noch eine gemeinsame Tochter. Manu fand den Gedanken ganz herrlich, dass sie beinah Kingas Schwiegermutter geworden wäre. Naja, beinah würde ich das nicht nennen, immerhin waren Kinga und Timon nur ein paar Wochen miteinander gegangen. "Aber du hast ja noch eine hübsche Tochter", zwinkerte sie Klaudia zu. "Die Chance ist also noch nicht endgültig vertan". Trotz des Dampfes und der Dunkelheit konnte ich erkennen, wie Klaudias Wangen tief rot anliefen.



    Es war herrlich mit Manu über alte Bekannte zu tratschen. Als ich gerade frisch in die Sierra Simlone gezogen war, hatte ich öfter etwas mit Manuela unternommen. Leider war unsere Freundschaft irgendwann im Sand verlaufen. Aber sie konnte sich noch gut an die damalige Zeit erinnern und an unsere gemeinsamen Partys mit Roland, Brandi und Benny.



    Wir waren den ganzen Abend eigentlich nur am Kichern. Ich fühlte mich ein wenig wie um20 Jahre in die Vergangenheit versetzt. Und deshalb versprach ich Manuela, nicht wieder so eine lange Zeit bis zu unserem nächsten Wiedersehen verstreichen zu lassen, woraufhin sie mich und Dominik gleich für das nächste Wochenende zu sich und Hektor zum Essen einlud.



    Und natürlich sagte ich zu. Manu hatte sich ein wundervolles, kleines Heim eingerichtet und servierte ein leckeres Essen. Und Hektor war ein unheimlich sympathischer Mann, der sich sehr gut mit Dominik verstand. Ich hoffte, dass wir in Zukunft öfter solche Treffen abhalten würden.



    Manu und Hektor sahen das genau so und gemeinsam stießen wir auf unsere neue Freundschaft an. Manuela schaute ihrem Mann dabei tief in die Augen und man konnte sehen, dass sie immer noch verliebt war, wie am ersten Tag. Aber mir erging es da nicht anders, wenn ich Dominik anblickte. Ich liebte ihn so sehr, Worte konnten dies gar nicht beschreiben.



    Und deshalb wollte ich ihn auch so schnell wie möglich heiraten. Wir hatten zwar noch keinen festen Termin ausgemacht, aber ich plante die Zeremonie irgendwann nach Weihnachten abzuhalten. Am liebsten schon im Januar. Und dafür blätterte ich bereits in verschiedenen Zeitschriften, um mir Anregungen für die Dekoration, Make-up und mein Kleid zu suchen. Doch all zu oft schweiften meine Gedanken zu Dominik und die Zeitschrift wurde vollkommene Nebensache. Ich war so aufgeregt, als ob dies meine erste Hochzeit wäre. Und im Grunde war sie es auch, zumindest würde es die erste Ehe sein, die ich nur aus Liebe einging.



    Währenddessen an einem unbekannten Ort



    Wie sehr hatte sie es vermisst, die Sonne auf der Haut zu spüren. Seit etwa zwei Wochen durfte sie ihr "Gefängnis" verlassen. Nun, gefangen war sie immer noch. Sie hatte nur wenige Quadratmeter, um sich frei zu bewegen, umzäunt von einer hohen Steinmauer. Aber das war immer noch besser, als wochenlang in ihrer kleinen Betonzelle zu sitzen. Sie konnte es kaum glauben, als sie eines Tages die Türklinke herunter drückte, und die Tür ihrer Zelle einfach aufschwang. Flucht war ihr erster Gedanke gewesen und natürlich hat sie es gleich probiert, aber kaum war sie über die Mauer geklettert und hatte sich einige Meter entfernt, lief sie sofort einem Muskel bepackten Mann in die Arme, der sie ohne viel Worte wieder hinter diese tristen Mauern brachte.





    Nun wartete sie seit Tagen, dass etwas passierte. Wie lange war sie überhaupt schon hier? Genau konnte sie es nicht sagen, aber durch das kleine Fenster ihrer Zelle hatte sie beobachten können, wie die kahlen Bäume langsam Blätter bekamen. Und wo sie war, wusste Kinga auch immer noch nicht. Irgendwo im Norden, so viel war klar, aber wo genau, das blieb ihr ein Rätsel. Kinga krallte ihre Finger in das Maschengitter des Tores zu ihrem Käfig und blickte frustriert auf die Straße davor, auf der sich nichts, aber auch wirklich nichts regte. Hier gab es nur Wald und endlose Stille. Und sie war mitten drin. Und wem hatte sie das zu verdanken? Ihrer Mutter, dieser herzlosen Hexe, die dafür sorgte, dass sie hier in diesem Verließ landete. Wie sehr sie diese Frau doch hasste!




    Alleine der Gedanke an ihre Mutter trieb ihr die Zornesröte ins Gesicht und sie ließ sich auf dem Rasen nieder. Irgendwie hatte diese Hexe es geschafft, sie in dieses Drecksloch sperren zu lassen. Mit ihrer Tante Joanna war sie hier her gekommen, doch seitdem hatte sie sie nicht mehr gesehen. Nur dieser Schrank von einem Mann, der sie schon in der Sierra Simlone in den Wagen schleifte sah sie gelegentlich. Die ersten Tage hatte sie gefleht und gebettelt, sogar geweint hatte sie. Sie wollte hier raus, zurück zu ihren Freunden, zu Alex, zu ihrem alten Leben. Am ganzen Leib hatte sie gezittert, wie im Fieberwahn. Es waren die Anzeichen ihres Drogenentzugs gewesen, doch davon wollte Kinga nichts wissen. Für sie war das nur die Antwort ihres Körpers auf die ungerechte Behandlung, die ihr widerfuhr.




    Irgendwann hatte das Zittern aufgehört und diese tiefe Einsamkeit machte sich in ihrem Herzen breit. Immer wieder hämmerte sie gegen die Tür ihrer Zelle und flehte darum, endlich befreit zu werden. Irgendwann wurde sie erhört und ihr Bewacher Olek kam zu ihr. Sie ergriff die Chance, nicht etwa, um seine Gesellschaft zu genießen, sondern um zu fliehen. Auch das gelang ihr nicht. Unsanft schleifte er sie zurück und sie bezahlte ihre Flucht damit, dass sie die nächsten Tage nur noch trockenes Brot zu essen bekam. Doch auch das brachte Kinga nicht dazu, ihren Zorn zu begraben. Ganz im Gegenteil stachelte es sie nur noch mehr an. Sie begann damit, die spärlichen Möbel ihres Zimmers zu zertrümmern, stellte aber schnell fest, dass sie sich damit nur selbst schadete, denn keiner nahm davon auch nur die geringste Notiz.




    Also ging sie auf Olek los. Der Mann kam immer wieder zu ihr, um ihr Essen zu bringen und zu sehen, wie es ihr ansonsten erging. Manchmal sprach er sogar mit ihr, auch wenn er all ihre Fragen ignorierte. Und als sie das Gefühl hatte, ihn so weit gebracht zu haben, dass er ihr vertraute, sprang sie ihn an, schlug auf ihn ein und zerkratze ihm das Gesicht. Mit einer stoischen Ruhe schüttelte er sie ab und warf sie zu Boden. Er ließ nicht eine Sekunde erkennen, dass ihm der Angriff etwas ausgemacht hätte. Doch diesen Angriff bezahlte Kinga mit einem hohen Preis. Zwei Tage später kam er in ihre Zelle, packte sie unsanft, band ihre Hände am Rücken zusammen und schnitt ihr dann mit einer stumpfen Schere gemächlich und leise vor sich hin summend jeden ihrer langen Rasterzöpfe einzeln ab. Kinga flehte ihn an, damit aufzuhören, sie versprach sich zu ändern, bot sogar ihren Körper an, nur damit er aufhörte. Doch das tat er erst, als auch der letzte Zopf auf dem Boden lag. Kinga überfiel selbst heute ein Schaudern, wenn sie daran zurück dachte.




    Sie hatte die ganze Nacht starr auf dem Boden in ihren abgeschnittenen Haaren gelegen. An diesem Tag war etwas in ihr gebrochen. Die Flamme des beständigen Widerstandes war plötzlich erlöschen. Zwei Tage später kam Olek wieder zu ihr und brachte ihr ihr Essen, als ob nie etwas passiert wäre und auch Kinga verlor nie wieder ein Wort über diesen Vorfall. Die Wochen verstrichen, ohne dass sich viel veränderte. Sie lebte vor sich hin, aß und schlief und irgendwie fand sie sich mit ihrer Situation ab. Nur der Zorn auf ihre Mutter erinnerte sie daran, dass sie noch lebte. Und plötzlich wurde ihr klar, dass sie dieses Spiel mitspielen sollte, denn wenn sie es tat, bot sich ihr womöglich die Chance, sich an dieser Hexe zu rächen. Auch Olek bemerkte ihre Veränderung und schnell erhielt Kinga ihre erste Belohnung. Sie erhielt ihr Make-up zurück und auf ihren Wunsch hin, durfte sie sich ihre kurzen Haarstoppeln schwarz färben. Und auch wenn sie sich ihr Abbild nur als Spiegelung in der Spüle sah, wusste sie, dass sie immer noch schön war.




    Und auch wenn sie in ihrer Zelle alleine war, so gab ihr diese Gewissheit doch sehr viel innere Stärke. Nachdem sie ihre Hände von den Rückständen des Grases befreit hatte, machte sie sich etwas zu Essen. Morgen würde Olek wieder vorbei kommen. Sie wartete bereits darauf, denn er war der einzige Gesprächspartner, den sie hatte. Und vielleicht würde sie endlich erfahren, warum sie hier war und was man mit ihr vorhatte. Die offene Tür war der erste Schritt gewesen, dass wusste sie und der zweite Schritt würde sicher bald folgen.

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  • Kapitel 146: Blindes Vertrauen


    An einem unbekannten Ort...



    Wie erwartet kam Olek am nächsten Tag und neben den üblichen Essensrationen brachte er dieses Mal noch eine weitere Nachricht mit. "Ich werde das Tor heute Abend nicht mehr verschließen. Um dich herum ist nur Wald, selbst wenn du weg laufen würdest, würdest du doch nirgendwo hin können." Kinga wusste, dass er Recht hatte, aber dennoch konnte sie den Gedanken an Flucht kaum zurückdrängen. "Morgen früh nach Sonnenaufgang wirst du der Straße nach Osten folgen. Etwa nach fünf Kilometern triffst du dann auf eine Holzbaracke. Dorthin wirst du ab jetzt jedem Tag gehen." "Und was soll ich dort?", fragte Kinga ihren Bewacher, doch der hob zum Abschied lediglich die Hand und machte sich auf und davon.




    Natürlich hatte sie überlegt, einfach in ihrer Zelle zu bleiben. Doch dann hatte die Neugier gesiegt. Und obwohl es in Strömen regnete, machte Kinga sich auf den Weg, der ihr von Olek beschrieben worden war. Fast eine Stunde war sie unterwegs und obwohl sie ohnehin bis auf die Knochen durchnässt war, lief sie die letzten Schritte zur Holzbaracke.





    Was genau sie im Inneren erwartet hatte, wusste sie selbst nicht, aber ganz sicher war es nicht die Schulklasse, die sie vorfand. Doch endlich traf sie auf Menschen! Nach Wochen der Einsamkeit und nur gelegentlichen Gesprächen mit Olek war dies das Beste, was sie sich vorstellen konnte. "Hi Leute, ich bin Kinga!" stellte sie sich deshalb überschwänglich vor, ohne Rücksicht auf den bereits begonnen Unterricht zu nehmen.




    "Du bist spät!" antwortet eine Frau um die Vierzig mit starkem osteuropäischem Akzent, die hier die Lehrerin zu sein schien. "Der Unterricht beginnt pünktlich um acht. Es wäre gut - gut für dich - wenn du dir diese Uhrzeit einprägen würdest." Die Drohung, die in ihrer Stimme mitschwang war kaum zu überhören. Kinga schluckte schwer. Die anderen Schüler, alle etwa in ihrem Alter, manche etwas jünger, einige etwas älter, warfen ihr neugierige Blicke zu.




    Kinga hatte auf irgendeine Erklärung gehofft, was sie hier sollte, warum sie diese seltsame Schule mitten im Wald besuchte? Doch sie wurde erneut enttäusch. Professor Elena, so wurde die rothaarige Frau von ihren Mitstudenten genannt, fuhr unbeirrt in ihrem Unterricht fort. Erst Geschichte, dann Politik, als nächstes Mathematik. Kinga wurden Papier und Stifte gegeben und sie versuchte so gut es ging, dem Frontalunterricht zu folgen. Anders als in ihrer früheren Schule herrschte absolute Ruhe. Kein Getuschel, kein leises Gekicher. Alle Schüler zeigten perfekte Disziplin und lauschten aufmerksam den Worten der Lehrerin.




    Die erste Pause gab es erst etwa nach vier Stunden. Kingas Kopf rauchte und sie war froh über die Unterbrechung. Außerdem brannte sie darauf, von ihren Mitschülern zu erfahren, wo sie war und was das ganz hier sollte? Rabea und Hajo ließen sich sogleich auf ein Gespräch mit ihr ein, doch leider musste Kinga feststellen, dass sie ihr nicht viel sagen konnten. "Wir sind etwa seit drei Monaten hier. Hin und wieder stößt jemand Neues zu uns, so wie du. Die meisten von uns leben einige Kilometer von hier entfernt zusammen in anderen Baracken", berichtete Rabea.




    "Und wo kommt ihr her? Wie seid ihr hier gelandet?", fragte Kinga weiter. "Ich war im Knast", antwortete Hajo ohne zu zögern. "Eines Tages kam eine Frau zu mir und erklärte mir, dass ich früher entlassen werde, wenn ich mit ihr gehe. Tja und jetzt bin ich hier. Alles ist besser als Knast, also mache ich brav mit, was hier von mir verlangt wird." Kinga war sichtlich überrascht, auch wenn sie versuchte es so gut es ging zu verbergen. Neugierig, ob diese auch solch eine Geschichte zu berichten wusste, blickte sie Rabea an. "Ich hab auf der Straße gelebt, mich mit ein paar Taschenspielertricks über Wasser gehalten. Vor ein paar Monaten kam ein Typ auf mich zu und sagte, dass er mir mehr beibringen könnte. Mit Schulunterricht hab ich zwar nicht gerechnet, aber immerhin hab ich ein Dach überm Kopp. Die anderen hier haben alle ähnliche Geschichten."




    "Aber warum sind wir hier? Wer ist der verantwortliche? Was wird von uns erwartet?", bedrängte Kinga die beiden mit ihren Fragen. Hajo und Rabea zuckten die Schultern. "Wir machen einfach das, was man uns sagt. So machen wir uns keine Schwierigkeiten", antwortete Hajo. "Du hast wahrscheinlich selbst schon gemerkt, dass dir zu viel Fragen oder gar Widerstand nur Ärger einbringen. Wenn es so weit ist, werden wir schon erfahren, was wir hier sollen und bis dahin machen wir einfach das Beste aus der Situation."


    Derweil in der Sierra Simlone...



    Ein paar Tage nach unserem Abendessen bei Hektor und Manuela führte Dominik ein wichtiges Telefonat. "Ja natürlich, ich kann sofort nach den Feiertag anfangen. Seien sie versichert, dass ich der richtige Mann für diesen Job bin", sprach er in sein Handy. "Sobald der Postbote den Vertrag vorbeibringt, bringe ich ihn Ihnen in die Zentrale...Ich hoffe ebenfalls auf eine gute Zusammenarbeit. Auf Wiedersehen."



    Tristan hatte das Ende des Gesprächs mit verfolgt. "Hast du etwa wieder einen Job?", fragte er neugierig. Dominik grinste. "Ja, ich kann wieder bei der SimÖl anfangen. Sie brauchen erfahrene Leute für den Sicherheitsdienst und meine Referenzen haben sie überzeugt. In einem Monat geht es los."



    "Hej, das ist ja super!", freute sich Tristan. "Ich hab gar nicht mitbekommen, dass die SimÖl wieder anfängt zu fördern. Die Bohrtürme gehen also nach Weihnachten wieder in Betrieb? Dann kann ich sicherlich auch endlich wieder zur Arbeit. Langsam wird es nämlich echt öde, so ganz ohne Beschäftigung". Doch Dominik runzelte das Gesicht. "Ähm, ganz so ist das nicht", druckste er herum. "Ich soll nicht hier anfangen. Die wollen, dass ich nach Simnistrien gehe und dort für die Sicherheit der Arbeiter sorge".



    "Wer soll nach Simnistrien?", fragte ich, als ich ins Wohnzimmer trat. Ich hatte das Abendessen zubereitet und ein paar Wortfetzen des Gesprächs der beiden mitbekommen, als ich einige Zutaten zurück in den Kühlschrank stellte. Tristan zuckte zusammen und sah Dominik mit besorgter Miene an. Er wusste genau, dass mir nicht gefallen würde, was Dominik mir zu erzählen hatte.



    "Ich lass euch beide dann lieber mal allein", sagte Tristan und verließ den Raum. "Dominik, was ist hier los?", fragte ich misstrauisch, als er auf mich zukam und allzu liebevoll meine Wange streichelte. "Ich hab einen neuen Job, Brodlowska", erklärte er und bei diesen Worten stieg sofort Freude in mir auf, die allerdings nicht lange währte. "Es gibt da nur ein winziges Problem. Ich muss dafür nach Simnistrien."



    "Sim...Simnistrien?", stotterte ich. Es dauerte einige Sekunden, bis ich die volle Tragweite dieser Worte begriff. Und dann stieg die Wut in mir auf. "Dominik, hat dir die Sonne etwa die letzten Gehirnzellen weggebrannt? Da kannst doch unmöglich ernsthaft in Erwägung ziehen, einen Job in Simnistrien anzunehmen. Das ist Südamerika! Und dir ist schon bewusst, dass Simnistrien das Land ist, das die SimNation hasst wie die Pest und gerade im Moment einfach mal zulässt, dass deren Bürger bedroht und fast umgebracht werden. Du wirst diesen Job nicht annehmen, Dominik Blech! Haben wir uns da verstanden?!"



    "Ich hab mich bereits entschieden, Brodlowska", sagte Dominik im ruhigen Tonfall. "Lass uns später noch einmal darüber reden. Du musst die Neuigkeit erst sacken lassen." Er drehte sich um und ging in die Küche, wo Klaudia meinen Ausbruch besorgt mitverfolgt hatte. Hilflos fasste ich mir an die Stirn. Das konnte doch nicht Dominiks Ernst sein! Wie konnte er nur daran denken, sein Leben in Gefahr zu bringen und mich und die Kinder allein zu lassen? So wichtig konnte kein Job der Welt sein.



    Spät am Abend saß ich alleine im Dunkeln auf der Bank vor dem Haus und starrte auf die verlassene Straße. Ich hörte zwar, dass Dominik sich nährte, aber ich sah ihn nicht an. Ich war immer noch wütend und enttäuscht aufgrund seiner Entscheidung. Schweigend setzte er sich neben mich uns betrachtet das Haus seiner Eltern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. "Brodlowska, lass uns vernünftig miteinander reden", durchbrach er schließlich die Stille. "Je früher desto besser. Benimm dich doch nicht so kindisch."



    "Kindisch? Wer von uns beiden benimmt sich hier denn kindisch?!", zischte ich in an und warf meine Hände wütend in die Luft. "Du bist doch derjenige, der plötzlich Dschungelkamp in Südamerika spielen möchte. Aber das ist kein Spiel, Dominik. Dir könnte etwas passieren! Du könntest verletzt werden oder vielleicht noch Schlimmeres. Ich bitte dich Dominik, fahr nicht. Wir brauchen das Geld nicht. Die Farm wirft genügend Gewinne ab. Vielleicht müssen wir den Gürtel etwas enger schnallen, aber das schaffen wir schon."



    "Es geht mir doch nicht um das Geld, Brodlowska", erwiderte Dominik. "Kennst du mich wirklich so schlecht?" In diesem Moment glaubte ich wirklich, ihn nicht zu kennen. Der Dominik den ich kannte, hätte seine Familie nicht aus einer Laune heraus im Stich gelassen. Aber ich sagte nichts dazu und ließ Dominik weiter sprechen. "Unsere Leute in Simnistrien brauchen unsere Hilfe. Meine Hilfe! Die Männer und Frauen die dort arbeiten können nichts dafür, dass die simnistrische Regierung sie zu Feinden erklärt hat. Und ich kann nicht einfach tatenlos zusehen, wie mit Gewalt gegen sie vorgegangen wird. Es ist meine Pflicht zu helfen. Meine christliche Pflicht, wenn du es so sehen willst."



    Oh es war so unfair von ihm meinen Glauben ins Spiel zu bringen, denn so nahm er mir mit einem Schlag alle Argumente. Er tat es für die Bürger der SimNation, die seine Unterstützung in Simnistrien brauchten. Es wäre selbstsüchtig von mir gewesen, ihn davon abhalten zu wollen. Aber ich konnte meine Tränen dennoch nicht zurückhalten. "Ich hab Angst, Dominik, so furchtbare Angst", schluchzte ich. "Ich will dich nicht verlieren, nicht noch einmal." Dominik zog mich an sich heran und legte seine Arme um mich. "Du brauchst keine Angst zu haben, Brodlowska. Die Situation wird sich in wenigen Monaten wieder beruhigt haben und du kannst mich erneut in deine Arme schließen. Versprochen."



    Ich wollte ihm so gerne glauben, aber all seine Worte und Küsse konnten meine Sorgen nicht beiseite wischen. Niemand konnte sagen, was wirklich passieren würde. Und einfach blind darauf zu vertrauen, dass alles gut gehen würde, wäre mehr als naiv gewesen. Aber es bleib mir gar nichts anderes übrig. Dominik hatte seien Entscheidung getroffen und er würde nach Simnistrien gehen. Aber vorher konnten wir noch ein wundervolles Weihnachtsfest verbringen.


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  • Kapitel 147: Dinge, die wir vermissen



    Ich liebte das Weihnachtsfest, doch dieses Jahr hätte ich nicht lang genug darauf warten können. Doch die wenigen Wochen, die mir noch mit Dominik blieben vergingen in Windeseile. Und eh ich es mich versah, war Heiligabend. Wie jedes Jahr, gingen wir mit der ganzen Familie um sechs in die Messe. Die Kirche war voll wie immer zu Weihnachten, sodass Dominik und viele andere keinen Sitzplatz mehr bekamen. Während wir auf den Beginn des Gottesdienstes warteten, bewunderte ich die Weihnachtsdekoration, die mir dieses Jahr besonders gut gelungen schien. Aber tief in meinem Herzen musste ich auch an Kinga denken, die mir an diesem Tag mehr denn je fehlte.




    Pfarrer Erding war sichtlich erfreut, sein Haus wieder einmal voller Menschen zu sehen. An den übrigen Sonntagen waren in der Regel nämlich kaum die ersten zwei Reihen besetzt. Die ganze Gemeinde hatte sich heute Abend hier versammelt.




    Dominiks Eltern Glinda und Anan lauschten aufmerksam den Worten des Pfarrers, während Dominiks jüngere Schwester Kira ganz offensichtlich mit einer Nackenverspannung zu kämpfen hatte. Hans und sein Lebensgefährte Mika waren ebenfalls erschienen. Flankiert wurden die beiden von Dominiks beiden Brüdern Kevin und Mark. Als Küken der Familie, Mark war nur drei Jahre älter als Klaudia, hat er sogar noch einen Sitzplatz neben Hans ergattert.




    Tristan war über seinen Sitzplatz aber nicht so glücklich. Warum mussten Kirchenbänke auch so unbequem sein? Egal wie er sich auch wand und drehte, irgendwo drückte es immer noch. Miranda, deren dicker Kugelbauch langsam nicht mehr zu übersehen war, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und ihr Ehemann Frank wollte ihn schon zur Ruhe ermahnen, hielt sich aber doch in letzter Sekunde zurück.




    Roland und Brandi waren auch anwesend und sogar Constance war über die Weihnachtsferien zu Besuch gekommen. Eine Pause vom Uni-Stress würde ihr auch gut tun außerdem vermisste sie ihren Vater, ihre Stiefmutter und ihre beiden jüngeren Geschwister Sahra und Nikolas, die aber daheim bei Brandis Eltern geblieben waren. Neben Roland stand mein kurzzeitiger Mitbewohner Stev, der sich beschämt zur Seite drehte, weil sein Lebensgefährte Dennis, Dominiks ältester Bruder, mitten im Gottesdienst seine Hose zurechtzupfte.




    Die schien ihn aber auch wirklich zu zwicken. Mein Bruder Orion grübelte derweil darüber nach, ob auch alles für den Heiligen Abend vorbereitet war, während seine Frau Desdemona in Gedanken schon längst bei der Bescherung war und selig vor sich hin grinste. Dominiks Schwester Siana konnte dagegen den Blick nicht von ihrem Bruder abwenden, der vor lauter Herumgezupfe an seiner Hose fast das Gleichgewicht verlor.




    Elvira war gefesselt von der Predigt von Pfarrer Erding. Gerda hingegen fuhr erschrocken zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie womöglich vergessen hatte, eine Kerze zu löschen, bevor sie mit der Familie zur Kirche aufgebrochen war. Ihr Mann Volker versuchte zwar sie zu beruhigen, doch so ganz wollte es ihm nicht gelingen. Und Dominik bereute in diesem Augenblick, dass er den Fotoapparat zuhause gelassen hatte und diesen Moment nicht auf Film festhalten konnte.




    Pfarrer Erding kam zum Schluss der Messe. "Brüder und Schwestern, ich wünsche euch ein gesegnetes Weihnachtsfest. Öffnet eure Herzen und lasst den Herrn hinein. Schenket einander den Frieden, den es uns im Alltag so häufig mangelt, dann wird uns allen das Wunder von Weihnachten zuteil. Gehet hin in Frieden."




    Die Orgel ertönte und voller Inbrunst sangen alle Anwesenden "Oh du fröhliche". Vor der Kirche ergriff jeder noch die Gelegenheit, seinen Freunden und Nachbarn ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen. Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Die Zikaden zirpten munter in den Blättern der Palmen und ein warmer Wind wehte vom Meer heran.




    Ich drückte meinen Bruder fest an mich. Heute würde er den Abend mit seiner Frau bei Gerda und ihrer Familie verbringen, aber am zweiten Weihnachtstag hatte ich ihn und die Kappes in die Simlane eingeladen.




    Klaudia unterhielt sich noch mit Constance. Es gab eine Zeit, als Constance sich furchtbar für ihre Asch-graue Haut geschämt hatte, doch seitdem sie auf der Uni war, war sie wie verwandelt und zu einer selbstbewussten jungen Frau herangewachsen. Wehmütig dachte ich an die Zeiten zurück, als Kinga und sie gemeinsame Pläne für ihre Studienzeit schmiedeten. Wie die Zeiten sich doch geändert hatten.




    Auch Dominik wünschte seinen Eltern und Geschwistern ein frohes Weihnachtsfest. Glinda war nicht begeistert gewesen, als sie erfuhr, dass Dominik und ich vorhatten, erneut zu heiraten. Ich musste ihr aber zugutehalten, dass sie mich dieses Mal nicht offen angriff und ihre Einladung den 1. Weihnachtstag bei ihnen zu verbringen, auch mich mit einschloss.





    Und an einem unbekannten Ort...




    Die Unterichtspause dauerte nicht lang. Verärgert stellte Kinga fest, dass sie nicht daran gedachte hatte, etwas zu Essen mit zu nehmen. Immerhin gaben ihr Hajo und Rabea etwas von sich ab, aber zum satt werden reichte das lange nicht. Am Nachmittag ging es dann mit Unterricht in Simlisch, Wirtschaft und Erdkunde weiter. Gegen sechs Uhr wurde der Unterricht beendet und Kinga machte sich mit knurrendem Magen auf den Weg zurück zu ihrer Behausung. Noch einmal würde sie das Essen nicht vergessen. Sie blätterte noch etwas in dem Schulbuch herum, dass sie bekommen hatte, doch erschöpft vom langen Unterricht und dem anstrengenden Fußmarsch, fielen ihre Augen bald zu. Ihre Kraft reicht nicht einmal mehr für hasserfüllte Gedanken an ihre Mutter.




    Zu Beginn stellte der tägliche Unterricht eine willkommene Abwechslung von Kingas bisherigen tristen Tagen in ihrer Beton-Zelle dar. Das Lernen fiel ihr nicht schwer und sie hatte innerhalb kürzester Zeit alles aufgeholt, was ihre Mitstudenten ihr voraus hatten. Dennoch wurde sie von Prof. Elena weiterhin sehr kritisch beobachtet, zumindest erschien es Kinga so. Aber all zu schnell begann sie das Lernen zu langweilen und ihre Gedanken schweiften ab zu ihrer Clique in Sierra Simlone Stadt. Was Alex und Farina jetzt wohl machten? "Sicherlich haben sie jetzt mehr Spaß als ich und versauern nicht in einem öden Klassenzimmer", dachte sie und schnaufte verächtlich.




    Verstohlen blickte sie sich im Klassenzimmer um und betrachtete die anderen Schüler. Es war doch nicht möglich, dass die den ganzen Tag nur lernten. In der Pause nahm sie Hajo, mit dem sie sich in den letzten Wochen recht gut angefreundet hatte, beiseite. "Nun verrat es mir schon, wo steigen hier die Partys? Ich nehme euch das brave Klosterschüler-Getue nicht länger ab."





    Zunächst druckste Hajo herum und wollte nichts verraten. Kinga wurde schon sauer bis sie bemerkte, dass er lediglich darauf wartete, dass die anderen Mitschüler den Raum verließen. Als sie endlich alleine waren, packte er aus. "Rabea, ich und noch ein paar andere treffen uns gelegentlich auf einer Lichtung im Wald. Wenn man weiß wie, dann kann man die Aufpasser schon mal dazu bewegen, dass sie die ein oder andere Flasche Schnaps einschmuggeln und nicht so genau hinsehen, ob wirklich alle in ihren Bettchen liegen. In zwei Tagen ist es wieder soweit. Wenn du Lust hast, kannst du dich uns anschließen". Hajo brauchte nicht ein zweites Mal zu fragen. "Pass nur auf, dass dir niemand folgt", warnte er sie und erklärte ihr dann den Weg zur Lichtung.




    Kinga konnte das Warten kaum ertragen. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn sie noch am gleichen Abend die Sau raus gelassen hätten. Zu lange hatte sie nicht mehr gefeiert und sich ordentlich gehen lassen. Als sie dann aber alleine durch den dunklen Wald schritt, ließ ihre Begeisterung deutlich nach. Allerdings dauerte dies auch nur so lange an, bis sie den Schein eines Feuers und ein ausgelassenes Stimmengewirr wahrnahm. Und gleich darauf entdeckte sie auch schon Hajo zwischen den Bäumen.




    "Da bist du ja, King", rief er ihr zu. "Komm, setz dich zu uns ans Lagerfeuer." Kinga kam näher und entdeckte auch gleich Rabea. Einige der anderen kannte sie aus dem Unterricht, aber nicht alle. Das erstaunte sie etwas, denn bis jetzt hatte sie gedacht, dass alle Leute, die es in diesen seltsamen, geheimnisvollen Wald verschlagen hatte, auch an den Lehrübungen teilnehmen mussten. Womöglich gab es ja mehr als eine Lehrbarake?





    Sie unterhielten sich eine Weile, bis Bert, der unbekannt mit den blauen Haaren, plötzlich aufstand. "Ich hohle mir 'nen Drink. Will sonst noch jemand?" Kinga fiel wieder ein, dass Hajo Alkohol erwähnt hatte. Sie hatte in den letzten Wochen kaum noch an Alkohol, Gras oder gar Crystal Meth gedacht, aber plötzlich erinnerte sie sich wieder, wie gut sich diese berauschende Gefühl doch anfühlte und so folgte sie Bert und auch Hajo zu einer hochkant aufgestellten Holkiste, die als Bar fungierte und eine interessante Auswahl an alkoholischen Getränken beherbergte. Bert reichte ihr ein gefülltes Glas und Kinga nahm hastig einen tiefen Schluck. "Also so", dachte sie, "kann ich auch noch länger in diesem gottverlassenen Wald bleiben."





    Dem ersten Drink folgte ein zweiter und auch der dritte ließ nicht lange auf sich warten. "Hey, King, lass es doch ein wenig langsamer angehen, die Nacht ist noch jung", ermahnte sie Hajo freundschaftlich und führte sie von der Bar weg. Etwas abseits von der Gruppe ließen sie sich nieder. "Was starrst du denn so?", fragte Kinga unfreundlich, als Hajo nicht aufhörte, sie zu mustern. "Ich stelle einfach nur fest, wie schön du bist, dass ist alles", erwiderte er grinsend. Kinga war froh, dass es so dunkel war, denn unweigerlich röteten sich ihre Wangen. Aber das brauchte Hajo nicht zu wissen.




    Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, beugte er sich zu ihr hinüber und küsste sie. Bis zu diesem Augenblick hatte Kinga in Hajo nie mehr als einen Freund gesehen. Und der Alkohol verhinderte, dass sie sich in diesem Moment darüber Gedanken machen konnte. Und deshalb ließ sie es einfach geschehen. Sie hatte es vermisst, geküsst zu werden und obwohl Hajos Drei-Tage-Bart kratzte, empfand sie das alles andere als unangenehm. Oh ja, die körperliche Zuneigung eines Mannes hatte sie wohl am meisten vermisst.

  • Kapitel 148: Freud und Leid




    Nach dem Gottesdienst verabschiedete ich mich von all meinen Freunden und Verwandten und beeilte mich, mit Siana schnell in die Simlane zurückzukehren und die restlichen Vorbereitungen für den Heiligen Abend zu treffen. Derweil machte Dominik mit seinem Bruder Dennis, Stev und den Rest meiner Familie einen Spaziergang zum Haus von Stev und Dennis und holten deren beide Töchter Lena und Emma ab.




    Siana und ich hatten das Essen inzwischen vorbereitet. Der traditionelle Weihnachtskarpfen stand dampfend auf dem gedeckten Tisch. Doch dafür hatten die Kinder gar keine Augen. Sky stürzte sich sofort auf den Weihnachtsbaum, unter dem sich die Geschenke türmten. Klaudia war da schon etwas zurückhaltender, aber auch ihre Augen glitzerten voller Vorfreude. Und Dominiks beide kleinen Nichten Emma und Lena interessierten sich mehr für das bunte Geschenkpapier als für den Inhalt der vielen Päckchen.




    Da es unfair gewesen wäre, die Kinder noch länger auf die Folter zu spannen, begannen wir direkt mit der Bescherung. Dass Essen würde auch noch ein paar Minuten länger warm bleiben. Sky freute sich wahnsinnig, als Dominik ihm sein Geschenk überreichte.




    Natürlich riss Sky sofort das Geschenkpapier herunter und packte seinen neuen ferngesteuerten Hubschrauber aus. Da Dominik selbst wissen wollte, wie das Ding sich so flog, durfte Sky es auch gleich ausprobieren. Und so sauste ein Hubschrauber über unsere Köpfe hinweg, während wir uns zum Essen an den Tisch setzten. Lena war begeister von dem fliegenden Ungetüm und lief dem "Huschaba" glucksend hinterher. Ihre Schwester Lena hatte hingegen hatte nur Augen für ihren neuen Teddybär.




    Der Karpfen war köstlich. Ich hatte ihn nach dem Rezept meiner Großmutter zubereitet, ebenso wie die Suppe aus Rotebeeten, die es als Vorspeise gab. Tristan haute rein, als ob er seit Tagen nichts gegessen hätte. Wie gut, dass im Kühlschrank noch genügend Essen auf uns wartete.




    "Ein Lob auf unsere Köchin!", warf Dennis in den Raum und alle Stimmten mit ein. Ich merkte, wie meine Wangen rot anliefen. "Stev und ich müssen uns übrigens noch einmal vielmals bei dir bedanken, Oxana", setzte er fort. "Wenn du uns nicht die Agentur für Leihmütter vermittelt hättest, dann hätten wir heute nicht unsere wunderbaren Mädchen. Vielen Dank." Dafür mussten sie mir nun wirklich nicht danken. Ich hatte gern geholfen und den beiden lediglich die Unterlagen der Agentur rausgesucht, die meinen Vätern auch meine leibliche Mutter vermittelt hatte.




    Nach dem Essen folgten wir einer weiteren polnischen Tradition. Jeder erhielt ein Stück einer geweihten Oblate, die mir meine Tante Kasia aus Polen zugeschickt hatte. Und damit ging man nun reihum von Person zu Person, brach ein Stück der Oblate des Gegenübers ab und sprach sich gegenseitig Glückwünsche für das kommende Jahr aus.




    Anschließend räumte ich mit Siana die dreckigen Teller vom Esstisch und wir zogen uns ins Wohnzimmer zurück, wo aus unserem Schneemann-Weihnachtsradio schon den ganzen Abend diverse Weihnachtslieder erklangen. Und dort hatte ich auch eine kleine Falle aufgestellt. "Schau mal nach oben, Dominik. Ist das etwa ein Mistelzweig?"




    "Und du weißt, was das bedeutet." Ich legte meine Hand unter sein Kinn und führte seine Lippen an meine. Wir teilten einen zarten Kuss miteinander. Am liebsten hätte ich ihn für immer und ewig so weiter geküsst, denn ich wusste, dass er bereits in drei Tagen auf unbestimmte Zeit von mir getrennt sein würde.




    Doch heute wollte ich meine Laune nicht mit solchen Gedanken trüben. Also setzte ich mich zu Siana an den Schachtisch und spielte mit ihr, während Dominik und Klaudia zu "Deck the Halls" ein Tänzchen aufs Parkett hinlegten und Tristan und Stev eine Partie Darts spielten.




    Stev hatte seine kurze, aber nicht erfüllte Liebesbeziehung zu Tristan wohl längst überwunden. Er wirkte wirklich glücklich mit Dennis und seinen beiden Töchtern und dem Bruder von Dominik erging es nicht anders. Immer wieder konnte man sie dabei beobachten, wie sie sich zärtliche Blicke zuwarfen und auch ganz ohne Mistelzweig küssten. Und auch Tristan schien damit keine Probleme zu haben, sondern überlegte, wie man das Bild der beiden am besten einfangen konnte.




    Und zum Ausklang des Abend sahen wir noch die Muppets-Version von "A Christmas Carol" auf DVD an. Klaudia liebte den Film, seit sie ihn das erste Mal vor etlichen Jahren gesehen hatte. Und ich muss gestehen, dass auch ich ihn immer wieder gerne sah. Sky und die beiden ganz Kleinen waren schon längst im Bett und Stev überprüfte, ob es ihnen auch an nichts fehlte.




    Und an einem unbekannten Ort...



    Wie sehr Kinga es doch vermisst hatte, von einem Mann berührt zu werden. Das wurde ihr so richtig bewusst, als sie in der winzigen Nasszelle ihres Betonbunkers stand und das warme Wasser auf ihren Körper niederprasselte. Hajo und sie hatten sich noch ein Stück weiter von der Gruppe entfernt und sich auf dem mit Moos bedeckten Waldboden geliebt. Kinga bereute diese Tat in keinster Weise, auch nicht, als der Alkohol langsam seine Wirkung verlor. Partys, Rauschmittel und Männer, mehr als diese drei Dinge brauchte sie nicht, um glücklich zu sein und sie schämte sich nicht dafür.



    Hajo war ganz sicher nicht Kingas große Liebe. Irgendwie gehörte dieser Platz immer noch Alex, auch wenn sie ihren Freund, oder sollte sie lieber sagen Ex-Freund, gut genug kannte um zu wissen, dass er nicht lange getrauert hat und sicher schon eine Neue hatte. Sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Schließlich würde sie mit Hajo auch ihren Spaß haben, ganz egal, ob sie ihn nun liebte oder nicht. Doch als sie am übernächsten Tag das Klassenzimmer betrat, stellte sie verwundert fest, dass von Hajo weit und breit keine Spur zu sehen war. Und auch Rabea war nirgends zu entdecken.



    Sie fragte ihre Kommilitonen, doch keiner konnte, oder wollte, ihr sagen, wo Hajo und Rabea waren. Von Jasmin wusste sie, dass sie mit den beiden in einer Baracke lebte. Sie musste doch wissen, wo die beiden waren und so bettelte sie so lange, bis Jasmin ihr schließlich doch eine Antwort gab. "Ich weiß auch nichts genaues, aber ich hab durch den Türspalt zufällig mitbekommen, wie Rabea ihre Sachen packte. Ich fürchte, die beiden sind irgendwo anders hin gebracht worden, aber ich habe keine Ahnung wohin." Das Entsetzen war Kinga deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie diese Worte hörte.



    Kinga spürte instinktiv, dass Jasmin die Wahrheit sagte. Hajo und Rabea waren weg. Und Kinga kannte auch den Grund dafür. Irgendwer muss den Aufsehern von der Party auf der Waldlichtung erzählt haben. Irgendwer muss sie verpetzt haben. Und was Kinga besonders belastete war der Gedanke, dass im Grund sie der Auslöser gewesen war. Solche Partys hatten schon öfter statt gefunden und bis jetzt war nie etwas passiert. Doch kaum war sie mit dabei, verschwanden zwei Menschen und ausgerechnet die beiden, mit denen sie sich am besten verstand. Das konnte kein Zufall sein. Irgendwer war ganz und gar nicht damit einverstanden, dass sie ihre Zeit mit Feiern und Männern verbrachte. Das Verschwinden von Hajo und Rabea waren sicherlich eine Warnung.

  • Kapitel 149: Veränderung




    Ich wünschte, die Feiertage hätten nie zu Ende gehen müssen. Den ersten Weihnachtsfeiertag verbrachten wir bei Dominiks Eltern, den zweiten zusammen mit meinem Bruder erneut bei uns. Die anschließende Nacht blieb dann Dominik und mir ganz allein. Doch der Morgen kam viel zu früh. "Wir müssen langsam aufstehen, Brodlowska", hauchte Dominik. Doch ich schmiegte mich nur noch enger an seine Schulter und gab vor fest zu schlafen, nur um mich nicht von ihm trennen zu müssen.






    Doch es half nichts. Mir mussten aufstehen und uns für die Fahrt zum Flughafen nach SimVegas vorbereiten. Die Kinder kamen natürlich auch mit, um sich von ihrem Vater zu verabschieden. "Pass gut auf deine Schwester und deine Mama auf, Sky", flüsterte Dominik seinem Sohn zu. "Du bist jetzt der Mann im Haus." Natürlich versprach Sky im das. Und der Junge wirkte relativ gelassen. Ich glaubte allerdings, dass dies nur daran lag, weil er nicht begriffen hatte, für wie lange sein Vater fort bleiben würde.




    Bei Klaudia sah das schon ganz anders aus. Und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte nicht zu weinen, konnte sie die Tränen nicht unterdrücken, als Dominik sich auch von ihr verabschiedet hatte und mir einen letzten Kuss gab. "In spätestens einem halben Jahr bin ich wieder bei dir, Brodlowska. Und ich werde dich jeden Tag anrufen." Ich nickte stumm und strich seinen Hemdkragen glatt. "Wir werden jeden Tag auf deine Rückkehr warten, Dominik. Und wenn du erst einmal wieder zurück bist, dann werden wir heiraten."




    Der letzte Aufruf für den Flug nach Simnistrien ertönte. Dominik tätschelte Klaudias Arm, wuschelte Sky durch die Haare und ging dann hinaus zur Gangway. Die Kinder standen am Fenster und winkten ihrem Vater zu. Der Lächelte sie kurz an und bestieg dann hastig das Flugzeug. Ich wusste, dass er es nie zugeben würde, aber ich hatte genau die Tränen in seinen Augen glitzern sehen. Zu dritt beobachteten wir, wie die Treppe beiseite geschoben wurde und das Flugzeug zur Startbahn rollte und in die Lüfte zu seinem weiten Weg nach Südamerika abhob.


    Gedanken:


    Wann würde ich Dominik wieder umarmen können? Wann würde mein Mann wieder bei mir sein? Niemand konnte mir diese Frage beantworten, doch ich ahnte bereits, dass Dominik und ich für lange Zeit von einander getrennt bleiben würden. Und dabei hatten wir gerade erst wieder zueinander gefunden. Aber er hatte Recht, als aufrichtiger Christ, nein als rechtschaffener Mensch überhaupt konnte er nicht in aller Seelenruhe tatenlos zu sehen, wie unsere Mitbürger in Simnistrien litten.


    Wenigstens hatte ich meine beiden Kinder um mich herum. Klaudia war inzwischen alt genug, um mir in dieser schweren Zeit ein wahrer Halt zu sein und Sky würde mich ein wenig von meinen Sorgen ablenken können.


    Sky war ein sehr offener, netter und aufgedrehter Junge. Gut er konnte schon ziemlich chaotisch sein und hinterließ sein Kinderzimmer am Abend oft so, als ob ein Tornado hindurch gefegt wäre, aber welches Kind tat dies nicht? Außerdem erschien er mir manchmal sehr ernst. Aber das lag womöglich daran, dass seine leibliche Mutter ihn einfach verlassen hatte. Solch ein tragisches Ereignis konnte an keinem Kind spurlos vorbei gehen. Und dass Dominik nun auch auf unbestimmte Zeit fort war, machte es nicht leichter für ihn.


    Auf dem Konto sah es nämlich nicht sehr rosig aus. Die Börse befand sich nach wie vor auf Talfahrt. Die Krise bei der SimÖl zog langsam aber sicher immer mehr Firmen mit in den Abgrund. Das merkten so langsam alle Bewohner der SimNation, denn die Preise für Benzin und Heizöl, aber auch chemische Erzeugnisse, Lebensmittel, ach, eigentlich für alle Produkte, stiegen von Tag zu Tag. Auch hatte Dominik bei seinem Einzug kaum Geld mitgebracht. Auch er hatte den größten Teil seiner Ersparnisse in Aktien der SimÖl angelegt und wie wir alles verloren. Dominik würde Dank seiner Arbeit in Simnistrien bald wieder Geld verdienen, aber wann Tristan wieder eine Einstellung fand, stand noch in den Sternen.


    Aber die anhaltende Krise hatte den Vorteil, dass ich endlich wieder ein paar Freundschaften auffrischen konnte, um die ich mich zuvor zum Teil jahrelang nicht gekümmert hatte.




    Und an einem unbekannten Ort...




    Rabea und Hajo tauchten nicht mehr auf. Der Sommer verstrich und es begann bereits, merklich kühler zu werden. Mit jedem Tag wechselte das satte Grün des Waldes mehr zu einem Farbenspiel aus Rot und Gelb. Kinga hatte sich damit abgefunden, dass es ihr nicht gestattet war, ihre Zeit hier mit etwas anderem als der Schule zu verbringen. Und um sich gar nicht erst in Versuchung zu bringen, mied sie den Kontakt zu ihren Mitschülern. Sie ging zur Schule, machte ihre Aufgaben. Der einzige Luxus, den sie sich gönnte, waren die von Hass erfüllten Gedanken an ihre Mutter vor dem Einschlafen. Und so hätte ihr Leben noch Monate lang weiter gehen können, wäre sie eines Tages nicht in ihren Bunker heimgekehrt und hätte plötzlich ein zweites Bett darin vorgefunden.



    Zunächst war sie geschockt. Der Bunker war für eine Person schon fast zu klein, wie sollte es dann erst mit zwei Menschen funktionieren? Bevor sie sich weitere Gedanken machen konnte, hörte sie schon das Quietschen des Tores und sie schaute durch die Tür. "Hallo, Kinga", begrüßte Olek sie. "Du hast sicher schon gemerkt, dass du eine Mitbewohnerin erhältst. Das hier ist Romina." Er zeigte auf ein junge Frau Anfang Zwanzig, die sich schüchtern hinter dem Tor versteckte.



    Kinga wollte noch protestieren, aber Olek stellte einfach Rominas Koffer in den Bunker und verschwand wieder, so wie er es immer tat. Kinga konnte nicht verbergen, dass sie keineswegs froh war, dass diese Fremde nun ihre Unterkunft mit ihr teilen sollte. Unsicher beobachtet Romina, wie Kinga sich frustriert die Haare raufte und sich mit den Handflächen gegen die Stirn schlug. Auch sie hätte sich ihre Ankunft gerne anders vorgestellt.




    Kinga hatte keine Lust sich mit Romina zu beschäftigen und ignorierte sie den kompletten ersten Abend lang. Sie legte sich einfach ins Bett und Romina tat es ihr schweigend gleich. Ebenfalls schweigend machten sie sich auf den Weg zur Schule und schwiegen sich auch auf dem einstündigen Rückweg an. Erst als sie wieder am Bunker waren, war Kinga bereit, sich ihrer neuen Mitbewohnerin zu öffnen. Sie setzte sich aufs Gras und machte Romina deutlich, dass sie dies auch tun sollte. "Ich bin Kinga", stellte sie sich zum ersten Mal richtig vor. "Ich weiß", antwortet das Mädchen schüchtern und klammerte sich an ihrem Knie fest. "Olek hat es mir erzählt. Es tut mir leid, dass ich dir Unannehmlichkeiten bereite. Das wollte ich nicht."




    Kinga war überrascht, dies zu hören. Sie hatte sich bis jetzt noch gar keine Gedanken darüber gemacht, dass dieses Mädchen mit der Wohnsituation genau so unglücklich sein könnte wie sie. "Und was hast du angestellt, dass du in diesem Drecksloch gelandet bist? Diebstahl? Drogen? Knast?", fragt Kinga, nun da ihr Interesse geweckt war. Romina schüttelte entsetzt den Kopf. "Ich habe gar nicht gemacht", beteuerte sie. "Ich bin sogar sehr froh, dass ich hier sein darf. Ich bin in einem Weisenhaus in Moldawien aufgewachsen und vor einigen Tagen kam eine sehr nette Frau zu mir und teilte mir mit, dass meine Schulleistungen so gut seien, dass ich in ein spezielles Förderprogramm in der SimNation aufgenommen werde. Ich bin hier um zu lernen."




    Kinga wusste selbst nach Monaten noch nicht, was sie eigentlich hier machte. Aber wenn eines klar war, dann dass das hier kein Förderprogramm für hochbegabte Waisenkinder aus Moldawien war. Aber sie sie entschied sich, dies ihrer Mitbewohnerin nicht mitzuteilen. Erstens würde sie ihr wahrscheinlich eh nicht glauben und zweitens spielte es auch keine Rolle. Sie waren nun hier und kamen nicht weg. Ändern ließ es sich so oder so nicht.




    Sie unterhielten sich noch bis tief in die Nacht. Auch Kinga erzählte Romina ihre Geschichte, wie sie von ihrer Mutter jahrelang belogen und um den Vater gebracht worden war und wie sehr ihre Mutter sie hasste und sie hierher bringen ließ. Romina war bestürzt, allerdings hauptsächlich über die Wut, die sie aus der Stimme ihrer Mitbewohnerin heraus hörte. Sie war nämlich nach wie vor dankbar, endlich dem Waisenhaus entkommen zu sein und auf eine bessere Zukunft hoffen zu können. Jeweils in ihre eigenen Gedanken versunken schliefen die beiden Mädchen ein.






    Auch in der Lehrbaracke änderte sich mit dem Eintreffen von Romina für Kinga so Manches. Prof. Elena bat die beiden, nach dem Unterricht noch zu bleiben. "Ihr werdet ab morgen Sonderunterricht bekommen", verkündete sie. "Kinga, welche Sprachen sprichst du?" "Simlisch, Englisch und etwas Polnisch", antwortete diese. "Und du, Romina?", fragte Professor Elena weiter. "Rumänisch, Russisch und Simlisch." "Ihr werdet in all diesen Sprachen ab jetzt gemeinsamen Unterricht erhalten. Ich erwarte, dass ihr euch gegenseitig unterstützt. Zusätzlich werdet ihr Spanisch und Französisch lernen. Kinga", fuhr Prof. Elena fort, "du wirst nur noch den Politik- und Erdkundeunterricht besuchen. Romina, du kommst zu Mathematik und Physik. Das war dann alles."




    Der Sprachunterricht dauerte oft bis in den späten Abend. Und er unterschied sich stark von dem, was Kinga aus der Schule kannte. Professor Rainer war alles andere als Zufrieden mit den bereits vorhandenen Kenntnissen und so musste Kinga, aber auch Romina, noch einmal ganz bei Null beginnen. Und nicht nur, dass Prof. Rainer extremen Wert auf Grammatik legte, noch viel wichtiger war ihm die Aussprache, mit der er nie, aber auch nie, zufrieden schien, egal wie sehr Kinga sich auch bemühte.




    Und dann gab es da auch noch diese ganz seltsamen Lektionen in Billard, Darts und Glücksspiel. "Kinga, ich sehe auf den ersten Blick, dass du kein gutes Blatt hast", musterte Prof. Elena sie scharf. "Du hast immer noch nicht gelernt, wie man richtig blufft. Wir üben das nun schon seit Wochen!" Es war nicht so, dass Kinga sich keine Mühe gegeben hätte. Aber die Schauspielerei war ihr offenbar nicht in die Wiege gelegt worden. Und zum anderen verstand sie beim besten Willen nicht, was das ganze sollte. Warum zum Teufel sollte sie Pokern können?!





    Sie war froh, als sie nach weiteren 1 1/2 Stunden voller Zurechtweisungen von Prof. Elena die Baracke verlassen konnte. Wutgeladen schnappte sie sich eine Axt und schleuderte sie, begleitet von einem Schrei, der den Tiefen ihrer Seele entsprang, auf die hölzerne Zielscheibe. "Ich verstehe nicht, was diese ******* soll!", schnaubte sie und warf die nächste Axt und Fluchte lautstark, als sie die Zielscheibe gerade eben traf. "Wir ackern, paucken hier wie bescheuert hundert Sprachen auf einmal, knobeln an hirnrissigen Rätseln und spielen Poker! Und keiner erklärt uns, was das ganze soll. Also ich hab langsam echt die Schnauze voll!"





    "Nun, dann sollst du deine Erklärung bekommen". Kinga zuckte panisch zusammen und ließ vor Schreck fast die Axt fallen. Sie hatte nicht bemerkt, wie die rothaarige Frau zu Romina und ihr herüber geschritten war und sie bereits eine ganze Weile beobachtet und belauscht hatte.




    Der ersten Überraschung folgte sogleich die zweite. Kinga stellte langsam die Axt ab und betrachtete eingehend die Frau, die vor ihr stand. War das möglich? Konnte es sein, dass..."Tante Ewa?", fragte sie schließlich. Die Frau vor ihr zog kaum merklich die Mundwinkel hoch, was wohl ein Lächeln andeuten sollte. "Ab heute bin ich für dich nur noch Senora Ewa. Wir mögen verwand sein, aber für solche Gefühlsduselei ist hier kein Platz." Kinga konnte es immer noch nicht fassen. Vor ihr stand ihre Großtante, die Schwester ihres Großvaters Arkadiusz Brodlowski.






    Bevor Kinga etwas erwidern konnte, kam auch schon Romina auf die beiden zu. "Diese Frau...diese Frau ist deine Tante?" fragte sie ungläubig. "Es war nämlich sie, die mich aus dem Weisenhaus in Moldawien geholt hat. Senora Ewa, ich möchte ihnen dafür danken, tausend Mal! Ich bin so froh, dass ich hier sein darf." Wieder zuckten die Mundwinkel der Frau leicht nach oben. "Du brauchst mir nicht zu danken, Romina. Du wirst Gelegenheit bekommen, uns deine Dankbarkeit zu erweisen...und zwar schon in kürze."



    "Wir können das aber nicht hier draußen besprechen". Senora Ewa schritt voran und führte die beiden jüngen Frauen ins innere der Barake. Mit einer Geste gab sie Prof. Elena zu verstehen, den Unterricht augenblicklich zu beenden und das Klassenzimmer zu räumen. Ganz offensichtlich stand Senora Ewa in der Hirarchie über den Lehrern. Romina und Kinga nahmen auf dem Boden vor der Tafel Platz und dann eröffnete Senora Ewa ihre Erklärung. "Alles, was ihr in den letzten Wochen und Monaten gelernt habt,diente der Vorbereitung für die kommende Aufgabe..."

  • Kapitel 150: Klasse



    Eindringlich blickte sie von einem Mädchen zum anderen. "Ihr beide seid ausgesucht worden, für eine Organisation zu Arbeiten. Eine Organisation, die nur die besten Männer und Frauen der ganzen Welt auswählt und selbst unter diesen nur die wenigsten bestehen lässt: "Justice". Ich muss euch nicht erklären, dass diese ganze Organisation streng geheim ist. Das geschieht zum Schutz von "Justice", zu eurem Schutz und zum Schutz unseres Landes. Ihr werdet mir vertrauen müssen. Wenn ihr dazu nicht bereit seid, dann habt ihr jetzt die Gelegenheit zu gehen. Ihr könnt durch diese Tür marschieren, eure Sachen packen und noch heute Abend werdet ihr nach Simtropolis gebracht. Die Entscheidung liegt bei euch."


    Beide Mädchen senkten den Blick bei diesen Worten. Kinga ließ sich die Worte ihrer Tante genau durch den Kopf gehen. Sie konnte von hier verschwinden. Sie konnte ihre Sachen packen und in Simptropolis ein neues Leben beginnen. Ein Leben ohne dieses scheiß Lager, ohne ihre verlogene Mutter, frei, so wie sie es immer wollte. Aber letztendlich blieb sie sitzen. Die Neugier siegte. Was würde ihre Tante noch alles offenbaren? Was genau war "Justice"? Und was war ihre Rolle darin? Die Aussicht auf Antwort auf diese Fragen reizte sie mehr, als die Aussicht auf Freiheit.


    Auch Romina blieb sitzen. Keine der jungen Frauen wollte aufgeben, jetzt, wo es begann interessant zu werden. Zum ersten Mal lächelte Senora Ewa wirklich. "Mit keiner anderen Entscheidung habe ich gerechnet. Romina, Kinga, ihr werdet diese Entscheidung nicht bereuen. Ihr brecht noch heute Abend auf und eure Reise führt euch nach....




    …..Batna in Algerien."

    Der Kontaktmann vor Ort holte die beide vom Flughafen ab. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem sicheren Haus vor Ort konnte die Mission beginnen.




    Im Zentrum der Stadt befandt sich ein angesehenes Casino. Der Kontaktmann beschrieb den Weg dorthin genau, aufgrund des pompösen Eingangsbereichs aus grünem Marmor war das Gebäude allerdings kaum zu verfehlen.



    Also die hübsche junge Frau das Casino betrat, drehte sich so mancher Mann nach ihr um. Das war nicht verwunderlich, denn immerhin war sie die einzige Frau hier. Das Lächeln auf ihren Lippen wirkte zurückhalten, strahlte gleichzeitig aber Selbstbewusstsein aus. Und das kam nicht von ungefähr. Als Tochter des algerischen Botschafters in Frankreich behandelte man sie immer mit dem Respekt, der ihrem Stand und Reichtum entsprach.




    "Darf ich mich anschließen, meine Herren?", fragte sie in perfektem Französisch und die beiden Männer am Pokertisch stimmten ohne Umschweife zu. Verspielt strich sich die Botschaftertochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte die beiden an. "Ich hoffe doch, das Glück verlässt mich heute nicht."



    Ein dritter Mann schloss sich ihnen an, dann konnte das Spiel beginnen. Die Tochter des Botschafters wusste, dass die Männer sie unterschätzen würden. Das war einer der großen Vorteile, wenn man so schüchtern wirkte. Niemand traute einem etwas zu. Um so leichter fiel es ihr, dass Spiel mit geschicktem Bluff für sich zu entscheiden. Zunächst die erste, runde, dann die zweite und selbst die dritte schien sie erneut gewinnen zu können. So langsam sah sie den Frust in den Gesichtern der anderen Männer.




    Im Nu hatte sich das Glück der jungen Botschaftertochter im Casino herumgesprochen und eine Traube neugieriger Männer bildete sich um den Pokertisch. "Ja ist es denn zu glauben, schon wieder ein Full House", rief sie erfreut aus und entschied erneut das Spiel für sich. Die umherstehenden Casinobesucher gratulierten ihr anerkennend und machten Witze über die drei armen Kerle am Tisch, die mit jeder weiteren Runde unglücklicher dreinblickten. Und dabei spielte die Frau noch nicht einmal mit getürkten Karten. Ein fundierter Pokerunterricht erlaubte ihr einfach, auf bewährte und statistisch begründete Strategien zurückzugreifen und ihr sehr gutes Gedächtnis für Zahlen aller Art machte sich in diesem Moment bezahlt.




    Und ihre Taktik ging auf. Der Reihe nach schieden ihre männlichen Mitspieler aus, bis sie am Ende mit einem Bluff das Spiel für sich entschied. Freundlich bedankte sie sich bei den drei Herren, die ob ihres zauberhaften Lächelns sofort besänftigt schienen. Ums Geld war es ihnen ohnehin nicht gegangen. Davon hatten sie mehr als genug. Als sie sich von ihrem Stuhl erhob, kam ein Scheich auf sie zu. "Darf Scheich Mahomaed sie zu einem Drink einladen?", fragte er höflich. Erneut zeigte die Botschaftertochter ihr zauberhaftes Lächeln. "Sicher doch, aber selbstverständlich nur einen Alkoholfreien. Allah sei gepriesen."




    Der Scheich führte die junge Frau an die Theke, und bestellte, ihrem Wunsch entsprechend, für sie lediglich eine Feigen-Soda. Er selbst ließ es sich aber nicht nehmen, einen Brandwein zu bestellen.
    Für einen Moslem war es verboten, Alkohol zu trinken. Die Botschaftertochter wusste dies, der Scheich wusste das. Und trotzdem kümmerte sich kaum einer im Casino um dieses Gebot. Der Alkohol floss hier genauso, wie in jedem Casino in SimVegas, Monte Carlo oder sonst wo auf der Welt. Und wenn man es genauer betrachtete, dann war das Glücksspiel an sich schon verboten.




    Die Botschaftertochter unterhielt sich angeregt mit dem Scheich. Erstaunlicherweise erwies er sich als sehr angenehmer Gesprächspartner. Dadurch viel es ihr umso leichter, ihn um ihren Finger zu winkeln, indem sie immer schön zu seinen Witzen lachte, sich öfter eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich oder wie ganz zufällig immer wieder mal ihr eigenes Dekollete berührte. Doch plötzlich bemerkte sie, dass der Scheich ihr gar nicht mehr zuhörte, ja sie nicht einmal mehr ansah. Sein Blick war auf etwas hinter ihr fixiert.



    Die junge Frau drehte sich um und erblickte ein Ausländerin in einem kurzen Minirock, einem Top, das kaum ausreichte, um ihren Busen zu bedecken, hohen schwarzen Stiefeln und Haaren, die eindeutig zu stark gebleicht worden waren. "Du meine Güte, das ist aber ein großer Raum. Wie soll ich mich hier bloß zurechtfinden?", fragte die Blondine und sah sich hilflos in dem Raum um. "Hoffentlich hilft mir jemand." Die Botschaftertochter verdrehte genervt die Augen. Nicht nur das die Frau aussah wie ein billige Hure vom Straßenstich, ihr Art zu Sprechen ließ keinen Zweifel daran, dass in ihrem Kopf nicht mehr als drei Hirnzellen die Wasserstoffbehandlung überlebt hatten.



    Aber leider schien dies keiner der Männer im Raum bemerkt zu haben, denn sofort wurde die Blondine umringt von einer ganzen Schar von Männern, die ihr nur zu gerne ihre Hilfe anboten. Zur Verärgerung der Botschaftertochter war auch Scheich Mahomaed, der vor wenigen Minuten noch ihr seine ganze Aufmerksamkeit gewidmet hat, darunter.



    Er nahm die Tochter des Botschafters nicht einmal mehr wahr, als er die übrigen Männer von der Blondine wegscheuchte und sie mit an die Bar führte, um ihr einige, eindeutig alkoholhaltige, Drinks auszugeben und sich ihr dämliches Gequatsche anzuhören. Die dunkelhaarige Frau konnte lediglich zusehen und ihre Lippen zu einem Schmollmund verziehen.



    Die Blondine wurde dann vom Scheich an einen Poker-Tisch geführt. Verwirrt betrachtete sie die Jetons und kratzte sich am Kopf. "Hat es etwas zu bedeuten, dass dies Plättchen unterschiedlich Farben haben?", fragte sie und blickte die Männer am Tisch mit ihren großen, grauen Augen an. Diese lachten herzlich. "Keine Angst, mein goldenes Täubchen", säuselte der Scheich und strich dabei der Blondine unter dem Tisch über das Knie, "Ich erkläre dir das Spiel schon." "Okay", antwortet diese lang gezogen und ließ dabei eine Kaugummiblase platzen. Anstalten, etwas gegen die Hand auf ihrem Knie zu unternehmen, machte sie aber nicht.



    Die Botschaftertochter beobachtete das Spektakel von der Theke aus und wurde zunehmend wütender auf diese blonde Flittchen. Was fiel dieser unverschämten Person ein hier einfach aufzutauchen und ihr die Show zu stehlen? "Ach!", kreischte die Blondine schrill. "Ich habe schon wieder gewonnen." Sie klatschte vergnügt in die Hände. "Dabei dachte ich, dass diese komische Karte mit dem A drauf gar nichts wert ist. Ich Dummchen ich, hihihi." Beim Klang ihrer dümmlichen Lache wäre der Tochter des Botschafters fast der Hals geplatzt. Zum Glück für die Blondine kam gerade der Kellner und brachte ihr die nächste Flasche Champagner von Scheich Mahomaed mit.



    Doch irgendwann hatte die Botschaftertochter genug. Als die dreiste Blondine auch noch anfing sichtlich angetrunken lasziv für die Männer im Casino zu tanzen, reichte es ihr. Es fehlte nur noch eine Stange und die Botschaftertochter hätte meinen können, sie sei in irgendeinem Bordell am Stadtrand. Immerhin war dies ein Ort, an dem Klasse vorausgesetzt wurde. Und Klasse war das letzte, was diese billige Flittchen aus dem Westen besaß.

  • Kapitel 151: Gelob sei Allah



    Zielstrebig ging die Tochter des Botschafters auf die Mitarbeiter des Casinos zu. "Sorgen sie dafür, dass dieses blonde Flittchen umgehen aus dem Casino verschwindet", forderte sie die beiden Männer auf und die Art ihres Auftretens ließ keinen Zweifel daran, dass sie eine umgehende Reaktion ohne Widerworte erwartete. Ein Moment zögerten die Männer, doch als ihnen bewusst wurde, dass hier die Tochter eines Botschafters vor ihnen stand, zögerten sie keine Minute länger.



    Wenig sanft schoben sie den Scheich und einige weitere gaffende Männer zur Seite. "Madame, verlassen sie umgehend diese Gebäude. Ihr verhalten ist hier weder angebracht, noch erwünscht." Die Blondine blickte überrascht drein und wollte protestieren, doch einer der Wachleute packte sie unsanft an den Schultern und drehte sie herum, um sie zum Ausgang zu begleiten.



    Doch während er das tat, war deutlich das Geräusch von reißendem Stoff zu hören. Der Wachmann hielt inne und die Blondine bemerkte, dass ein Träger ihres Tops durch seine unsanfte Behandlung gerissen war. Augenblicklich wurde sie hysterisch und fing an zu schreien und weinen. "Mein Top ist zerrissen! Wie soll ich den jetzt auf die Straße gehen. Ich bin doch halb nackt! So kann ich niemals raus gehen! Was werden die Leute bloß denken?"



    Um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, führte der andere Sicherheitsmann die hysterische Frau, deutlich sanfter als sein Kollege, in das Sekretariat des Casino-Managers im ersten Stock des Gebäudes. Hier würde sie die übrigen Gäste nicht länger belästigen und er konnte eine der Köchinnen aus dem Restaurant beauftragen, der Simropäerin etwas Neues zum Anziehen zu besorgen.



    Derweil beschwerte sich die Tochter des Botschafters energisch über die Zustände, die im Casino herrschten. Und dabei ging es ihr nicht um die unsanfte Behandlung der Blondine, denn in ihren Augen hatte diese nichts anderes verdient. "Ein solches Flittchen wie die hätte dieses Haus überhaupt nicht betreten dürfen. Wo sind denn Klasse und Exklusivität geblieben? Wird hier jetzt jeder Hure der Zutritt gewährt? Ich will auf er Stelle mit dem Manager des Casinos sprechen. Auf der Stelle!"



    Eine hysterische Frau pro Tag war dem Wachmann eindeutig genug. Also rief er umgehend seinen Chef an und teilte ihm mit, dass eine unzufriedene Kundin unten im Casino wartet. Sollte sein Boss sich darum kümmern, immerhin war das sein Job. Widerstrebend erhob sich der Casinomanager aus seinem gepolsterten Korbsessel und verließ sein Büro. Er nahm die weinende Frau im Vorzimmer kaum wahr, als er hindurch schritt und die Tür zu seinem Büro in ihr elektronisches Schloss fiel.




    Jetzt musste alles schnell gehen, denn es bleiben nur wenige Minuten Zeit. Die Tür war hinter dem Casinomanager kaum ins Schloss gefallen, da hatte die Blondine, Kinga, ihren hysterischen Heulkrampf längst wieder vergessen und kramte aus ihrer winzigen Handtasche eine Kreditkarte hervor. Nur war dies gar keine Kreditkarte, sondern eine Karte zum überbrücken von Sicherheitsschlossern. Sie schob die Karte in das elektronische Schloss an der Wand neben der Tür zum Büro des Managers und konnte beobachten, wie in wenigen Sekunden, eine Zahl nach der anderen des sechsstelligen Türcodes geknackt wurde. Nach nicht mal 30 Sekunden ertönte ein langgezogener Piepton, und die Tür sprang auf.



    Kinga blickte sich ein letztes Mal um und schlich sich in das Büro des Casinomanagers. Es sah innen genauso aus, wie Senora Ewa es ihr beschrieben hatte. An der rechten Wand befand sich eine Regalwand mit dem eingelassenen Tresor. Anstelle eines Schlosses oder Zahlenrades befand sich in der Mitte des Safes aber ein kleines Display mit einem Mikrofon. Nur die Stimme des Managers selbst würde den Tresor öffnen und nur, wenn er dazu das richtige Codewort sprach. Aber für diesen Teil war Romina zuständig. Sie konnte nur angespannt vor dem Tresor warten, bis ihre Partnerin sich meldete.



    Der Casinomanager war inzwischen bei der Tochter des Botschafters eingetroffen, die niemand anderes als Romina war. Immer noch gab sie sich entrüstet über die Zustände in dem Casino. Der Manager war bemüht sie zu beschwichtigen, aber sie ließ nicht mit sich reden. "Sorgen sie dafür, dass so eine wie DIE, nie wieder einen Fuß in dieses Casino setzt. Wenn nicht, dann erzähle ich meinem Vater, dass hier nicht nur Glückspiel betrieben wird, sondern auch noch Alkohol ausgeschenkt und Stripperinnen geduldet werden. Er ist sehr gut mit dem Imam von Batna befreundet. Es wird ihn sicher interessieren, was hier so passiert."



    Jetzt bekam es der Manager mit der Angst zu tun. Wenn der Imam ganz offensichtlich auf das nicht ganz legale Treiben im Casino aufmerksam wurde, dann konnte er gar nicht anders handeln, als den Laden hoch gehen zu lassen. Und dann wäre er, der Casinomanager, ganz sicher seinen Job los. Nein, das wollte er nun wirklich nicht riskieren. "Seinen sie versichert, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Ich werd meine Sicherheitsmänner anweisen, mehr darauf zu achten, wer hier Zutritt bekommt." "Gelobt sei Allah!", erwiderte Romina und so wie sie es geplant hatte, hob der Casinomanager seine Hand zu Himmel und pries den Allmächtigen. "Gelob sei Allah!"



    Das war der Code! Über ein Mikrofon in Rominas Ausschnitt wurde die Stimme des Casinomanagers aufgezeichnet und augenblicklich zu Kinga im ersten Stock übermittelt. "Voice Identification Successful" erschien im Display des Tresors und er öffnete sich mit einem lauten Klick.



    Im Safe befanden sich eine Menge Bargeld, Wertpapiere, Dokumente und eine DVD. Und genau auf diese DVD hatte Kinga es abgesehen. Schnell schob sie den Datenträger in das Laufwerk des PCs des Managers und schloss ihren USB-Stick, der geschickt im inneren ihres Lippenstiftes verborgen war, an den Computer an. Die Datenübertragungsgeschwindigkeit des Sticks übertraf alles, was momentan frei auf dem Markt erhältlich war und so wurden die Daten von der DVD, Angaben über die Kunden des Casinos, die hier nicht nur dem Glücksspiel frönten, sondern den Ort auch für illegale Geldwäsche nutzten, in wenigen Augenblicken auf den USB-Stick kopiert.



    Und dennoch schaffte Kinga es gerade im allerletzten Augenblick, den PC auszuschalten, die DVD wieder im Tresor einzuschließen und das Büro des Casinomanagers zu verlassen. Gerade als die Tür ins Schloss viel, trat auf schon der Manager in das Vorzimmer. Die Überraschung war Kinga deutlich ins Gesicht geschrieben. Doch sie überspielte sie schnell mit einem schrillen Lachen. "Hahaha, ich Dummchen hab so einen Aufstand gemacht, dabei ist gar nichts passiert. Sehen sie, ich hab den Träger einfach zusammen geknotet. Ist jetzt fast wie neu. So, ich geh dann jetzt auch, ich will mich ja noch an den Strand legen. Also, ciaaao!"



    Winkend ging sie an ihm vorbei. Kopfschüttelnd beobachtete der Casinomanager, wie die seltsame Blondine die Treppe hinunter stieg. Frauen, wer würde sie jemals verstehen können? Er zuckte mit den Schultern und ging dann zurück in sein Büro. Die Pause hatte er sich verdient.



    Kinga hatte große Mühe damit, nicht sofort los zu laufen. Doch kaum war sie um die nächste Straßenecke gebogen, riss sie sich die blonde Perücke vom Kopf und eilte zu dem vereinbarten Treffpunkt mit Romina. Diese wartete bereits auf sie und hatte sich ebenfalls schon des Abendkleides entledigt. Überglücklich viel Kinga ihrer Partnerin um den Hals "Sch**** war das geil! Wir haben es tatsächlich geschafft! Jetzt müssen wir nur noch darauf warten, dass wir abgeholt werden. Wir haben unseren ersten Auftrag gemeistert!"




    Doch leider hatten sich die beiden zu früh gefreut. Plötzlich hörten sie einen Tumult hinter sich und als sie über die Schulter blickten, sahen sie die beiden Wachmänner mit Pistolen in der Hand auf sie zurennen. "Da sind die beiden Diebinnen!", schrei einer von ihnen und noch bevor Kinga und Romina genauer darüber nachdenken konnten, waren sie auf der Flucht.




    Schüsse fielen. Kinga legte ihre Hände schützend um ihren Kopf, bis ihr dann bewusst wurde, dass das kein Stück gegen eine Kugel helfen würde. Zudem verfluchte sie sich dafür, dass sie immer noch die hochhackigen Stiefel trug. Die beiden Frauen hasteten durch die engen Gassen Batnas, mitten hindurch durch Menschenmassen und Basarstände. Doch die beiden Wachmänner blieben ihnen auf den Fersen und holten immer weiter auf.




    Es würde Kinga auf ewig ein Rätsel bleiben, wie sie trotz der Angst und der Schüsse den richtigen Weg zum vereinbarten Treffpunkt gefunden hatten. Aber der grüne Lieferwagen wartete bereits auf sie und ihr Kontaktmann erkannte sofort die brenzlige Situation und ließ augenblicklich den Motor laufen. "Springt in den Wagen und dann nichts wie weg hier!", rief er den Mädchen zu und das ließen sie sich kein zweites Mal sagen. Erst als das Fahrzeug in sichere Entfernung war, fielen die beiden sich weinend in die Arme. Jetzt hatten sie es wirklich geschafft.

  • Kapitel 152: Niemals aufgeben



    Auf dem Rückflug von Algerien schliefen die beiden wie zwei Steine. Doch kaum waren sie in ihrem kleinen Bunker im Wald angekommen, war alle Müdigkeit wie weggeblasen. "Das war der absolute Hammer!", schwärmte Kinga immerzu. "Und ich dachte wirklich, die beiden Typen würden uns abknallen. Peng, peng! Ich bin im Leben noch nicht so schnell gerannt. Und das in Heels!"



    "Glaubst du...glaubst du, Senora Ewa wird uns noch auf weitere Missionen schicken? Sie ist doch deine Tante, du musst mit ihr reden! Ich hab mich noch nie so lebendig gefühlt, wie in diesen wenigen Stunden." "Sie wäre dumm, wenn sie uns nicht wieder los schicken würde. Immerhin hat alles problemlos geklappt. Wir haben die Daten besorgt. Damit kann "Justice" sicher einigen Gaunern das Handwerk legen. Und wir haben dazu beigetragen! Ich kann es immer noch nicht ganz begreifen."



    So ging das die ganze Nacht hindurch, bis die Mädchen dann schließlich doch den Weg in ihre Betten fanden. Am Morgen wurde Kinga vom Klopfen an der Tür geweckt. Verschlafen öffnete sie und fand ihre Großtante, Senora Ewa, vor. Diese Betrat den Bunker einfach, ohne auf eine Einladung zu warten. Auch Romina wurde langsam wach und Kinga begann sofort aufgeregt von ihrem Einsatz zu berichten.



    "Der Bericht lag heute Morgen auf meinem Schreibtisch", unterbrach sie ihre Nichte. "Und für euren ersten Einsatz habt ihr beide euch sehr gut geschlagen." "Erster Einsatz? Soll das heißen, es warten weitere Aufgaben auf uns", palpperte Kinga einfach dazwischen. Senora Ewa lachte. "Aber natürlich! Nur nicht jetzt, eure Ausbildung ist noch lange nicht abgeschlossen. Ihr müsst diesen Einsatz eher als einen kleinen Vorgeschmack darauf sehen, was euch in Zukunft bei "Justice" erwarten kann. Aber dafür müsst ihr euch beide anstrengen. Ihr dürft nicht mit halbem Herzen dabei sein. Wir verlangen euren vollen Einsatz."



    "Und den wird die Organisation von mir auch bekommen", versicherte Kinga ohne zu zögern. "Ich...ich habe diesen Ort gehasst, als ich hier her kam, weil ich nicht verstand, was ich hier sollte. Ich dachte, es wäre nur, damit meine Mutter mich einfach wie ein Stück Abfall entsorgen kann. Aber ich habe mich geirrt. Ich hasse meine Mutter nach wie vor, aber es verschafft mir Genugtuung, dass ich durch sie nur noch stärker geworden bin."



    "Hass ist eine sehr starke Emotion, Kinga. Bewahre ihn dir, denn er kann dir eine Quelle der Kraft sein. Aber sei vorsichtig, dass er dich nicht übermannt. Sonst zerstört er dich und es wäre wahrlich eine Schande, wenn "Justice" dich verlieren würde", warnte Senora Ewa sie eindringlich und hoffte, dass Kinga die volle Tragweite ihrer Worte verstand.




    "Aber ich bin noch wegen einer anderen Angelegenheit hier", erklärte Senora Ewa. "Ich möchte, dass ihr Eure Sachen zusammen packt. Ihr werdet noch im Laufe des Tages in ein anderes Haus umziehen. Es wird nicht mehr Luxus bieten, als diese hier, aber es ist näher an der Lehrbaracke gelegen und ihr beide werdet nicht länger isoliert werden. Versucht Kontakte zu euren Kommilitonen zu knüpfen. Es kann nicht schaden, wenn ihr früh eure zukünftigen Kollegen bei "Justice" kennen lernt." "Natürlich, Senora Ewa", pflichtete Romina ihr bei und konnte sich ein Kinga gewidmetes verstohlenes Lächeln nicht verkneifen.







    Am Nachmittag kam Olek vorbei und holte die wenigen Sachen ab, die die beiden jungen Frauen besaßen. Mitfahren durften die zwei allerdings nicht. So brachen die beiden zu Fuß zu der Holzhütte auf, die ihnen Olek beschrieben hatte. Wie der Bunker, lag auch diese mitten im Wald, der sich inzwischen in goldenen Herbstfarben präsentierte, aber zur Lehrbaracke waren es gerade einmal 20 Minuten Fußweg.



    Neugierig blickten die beiden sich in ihrem neuen Zuhause um. Und auch wenn es groß war, viel großer als ihr winziger Bunker, fand sich darin doch keine Menschenseele. "In unserem Schlafraum steht noch ein drittes Bett, aber es sieht noch vollkommen unbenutzt aus", verkündete Romina, als sie zu Kinga in den Gemeinschaftsraum kam. "Hier lag ein Zettel", erklärte diese. "Wir sollen unter dieser Nummer hier anrufen." Kinga blickte sich in dem Raum um und entdeckt gleich ein uraltes Telefon an der Wand.



    "Na ob das alte Ding noch funktioniert?" Romina betrachtete den Apparat skeptisch. Aber ein Signal war zu hören. Wählen konnte sie trotzdem nicht. "Du Kinga, da sind gar keine Tasten und auch keine Drehscheibe. Wie soll ich denn da anrufen?" "Hör mal, ob sich jemand meldet", riet Kinga ihr und tatsächlich hörte sie nach wenigen Augenblicken eine Stimme. "Mit wem soll ich verbinden?" Schnell winkte Romina Kinga zu sich und wies sie an, ihr den Zettel zu zeigen. "Verbinden sie mich mit der Nummer..."



    Romina wartete, dann meldete sich ein Mann. Ohne sich vorzustellen, finge er an zu reden. "Fräulein Gordienko, Fräulein Blech, Sie werden sich um die neuen Studenten kümmern, die wir ihnen in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten vorbei schicken werden. Sorgen sie dafür, dass sie sich hier gut zurechtfinden und machen sie sie mit den hier üblichen Methoden vertraut. Sie entscheiden, wann die Studenten bereit sind, bei ihnen einzuziehen. Kein Wort über "Justice", keine wilden Partys, keine Ausschweifungen. Sie tragen jetzt die Verantwortung. Die ersten Studenten werden noch in dieser Woche eintreffe. Wir verlassen uns auf sie." Und dann legte er auf, ohne dass Romina noch irgendetwas erwidern konnte.






    Und bereits im Verlauf der Woche kamen zwei junge Frauen vorbei und standen ratlos vor der Baracke. "Nun, dann machen wir uns mal an die Arbeit", sagte Kinga zu Romina und die beide traten vor die Hütte. Tabea entsprach sowohl von ihrer Kleidung, als auch von ihrem Verhalten her, eher Kinga, deshalb nahm sie sich ihrer an. "Was geht ab? Du bist also neu hier?", sprach sie Tabea direkt an. Romina dagegen versuchte es bei Linda erst einmal auf die höfliche Art.



    Dumm war nur, dass weder Romina und Kinga genau wussten, was von ihnen erwartet wurde. Wie sollten sie wissen, dass die beiden jungen Frauen bereit waren hier einzuziehen? Ein Gespräch konnte auf alle Fälle nicht schaden, also wurden beide in die Hütte gebeten. Schnell zeigte sich, dass Linda ein eher verschlossener Mensch war, der sich lieber hinter einem Buch versteckte und den Kontakt zu Menschen mied. Damit war sie Romina gar nicht unähnlich, was augenblicklich eine Verbundenheit zwischen den Mädchen erzeugt. Tabea war hingegen sehr redselig.



    Sie kam ziemlich direkt darauf zu sprechen, wie sie in diesem Lager gelandet war. "Meinen Vater hab ich nie kennengelernt. Wird wohl ein Freier meiner Mutter gewesen sein. Nach meiner Geburt hat sie für eine kurze Zeit aufgehört anzuschaffen, aber der Job als Putzfrau war nix für sie. Also begann sie wieder damit, Männer mit nach Hause zu bringen. Als ich 11 war, hatte ich keinen Bock mehr darauf, meine Mutter jeden Morgen betrunken im Bett vorzufinden und sie wieder aufzupäppeln. Außerdem merkte ich schon damals, dass ihre Freier viel zu viel Interesse an mir zeigten. Also bin ich abgehauen, lebte mal auf der Straße, mal im Heim und mal bei Pflegeltern. Manchmal war‘s gar nicht übel, aber die kamen nie damit klar, dass ich mir nichts sagen ließ und ab und an gerne meine Fäuste sprechen lasse. Tja, und jetzt bin ich hier. Mal schauen, wie lange es mich hier hält."




    So schnell wirst du hier nicht wegkommen, dachte Kinga, behielt es aber für sich. Sie hatte ja selbst die Erfahrung gemacht, dass man nicht so leicht aus diesem Lager verschwinden konnte. Inzwischen fand sie es aber auch nicht mehr so schlimm hier. Ihre neue Behausung erlaubte ein recht angenehmes Leben und isoliert wurden Romina und sie auch nicht mehr länger, was bedeutete, dass sie sich öfter mal nach dem Unterricht mit irgendwelchen Kommilitonen treffen konnte. Sogar Pizza war plötzlich drin, die ab und an am Haus abgestellt wurde...wenn auch zu unmöglichen Zeiten.




    Die Wochen zogen ins Land und immer wieder kamen neue Anwärter vorbei. Heidemarie hatte bereits gehört, dass sie aus ihrer baufälligen Baracke hierher wechseln könne, wenn Kinga sie aufnahm. Allerdings war dieser immer noch nicht klar, was genau ein Bewerber erfüllen musste, um aufgenommen zu werden? Da halfen auch Heidemaries schmeichelnde Worte nicht.




    Romina begrüßte derweil einen jungen Mann, der unsicher vor dem Haus auf und ab lief. "Hallo, kann ich dir helfen?", fragte sie ihn und er blickte sie aus großen, verschreckten Augen an. "Ich...ich weiß nicht", stotterte er. "Ich bin so verwirrt. Ich wollte doch nur zum College und das Angebot dieser Frau hörte sich so gut an. Keine Studiengebühren, exzellente Ausbildung. Und jetzt bin ich hier mitten im Wald in Holzhäusern. Ich darf nicht telefonieren, nicht ins Internet. Was denken meine Eltern bloß? Sie machen sich bestimmt furchtbare Sorgen. Ich...ich will hier wieder weg."




    Er drehte sich um und wollte zurück in den Wald rennen, in die Richtung, aus der er gekommen war. Doch Romina hielt ihn auf. "Deine Eltern sind beruhigt", log sie. "Die Leitung hier hat sie über alles in Kenntnis gesetzt." Natürlich wusste Romina nicht, ob Senora Ewa oder jemand anderes so etwas getan hatte, aber sie ging stark davon aus. Wie sonst sollten sie das Verschwinden eines jungen Mannes verheimlichen können? "Glaub an dich…" Romina stoppte, weil sie den Namen des verängstigten Jungen nicht kannte. "Willi, Willi Kaster!", stellte er sich schnell vor. "Glaub an dich, Willi", Romina gab ihm die Hand, die er lächeln annahm. "Du kannst hier sehr viel lernen. Gib nicht auf."





    "Meinst du, wir sollen die Neuen testen, bevor wir sie aufnehmen?", fragte Kinga, als die beiden nachts in ihren Betten lagen. "Kann schon sein", entgegnete Romina. "Wir können es ja ausprobieren." "Gut, dann übernehme ich Heidemarie". "Und ich Willi", flüsterte Romina und wurde dabei ein klein wenig rot im Gesicht.

  • Kapitel 153: Verwirrtes Herz


    Als Heidemarie in den nächsten Tagen wieder bei der Baracke auftauchte, wies Kinga sie an, sich um das Haus zu kümmern. Geschirrspülen, Bettenmachen, Fegen, Wischen, Müllrausbringen. Das volle Haushaltsprogramm eben. Da sie wusste, dass es um ihre Aufnahme ging, zeigte Heidemarie keinerlei Widerstand und erledigte jede gestellte Aufgabe anstandslos.


    Und auch Romina zwang Willi zu diesen Arbeiten. Aber es tat ihr schon leid, ihn Putzen und Schrubben zu sehen. Irgendwie kam es ihr nicht richtig vor. Er war ohnehin schon so durcheinander. Vielleicht schmiss er einfach alles hin, wenn er weiter so drangsaliert wurde? Aber vielleicht war das genau das Ziel dieser Aufgabe? Vielleich sollte erst einmal getestet werden, wie weit die einzelnen Kandidaten zu gehen bereit waren?



    Tabea und Kinga verstanden sich super und für Kinga war schnell klar, dass sie Tabea einziehen lassen wollte. Sie rief wieder bei dem mysteriösen Mann an und der teilte ihr nur mit, dass sie diese Entscheidung allein treffen sollte. Also benachrichtigte sie Tabea am nächsten Abend, dass dies nun hier wohnen würde. Auf die Idee, Tabea überhaupt zu fragen, ist sie gar nicht erst gekommen. Und so zog Tabea ein. Romina hatte sich noch lange nicht entschieden, ob jemand bereit war, einzuziehen. Und mit Vroni hatte sie bereits einen dritten, potenziellen Einzugskandidaten.



    Draußen wurde es immer kälter. Die goldenen Blätter fielen von den Bäumen und eines Morgens war die gesamte Landschaft von einer dünnen Schneedecke überzogen. Das allein war schon Grund genug zur Freude für Romina, die sich noch gut an die Winter in Moldawien erinnern konnte. Nicht alles war dort schlecht gewesen...aber doch das meiste. Überrascht stellte sie fest, dass vor dem Haus einige verschlissene Sofas herumstanden, deren Zustand sie durch wildes darauf Herumhüpfen überprüfte. Just in diesem Moment tauchte ein weiterer Anwärter vor der Baracke auf.


    Peter war ein Waisenkind, genau wie Romina auch. Und auch er kam aus Ost-Simropa, genauer aus Simbirien. Romina fand ihn auf Anhieb sehr sympathisch und bat ihn, öfter vorbei zu kommen. Sie hatte das Gefühl, dass er der Richtige sein könnte, um hier einzuziehen. Zudem hoffte sie, dass sie ihn ein wenig aufheitern konnte, denn Peter fiel es nicht leicht, sich zurechtzufinden. Su unglaublich es für Romina klang, aber er vermisste sein altes Leben im Waisenhaus und da halfen auch Rominas aufmunternden Worte wenig.


    Ein Brand in der Küche versetze die Mädchen und die anwesenden Besucher in helle Aufregung. Kinga war aber geistesgegenwärtig genug, den Feuerlöscher aus dem Küchenschrank zu greifen und das Feuer schnell zu ersticken. Hätte sie nur wenige Sekunden gezögert, dann wäre womöglich die ganze Holzhütte in Flamen aufgegangen. Und diese Bracke war zu ihrem Zuhause geworden, dem einzigen Zuhause, das sie noch besaß.



    Nach diesem Schrecken gönnten sich Kinga und Romina einen Tag im Schnee. Es gab keinen Unterricht, keine Besucher standen vor der Tür. Also wurden Schneeballschlachten ausgetragen und Schneeengel gemacht.



    Romina versuchte sich auch an einem Schneemann. Mit Möhrennase und Besen in der Hand bewachte er das Haus.




    Peter kam oft vorbei und erledigte alle Aufgaben, die ihm von Kinga und Romina gestellt wurden. Romina war eigentlich so weit, ihn endlich in das Haus aufzunehmen. Doch etwas hielt sie zurück. Jedesmal, wenn sie Peter sah, wurde ihr ganz anders und dieses Gefühl verwirrte sie. Peter war nicht gerade das, was man einen hübschen Mann nennen würde, und dennoch, Romina fühlte, wie sie mehr und mehr ihr Herz an ihn verlor. Und genau da lag das Problem. Beziehungen unter den Studenten wurden hier im Lager nicht gern gesehen. Und ganz sicher würden sie nicht in ein und derselben Baracke geduldet werden.


    Als wartete sie mit ihrer Entscheidung und hängte sich umso mehr in ihre Ausbildung rein. Mit den Möbeln, die eines Nachts vor der Hütte standen, hatten Kinga, Romina und Tabea eine Art Wohnzimmer eingerichtet. Als dann auch noch ein Fernseher vor der Tür stand, war die Freude groß. Allerdings konnte man damit nur zu bestimmten Zeiten und nur ganz bestimmt Sendungen empfangen. Trotzdem war dies besser als nichts und Kinga versüßte sich ihre Fitnessübungen, indem sie zur Musik von "Dance TV" seilhüpfte.


    Da Heidemarie alle Aufgaben ohne zu murren erledigt hatte, entschloss Kinga sich dazu, auch sie aufzunehmen. Heidemarie fiel ihr daraufhin überglücklich um den Hals. Kinga kam diese Freude etwas gestellt vor, aber so erging es ihr bei vielen Dingen, die Heidemarie tat und sagte. Und trotzdem, Heidemarie hatte die Fähigkeit Menschen um ihren Finger zu wickeln und sie auf sehr subtile Weise zu manipulieren. Mit ein bisschen mehr Übung würden selbst bei Kinga die letzten Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit verschwinden...und das bereitete ihr ein klein wenig Unbehagen.



    Inzwischen machten Kinga die Aufnahmetests mit den neuen Studenten richtig Spaß. Und der harte Winter bot da viele Möglichkeiten, um die Bewerber bis an ihre Grenzen zu treiben. Gertrude für über eine halbe Stunde barfuß und bis zu den Knien im Schnee versunken einen dämlichen Tanz aufführen zu lassen, gehörte sicherlich dazu. Aber Gertrude meisterte diese Prüfung mit Bravour und beklagte sich nicht, obwohl sie sich zum Teil heftige Erfrierungen an den Zehn holte. Für diese Leidensfähigkeit bewunderte Kinga ihre Kommilitonin. Ja, Gertrude war ganz sicher auch bereit, zu ihnen in die Hütte zu ziehen.


    Zudem machten sich ihre handwerklichen Fähigkeiten im Haushalt sehr gut. Anders als in der Sierra Simlone, konnte man hier, mitten im nirgendwo, nicht einfach den Handwerker rufen, wenn etwas kaputt war. Gertrude zeigte sich sehr geschickt darin, solche Dinge wieder in Ordnung zu bringen.



    Und Kinga konnte eine Menge von ihr lernen. In Zukunft würden kaputte Computer sie nicht mehr zur Verzweiflung bringen, sondern sie konnte selbst zum Schraubenzieher greifen und den Schaden beheben.



    Während Kinga nun schon drei neue Mitbewohner in die Barke eingeladen hatte, hatte Romina sich noch immer für niemanden entschieden können. Linda war einfach sehr distanziert. Immer in ihre Bücher vertieft, drang selbst Romina nicht zu ihr durch. Außer, es betraf irgendwelche wissenschaftlichen Fragestellungen. Dann redete Lind wie ein Wasserfall. Und Willi? Nun, da gab es das nächste Problem. Ganz eindeutig sah er mehr in Romina, als nur eine nette Kommilitonin und Mitbewohnerin.




    Und auch wenn Romina sich durchaus geehrt fühlte, so musste sie seine Annährung doch zurückweisen. Sie konnte nicht abstreiten, dass sie ihn möchte, vielleicht sogar mehr, als sie sollte, aber ihre Gefühle für Peter gingen noch weit darüber hinaus. Aber diese Gefühle waren ohnehin bedeutungslos. Egal ob Peter oder Willi, eine Beziehung war einfach nicht denkbar. Und das teilte sie Willi behutsam, aber dennoch bestimmt mit.

  • Kapitel 154: Borkenkäfer




    Wenn fünf Frauen unter einem Dach leben, dann kommt es unweigerlich dazu, dass sie sich irgendwann an die Gurgel gehen. In diesem Fall waren es Heidemarie und Tabea. Die beiden waren in ihrem Charakter grundverschieden. Tabea hätte am liebsten jeden gleich eine reingehauen, der sie nur schief anguckte und Heidemaries herzallerliebste, vor Schleim fast schon triefende Art ging ihr gehörig auf den Zeiger.



    Und auch das herzerweichende Weinen ihre Mitbewohnerin ging ihr am A**** vorbei. "Jetzt hör mit diesem gekünstelten Gejammer auf, Püppchen!", setzte Tabea eins drauf. "Nur weil wir unter einem Dach leben, müssen wir keine besten Freundinnen sein, kapiert. Lass mich mit deinem Getue zufrieden und wir haben beide kein Problem miteinander." So wie es aus sah, hatte selbst Heidemaries Charme seine Grenzen.



    Als der Frühling kam, lebten somit fünf Frauen in der Baracke. Romina, Kinga, Gertrude, Tabea und Heidemarie. Kinga hatte nie eine Rückmeldung bekommen, ob ihre Entscheidung, die drei aufzunehmen, richtig war. Da sich aber niemand beschwerte, ging sie davon aus, dass alles im Lot sei. Dafür fanden die fünf Frauen immer wieder sperrmüll vor der Hütte und hatten sich ihre Baracke bald auch recht gemütlich eingerichtet.


    Eines Nachmittags kam Gerd, ein Typ, mit dem sich Tabea frühere eine Baracke geteilt hatte, wütend aus dem Wald gelaufen und ging auf sie los. "Du dumme Kuh, du hast mich doch bei Prof. Elena verpetzt! Aber das werde ich dir heimzahlen!"



    Wenn man bei jemandem mit falschen Anschuldigungen vorsichtig sein sollte, dann war es Tabea. Sie brauchte gar nichts zu sagen, sondern ballte lediglich ihre Fäuste und knurrt Gerd wütend an. Der wich erschrocken zurück und hob beschwichtigend die Hände. "Ist ja gut, ist ja gut. Vielleicht...vielleicht hab ich mich ja auch geirrt. Das kann doch passieren. Ich hau dann mal lieber wieder ab."


    Romina beobachtet die ganze Szene schmunzelnd. Tabea konnte sich wirklich behaupten. Im Stillen bewunderte sie ihre Mitbewohnerin dafür. "So, jetzt aber wieder an die Arbeit, Mädels", wies sie Tabea und Gertrude an, die beide ihre Schaufeln wieder in die Hand nahmen und das Grundstück umgruben. Den genauen Sinn dieser Arbeit verstand selbst Romina nicht, aber eines Morgens standen zwei Schaufeln an die Wand gelehnt neben dem Eingang mit dem Hinweis "benutzen" drauf. Und jetzt durften Tabea, Gertrude und Heidemarie abwechselnd die Erde neben der Baracke umbuddeln.



    In den Wintermonaten war der Unterricht in der Lehrbaracke wie üblich verlaufen. Kinga und Romina besuchten, die gewohnten Fächer, bekamen intensives Sprachtraining. Und auch die abendlichen Lektionen in Glücksspiel wurden fortgesetzt. Gelegentlich beteiligten sich auch potenzielle Bewerber, wie etwa Vroni an den Lehrveranstaltungen, was den beiden Frauen die Möglichkeit gab, sich auch außerhalb ihrer Baracke besser kennen zu lernen.


    Doch sobald es wärmer wurde, änderte sich das Programm für die beiden. Unter der Anleitung von Professor Don wurde nun auch dafür gesorgt, dass Kinga und Romina körperlich fit wurden. Stundenlang trieb Prof. Don sie durch den Hindernis-Parcours, ließ sie im Staub kriechen und Holzwänden hinaufklettern, die kaum Halt boten.


    Romina hatte mit dieser Art des Trainings sichtlich mehr Schwierigkeiten, als beim Lösen von mathematischen Gleichungen und dem Erlernen neuer Fremdsprachen. Auch Kinga wurde an ihre Grenzen getrieben. Doch schon lange hatte sie der Ehrgeiz gepackt, das alles bestehen zu wollen. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Niemals! Und so biss sie die Zähne zusammen und holte das Äußerste aus sich heraus. Und dabei stellte sie mit jedem weiteren Tag fest, dass sie ihre Grenzen noch nicht annähernd erreicht hatte.



    Doch auch Romina gab ihr Bestes. Der Einsatz in Algerien spornte sie weiterhin an. Und sie wusste, nur wenn sie alles gab, dann hatte sie überhaupt eine Chance bei "Justice" zu bestehen. Und so prügelte sie mit aller Kraft, mit aller Geschicklichkeit auf den Boxsack ein, wenn es von ihr verlangt wurde, mit einer solchen Leidenschaft, als ob ihr Leben davon abhing.



    Und dass ihr Leben von diesem Training abhängen konnte, wusste sie bereits seit ihrer Flucht aus dem Casino in Batna. Nocheinmal bewusst wurde ihr dies, als Prof. Don sie in einen bis dahin verschlossenen Teil der Lehrbaracke führte und ihnen eine 9 mm Halbautomatik in die Hand drückte. "Den rechten Arm komplett durchstrecken! Spannt eure Muskeln an und atmet in dem Moment aus, in dem ihr abdrückt. Der Rückstoß wird euch vermutlich trotzdem nach hinten werfen. Zielt auf die Scheiben vor euch...und abdrücken!" Beim ersten Mal hätten beide Mädchen fast die Waffe wieder fallen lassen. Doch mit jeder weiteren Trainingseinheit wurden sie sicherer und sicherer. Und es gefiel ihnen.


    Daraufhin hielt Romina die Zeit für gekommen, Willi zu bitten, bei ihnen einzuziehen. Er war ein helles Köpfchen und würde sich sicher gut einbringen können. Und seit seinem letzten Annährungsversuch, denn Romina eindeutig abgewiesen hatte, hat er nicht weiter versucht, ihr in irgendeiner Form zu nahe zu kommen.


    Der Computer neigte leider dazu, sehr häufig den Geist aufzugeben, was eine Reparatur alle paar Wochen erforderlich machte. Da sowohl Gertrude als auch Kinga schon fest schliefen, versuchte Tabea alleine ihr Glück...und wurde prompt von einem Stromschlag durchzuckt. Ganz zur Freude von Heidemarie, die nur zu gerne mitansah, wie de Frau, die sich nach wie vor ständig drangsalierte, zu leiden hatte. Zum Glück passiert weiter nichts Schlimmes und Tabea erholte sich von dem Schrecken.


    Linda erwies sich für Romina als echte Hilfe. Die beiden jungen Frauen spornten sich bei Diskussionen über mathematische Fragestellungen und physikalische Quantengesetze gegenseitig an. Und gemeinsam kamen sie auch Ideen und Lösungen, auf die sie alleine nicht gekommen wären. Aus diesem Grund war es für Romina klar, dass sie Linda endlich bei sich aufnehmen musste.


    Und auch Peter wurde ein häufiger Gast in der Baracke. Er brachte sogar eine Konsole mit. Und auch wenn diese bloß eine billige Nintendo-Fälschung aus den frühen 90er war, so hatten Romina und er gemeinsam doch sichtlich Spaß damit. Romina hätte ihn so gerne gebeten, bei ihnen einzuziehen, aber sie kämpfte noch immer mit ihren Gefühlen. Sie wusste, dass sie ihm nicht lange widerstehen konnte, wenn er erst einmal hier lebte.


    Aber schließlich bat sie ihn doch, zu ihr und den anderen in die Holzhütte zu ziehen. Und so bekam das ohnehin schon beengte zweite Schlafzimmer noch einen fünften Mitbewohner. Immerhin fühlte Willi sich auf diese Weise nicht mehr so allein unter den ganzen Frauen.



    Und auch wenn sie es gar nicht wollt, so könnte Romina gar nicht anders, als ihre Zeit mit dem sympathischen jungen Mann aus Simbirien zu verbringen. Sie wollte ihn behandeln, wie jeden anderen Bewohner auch, aber dafür möchte sie Peter viel zu sehr.



    Und es kam, wie es kommen musste. Was hatte Romina denn auch anderes erwartet, wenn sie mit Peter nachts unter dem freien Sternenhimmel spaziert, hinter der Baracke, weit ab von ihren Mitbewohnern. Er ergriff ihre Hand und sah ihr fest in die Augen und dann sagte er mit seinem harten simbirischen Akzent: "Ich liebe dich, Romina." Alle Vorsätze waren bei diesen Worten wie weggeblasen. "Ich liebe dich auch, Peter", hauchte sie zur Antwort.



    Peter legte seinen Arm um Rominas Hüfte und zog sie eng an sich. Rominas Herz schlug wild. Noch nie war sie einem Mann so nah gewesen, wie in diesem Augenblick. Aus Angst, dass er sie in letzter Sekunde von sich stoßen könnte, klammerte sie sich noch fester an ihn und ließ ihm kaum Raum zum Atmen. Aber er ließ sie nicht los, sondern küsste sie so voller Gefühl, dass kein Zweifel an seinen Worten blieb.



    Doch die traute Zweisamkeit wurde jäh unterbrochen. Romina hörte, wie sich ihnen jemand nährte und stieß Peter hastig von sich weg. Das hatte zur Folge, dass Heidemarie und Willi die beiden zwar nicht in flagranti erwischten, die Situation aber doch sehr offensichtlich war. "Wir...wir sehen uns nur die Borkenkäfer in der Holzwand an. Nachts sind die besonders aktiv", versuchte Romina sich herauszureden.



    Willi verzog zwar die Augenbraue, sagte aber nichts weiter. Heidemarie lächelte dagegen vielsagen. "Ok, ihr beiden, dann wünsche ich euch noch viel Spaß bei der 'Untersuchung'. Willi und ich werden dann etwas weiter dort drüben 'die Borkenkäfer beobachten'". Sie zwinkerte Romina zu und ging dann Hand in Hand mit Willi weiter. Romina und Peter sahen ihnen mit offenstehenden Mündern hinterher, bis sie in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen waren. Anschließend brachen beide in Gelächter aus.

  • Kapitel 155: Schicksen-Freundschaft


    Romina und Peter, Heidemarie und Willi, überall gedieh die Liebe...oder zumindest das sexuelle Verlangen. Und auch Kinga fand jemanden. Ab und an verschwand sie für einige Stunden in den Wald und traf sich mit Olek. Es hatte sich irgendwann einfach so ergeben. Sie und er waren alleine im Auto unterwegs gewesen und ehe Kinga richtig begriff, was los war, lagen die beiden schon knutschend auf der Rückbank. Seitdem genoss sie die Treffen mit dem rund 15 Jahre älteren Mann. Als er sie sah, zog er sie besitzergreifend an sich. "Du bist ja ganz nass", bemerkte sie. Olek musste schon länger im Regen gewartet haben. Doch er zuckte nur mit den Schultern. "Es ist doch Sommer. Außerdem wirst du mich sicherlich gleich wärmen."


    Damit hatte er recht. Niemand durfte etwas von ihren Treffen erfahren, also blieb ihnen auch nur wenig gemeinsame Zeit. Schnell waren die Kleider vom Körper gefallen und die beiden liebten sich unter dem freien Himmel. Der warme Sommerregen prasselte auf ihre überhitzten Leiber und für einen kurzen Moment vergaßen sie alles um sich herum.

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    Kinga küsste liebevoll seine Schulter und lehnte anschließend ihre Stirn gegen seine. "Hast du denn deiner Mutter geschrieben?", fragte er. "Oder deinem Vater? Du weißt, dass du das seit Monaten machen kannst. Meinst du nicht, dass sie ein Lebenszeichen von dir hören wollen." Olek hatte einen wunden Nerv getroffen, aber in seinen Armen gelang es Kinga, selbst in dieser Situation ruhig zu bleiben. "Ich bin mir sicher, dass ihr meine Erzeugerin wissen lasst, dass ich noch nicht abgekratzt bin. Mehr muss sie nicht wissen. Und jetzt genug davon. Wir haben nicht mehr viel Zeit und die sollten wir nutzen." Anstatt seine Schulter noch einmal zu küssen, biss Kinga hinein, stark genug, dass ein lustvoller Schmerz Olek durchzuckte. Er würde den Tag ganz sicher noch auskosten.



    Der Sommer ging vorüber und es folgte ein erneut harter Winter, der durch intensives Lernen geprägt war. Doch die acht Bewohner der Baracke unterstützten sich, wo sie konnten. Das Wohnzimmer war ein idealer Treffpunkt für alle, nicht zuletzt, weil es der einzige Raum war, der über einen Ofen verfügte.



    Der Schnee schmolz, Schneeglöckchen blühten und verblühten wieder. Die Tage wurden länger und schon bald war wieder Hochsommer. Nach dem Unterricht legten Kinga und Romina sich ins Gras und beobachteten verträumt die vorbeiziehenden Wolken. "Guck doch, die Wolke über uns", sagte Romina, "die sieht doch genau so aus wie der Scheich, den ich in Algerien angraben sollte." Kinga stieß sie grinsend mit dem Ellbogen in die Rippen, was Romina ein empörtes "Aua!", entlockte. Ein lautes Getöse am Himmel unterbrach die ansonsten herrschende Stille. "Da schau, wieder drei Kampfjets", bemerkte Kinga und zeigte in die Richtung, in die die Flugzeuge davonjagten. "Sind bestimmt schon die dritten, die wir heute sehen. Und gestern ging das auch schon so." "Bestimmt irgendeine Übung", vermutete Romina. Kinga zuckte nur mit den Schultern und suchte sich die nächste Wolke, in die man das Gesicht irgendeines Scheichs hinein deuten konnte.


    Aber so gemächlich wie an diesem Tag ging es nicht oft zu. Tabea trieb die anderen Mitbewohner regelmäßig dazu an, etwas für ihren Körper zu tun. Oft gingen sie rüber zur Lehrbaracke, um die dortigen Geräte zu nutzen, und mit Joggen, Gymnastik und Seilspringen konnten die jungen Frauen sich vor Ort fit halten.


    Doch auf Dauer boten das ständige Lernen und die körperlichen Betätigungen nicht wirklich Abwechslung. Kinga hatte noch ihre Romanze mit Olek, aber Tabea verbrachte Tag ein Tag aus ihre Zeit immer mit denselben Menschen, sei es nun während des Unterrichts oder auch daheim in der Baracke. Und das Kotzte sie an. Sie war nicht der Mensch, der lange an einem Ort blieb. Sie brauchte die Abwechslung, immer Aktion um sich herum. Die Streitereien mit Heidemarie arteten deshalb immer weiter aus, weil sie einfach kein anderes Ventil fand, um ihre angestaute Energie los zu werden. Der Höhepunkt war erreicht, als beide Frauen aufeinander losgingen.


    Kinga wusste, dass es so zwischen den beiden nicht weiter gehen konnte. Der Winter hatte fast wieder Einzug gehalten. Zwar sendete die Sonne noch ihre letzten wärmenden Strahlen auf die goldgefärbten Wälder, aber bald würden sie wieder nur noch im Haus hocken können. Und unter der angespannten Situation war ein erneuter Ausbruch regelrecht vorprogrammiert. Da bot ausgerechnet Tabea eine Lösung. "Ich hab gehört, auf so einer Lichtung im Wald würde ne Party steigen. So richtig mit Musik, ein paar neuen Gesichtern und sogar Alkohol soll‘s da geben. Irgendeine Baracke hat sich wohl ´ne Destille gebastelt. Bitte Kinga, lass uns da hin gehen!"


    Eigentlich hielt Kinga das für gar keine gute Idee. Sie konnte sich noch lebhaft daran erinnern, was das letzte Mal passiert war, als sie bei einer solchen Party war. Hajo und Rabea, zwei Kommilitonen zu denen sie gerade Kontakt geknüpft hatte, waren anschließend wie vom Erdboden verschluckt. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was mit den beiden passiert war. Und trotzdem versprach sie Tabea mit zu kommen. "Wir müssen uns aber nachts raus schleichen. Die anderen dürfen nicht mitbekommen, dass wir weg sind. Ich werde nur Romina einweihen, damit sie uns im Notfall decken kann. Wenn wir erwischt werden, dann ist hier aber der Teufel los, das kannst du mir glauben." Vielleicht übertrieb Kinga ein wenig, aber sie wollte sicher gehen, dass Tabea sich des Risikos bewusst war.



    Kinga bat Heidemarie, ihr Bett für eine Nacht mit Tabea zu tauschen. Diese war zwar nicht wirklich begeistert. Stimmt aber zu. So konnten sich Tabea und Kinga aus dem Dreierzimmer raus schleichen, so dass nur Romina etwas davon mitbekam. Als sie bei der Lichtung eintrafen, war die Party bereits im vollen Gange. Aus dem Ghettoblaster schallte Rock-Musik und ein paar Leute standen Head-bangend davor. Tabea schloss sich ihnen umgehend an und fühlte sich gleich wie Zuhause. Wäre Barbie-Püppchen Lydia nicht auch da gewesen, hatte Tabea sich sicherlich noch besser amüsiert. Auch Kinga musste sich eingestehen, dass sie es vermisst hatte, Party zu machen.



    Die Geschichte mit dem Alkohol stellte sich als wahr heraus. Hinter einer aufgestellten Kiste, die gleiche, die schon bei Kingas letztem Besuch als Bar diente, befanden sich einige Flaschen Selbstgebrannten. King war vorsichtig, schließlich hatte sie keine Lust, am nächten Morgen blind aufzuwachen. Anderseits hatten die anderen Studenten das Zeug sicherlich schon vorher mal probiert. "Man, habe ich das vermisst", seufzte Tabea, als sie einen kräftigen Schluck von ihrem Drink nahm und die anderen beim Tanzen beobachtete.


    "Na, wäre der Typ hinter mir nicht was für dich", zog Kinga ihre Freundin auf. Diese verzog beim Anblick des langnasigen Rothaarigen angewiderte das Gesicht. "Bah, doch nicht so ein Waschlappen. Mein Oberarm ist ja fast dicker als sein Oberschenkel. Ich brauche schon einen richtigen Mann. Oder auch eine richtige Frau." Plötzlich wurde sie ernst und sah Kinga tief in die Augen. Diese überkam die Panik. "Du...also...ich. Ich hab viel Spaß mit dir, aber..."


    Sie hörte auch zu stammeln, als Tabea in wildes Gelächter ausbrach. "Oh man, Kinga, deine Fresse hättest du gerade sehen sollen. Du bist blass geworden, wie ein Bettlacken. Mädel, das war doch nur ein Scherz." Erleichtert atmete Kinga durch und schüttelte grinsend den Kopf. "Und jetzt", sagte Tabea und leert ihr Glas, "mache ich mich an den rothaarigen mit den viele Tattoos ran. Der ist schon eher meine Kragenweite."


    Und setzte dies gleich in die Tat um. Den Rest des Abends bekam Kinga die beiden nicht mehr zu sehen. Einmal im Wald verschwunden, ließen die beiden sich erst Stunden später wieder blicken. Die Zeit nutzte Kinga aber dazu, ein paar neue Gesichter kennen zu lernen. Im Frühjahr waren eine ganze Reihe neuer Leute im Lager aufgetaucht und bis jetzt kannte sie nur einen Bruchteil davon.


    Mit Müh und Not gelang es Kinga, Tabea von ihrer rothaarigen Eroberung und der Party wegzuzerren. Aber der Weg zurück zur Baracke war lang und es würde bald Morgen werden. Als sie vor der Tür standen, fiel Tabea Kinga überraschend um den Hals. "Ich danke dir, dass du mit mir gekommen bist. Ich fasse kaum, dass ich das jetzt sage, aber du bist echt so etwas wie eine Freundin für mich. Und glaub mir, dass konnte noch keine andere Schickse vor dir von sich behaupten." Tabea lachte zwar, aber Kinga konnte genau die Träne sehen, die über ihr Gesicht lief. Anstatt zu antworten, drückte sie sie einfach.



    Zunächst hatte Kinga große Angst gehabt, dass ihr Wegschleichen Konsequenzen nach sich ziehen würde. Sie wartete, dass irgendetwas passierte, dass einer ihrer Mitbewohner verschwand, dass sie bestraft wurde. Aber nichts dergleichen geschah. Nicht am nächsten Tag, am übernächsten nicht und als auch nach zwei Wochen immer noch nichts passiert war, begann Kinga den Vorfall zu vergessen. Längst schlief sie wieder beruhigt und genoss es, die letzten Tage im Freien zu verbringen, bevor der Winter endgültig Einzug hielt.


    Deshalb war sie vollkommen überrascht, als genau einen Monat nach der Party plötzlich ein Wachmann in den Waschraum stürmte, grob ihre Arme packte und ihr Handschellen anlegte. "Denk bloß nicht daran zu schreien!", warnte er sie. Aber das hätte auch wenig Sinn gehabt. Die Waschräume lagen weit von den restlichen Zimmern entfernt. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal jemand hören können.


    Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein und glauben, dass es ohne Konsequenzen blieb, wenn sie sich davon stahl und zu einer Party ging? Ihr wurde doch so oft klar gemacht, dass sie das nicht durfte. Und was würde aus Tabea werden? Was würden die bloß mit ihrer Freundin machen. Beim ersten Mal war Kinga noch mit einem blauen Auge davon gekommen. Zwar waren Hajo und Rabea verschwunden, aber für sie hatte die erste Party auf der Lichtung im Wald keine Folgen gehabt. Diesmal sah es eindeutig anders aus.

  • Kapitel 156: Familie



    Der Wachmann zerrte sie zu einem Wagen, der einige duzend Meter weit von der Baracke entfernt stand, gerade so weit, dass man ihn von der Holzhütte aus nicht bemerken würde. Durch die verdunkelten Scheiben konnte Kinga nicht nach draußen sehen, aber als der Wagen hielt, wurde die Tür geöffnet und Kinga höflich aufgefordert auszusteigen. Der Wachmann nahm ihr die Handschellen ab und als sie sich umblickte, sah sie ein großes Backsteingebäude auf einer Wiese. Und davor stand Hajo, der einladend die Arme ausbreitete. "Herzlich willkommen, Kinga!"


    Kinga war so überrascht ihren alten Freund wiederzusehen, dass es ihr die Sprache verschlug. Hajo nahm sie an der Hand und führte sie über die Brücke, die den Graben um das Backsteingebäude überspannt. Erst als sie durch die riesige Eingangstür ins Innere des Gebäudes kamen, konnte Kinga wieder klar denken. "Hajo, was ist das hier? Wo sind wir", fragte sie, überwältigt von den Eindrücken, die auf sie eindrangen.


    "Das hier ist die zentrale Verwaltung des Lagers, in dem du die letzten zwei Jahre verbracht hast", erklärte Hajo. "Von hier aus werden die neuen Studenten eingeteilt, die Lehrer und Aufseher erhalten von hier ihre Befehle. Und von hier aus können wir auch beobachten, was die Studenten so treiben. Das Lager wird um die Baracken herum eigentlich vollständig Abgehört und Video-Überwacht." Immer noch konnte Kinga nicht so recht glauben, was sie hörte. "Und was soll ich hier?", fragt sie schließlich. "Hier arbeite", antwortete Hajo knapp. "Senora Ewa hat dich hierher versetzen lassen. Du wirst also ein paar Wochen bei uns verbringen."


    Kinga fühlte sich so dumm, weil sie wirklich gedacht hatte, dass ihrem Freund Hajo etwas Schreckliches angetan worden war. Dabei war er nur hierher in die Verwaltung versetzt worden. Und sie erfuhr, dass auch Rabea lediglich in ein anderes Lager verlegt worden war. Kinga erhielt eine Uniform, wie all die anderen sie auch trugen, und wurde in die Arbeit in der Verwaltung eingeführt. Die Arbeit war nicht sehr aufregend. Hauptsächlich war sie damit beschäftigt, die Akten von Jugendlichen aus aller Welt durchzugehen und darunter die Interessanten heraus zu suchen. Insgeheim hoffte sie, dass sie nicht allzu lange hier bleiben würde.


    Etwas Abwechslung bot nur die Arbeit an der Maschine zum Geldfälschen. Kinga dachte es sei ein Witz, als man ihr auftrug Falschgeld zu drucken. Aber anscheinend gehört das zu ihren zukünftigen Job. Das Falschgeld sah erstaunlich echt aus und das bisschen würde sicherlich keinem weh tun. Nur war die Arbeit furchtbar anstrengend. Die Maschine war gut und gerne fünfzig Jahre alt und wurde von Hand bedient. Immerhin musste Kinga so nicht noch zusätzlich trainieren.


    Nachdem Kinga fast einen Monat in der Verwaltung verbracht hatte, tauchte Senora Ewa auf und wollte sie sprechen. "Was kann ich für sie tun, Senora Ewa?", fragte sie ihre Großtante. "Du wirst noch heute das Lager verlassen", erklärte diese. "Ein Wagen wartet draußen auf dich."


    "Ein Wagen? Und wohin soll ich fahren? Und was ist mit meinen Freunden hier im Lager? Romina, Tabea und all die anderen, kann ich mich gar nicht mehr von ihnen verabschieden?", fragte Kinga überrascht. Und was war mit Olek? Würde sie ihn auch nie mehr wiedersehen können? Kinga bildete sich ein, dass Senora Ewas Mundwinkel bei der Erwähnung von Tabeas Namen seltsam gezuckt hätte. "Du wirst sie sicherlich irgendwann wieder sehen", erklärte sie lediglich. "Es bleibt keine Zeit, um noch mal ins Lager zu fahren. Wenn du willst, kannst du dich von den Leuten hier verabschieden, aber beeil dich. Wir haben nicht viel Zeit".


    Der einzige Mensch, von dem Kinga sich hier verabschieden wollte, war Hajo. "Ich wollte nicht einfach so verschwinden, wie du damals aus meinem Leben verschwunden bist", erklärte sie. Und aus einem Impuls heraus, küsste sie ihn, ungeachtet dessen, was Senora Ewa sagen würde, die sich mit einer Mitarbeiterin ganz in der Nähe unterhielt. "Wenn wir an einem anderen Ort gewesen wären und die Umstände nicht so, wie sie nun mal sind, dann hätte ich dich vielleicht lieben können, Hajo", beteuerte King. "Sssch, Kinga. Denk nicht darüber nach was hätte sein können. Und nun solltest du los. Senora Ewa guckt schon sehr böse zu uns rüber."






    Im Wagen lagen neue Kleider für Kinga bereit. Ihre Uniform musste sie zurücklassen und auch sonst durfte sie nichts mit sich nehmen. Der Wagen mit den verdunkelten Scheiben brachte sie in ein Lagerhaus, das ungefähr zwei Fahrstunden von ihrem letzten Aufenthaltsort entfernt lag. Von dort aus ging es mit einem gewöhnlichen Lieferwagen weiter. Die Fahrt führte nur über Feldwege und Landstraßen und Kinga erkannte erst, dass sie nach SimCity unterwegs war, als sie die Stadt bereits erreicht hatten. Nach einer fast 20 Stündigen Fahrt setzte der Fahrer sie vor dem Gebäude der "Sky Meal" ab. Ohne ein Wort zu sagen, fuhr er wieder weg. Kinga kratzte sich ratlos am Kopf und sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Also entschied sie sich, das Gebäude einfach mal zu betreten.


    Noch bevor sie die Dame am Empfang ansprechen konnte, blickte diese von ihrem Computer auf. "Willkommen, Miss Blech. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Senora Ewa erwartet Sie bereits. Ihr Büro liegt im zweiten Stockwerk. Zimmer 203."


    Sichtlich verwirrt stieg Kinga in den Fahrstuhl. Wieder einmal ergab alles keinen Sinn. Warum hatte ihre Großtante denn ein Büro bei bei "Sky Meal"? Und woher wusste die Empfangsdame, wer sie war? Senora Ewa würde ihr dafür sicher eine Erklärung liefern können, also klopfte Kinga beherzt an die Tür und trat ein, ohne ein Antwort abzuwarten. "Wieso sind Sie auch hier?", war das Erste, was Kinga fragte. "Hätten wir dann nicht gemeinsam hier her kommen können. Ganz offensichtlich kennen Sie eine schnellere Art zu reisen. Und ich vermute, auch eine deutlich bequemere."


    "Bitte setzt dich Kinga", forderte Senora Ewa sie auf. "Es war nötig, hier vor deiner Ankunft noch einige Dinge zu regeln. Es geht dabei um deine Mitbewohnerin Tabea." "Wenn es um die Party geht, das war meine Idee. Tabea trifft keine Schuld", unterbrach Kinga sie. "Die Party hat uns nie interessiert, Kinga. Ihr seid kurz ausgebrochen und danach brav zurückgekehrt. Es hatte keine Auswirkungen auf eure Leistungen, als ging es uns nichts an. Nein, Kinga, es ist etwas viel Ernsteres passiert. Tabea wurde zu ihrem ersten Einsatz geschickt, ähnlich dem, den du mit Romina hattest. Aber sie ist nicht wieder gekommen. Tabea ist tot, Kinga."


    "Was?", keuchte Kinga. "Das kann nicht sein. Das ist doch nicht möglich." "Doch Kinga, das ist es. Unser Beruf ist mit vielen Gefahren verbunden. Tabea kannte das Risiko." "Aber...aber was ist passiert. Warum habt ihr nicht auf sie aufgepasst? Es war ihr erster Einsatz!" Senora Ewa umfasste die Armlehnen ihres Stuhls, sodass ihre Knöchel weiß hervor traten. "Nein, dass hätte nicht passieren dürfen. Und sei dir versichert, dass Tabeas Kontaktmann bereits zur Verantwortung gezogen worden ist. Er hat nicht aufgepasst und zugelassen, dass sie erschossen wurde."


    "Aber was viel wichtiger ist, wir haben das Schwein gefasst, dass Tabea erschossen hat", fuhr Senora Ewa fort. "Er befindet sich hier im Gebäude." Kinga sprang von ihrem Stuhl auf und ballte wütend die Faust. "Ich will zu ihm!", forderte sie. "Ich will den Mistkerl in die Augen sehen, der meine Freundin auf dem Gewissen hat." "Und genau deshalb bist du hier, Kinga. Aber bist du wirklich schon bereit, ihm jetzt gegenüber zu treten?" Kinga nickte.




    Senora Ewa erhob sich von ihrem Schreibtisch und gab Kinga zu verstehen, ihr zu folgen. Sie gingen zum Fahrschule und die rothaarige Frau hielt eine Chipkarte an ein Lesegerät an der Tafel mit den Etagen-Tasten und betätigte die ansonsten deaktivierte Taste für die dritte Etage. Als die Fahrstuhltür sich öffnete, schritt Senora Ewa hinaus, hielt aber noch einmal inne. "Der Kerl befindet sich dort hinter." Sie deutete auf eine schäbige Tür vor ihnen. "Das ist deine letzte Chance umzukehren." Doch daran dachte Kinga nicht einmal. Ohne weiter zu überlegen nahm sie die Chipkarte aus Senora Ewas Hand und öffnete damit die Tür.


    Der Mann blinzelte, als die Tür aufschwang und das grelle Sonnenlicht in die finstere Zelle flutete. Er saß gefesselt auf einem Stuhl und sein Gesicht war gekennzeichnet von zahlreichen Kratzern und blauen Flecken. So wie es aussah, hatte man sich seiner schon angenommen.


    "Und wer bist du?", fragte er und spuckte dabei Blut. "Schicken sie jetzt kleine Mädchen um mich zum Reden zu bringen? Das letzte kleine Mädchen habe ich wie ein Flieg zerquetscht." "Halt dein Maul, Mistkerl!", brüllte Kinga ihn an. Er fing an zu lachen. "Warum hast du sie umgebracht? Warum musste Tabea sterben? Warum?!" "Weil das klein Flittchen dachte, sie kann mich austricksen", spie er durch zusammengekniffen Zähne hindurch. "Sie dachte, sie kann einfach so bei mir einbrechen, meine Hunde töten und ungeschoren davon gekommen. Und dafür musste diese Hure sterben. Ich hab sie einfach abgeknallt, aus nur einem Meter Entfernung, mitten auf einem Parkplatz. Ihr dummes Gesicht, als sie blutend zu Boden sank, war die ganze Mühe fast schon wieder wert gewesen."


    Als er wieder anfing zu lachen konnte Kinga nicht mehr länger an sich halten und schlug in mit geballter Faust ins Gesicht. Sein Kopf schleuderte nach hinten und schlug heftig gegen die Wand. "Wag es ja nie wieder, so über sie zu sprechen, du Hurensohn!"


    "Mach dir deine Hände doch nicht schmutzig, Kinga." Kinga zuckte zusammen, als sie die Stimme ihrer Großtante hinter sich hörte. Sie hatte völlig vergessen, dass sie auch im Raum war. Sie stoppte damit, weiter auf Tabeas Mörder einzuprügeln. Senora Ewa schritt auf sie zu und legte ihr etwas in die Hand. Kinga blickte überrascht hinunter und sah die Pistole. Langsam blickte sie auf und sah ihrer Großtante in die Augen. Und diese nickte. "Bring dieses Schwein um. Er hat es nicht anderes verdient."



    Senora Ewa strich Kinga beim Vorbeigehen über den Rücken und verließ den Raum. Die Tür schloss sich hinter ihr und Kinga war alleine mit dem Mörder ihrer Freundin und einer Pistole in der Hand. Der Typ grinste immer noch. "Du wirst doch eh nicht abdrücken", spottet er. Kinga hatte noch nie auf einen Menschen geschossen. So viel Male hatte sie an der Zielscheibe geübt oder auch Tier gejagt, aber noch nie musste sie die Waffe gegen einen Menschen einsetzen. Gedankenversunken entriegelte sie die Waffe und plötzlich verschwand das Grinsen des Typen. "Mädchen, komm schon, die Kleine ist bei mir eingebrochen. Was hätte ich den tun sollen? So ist nun mal das Geschäft." "Ja, so ist nun einmal das Geschäft", pflichtet Kinga ihm bei. Und sie drückte ab.


    Senora Ewa hörte den Schuss. Es vergingen ein, zwei Minuten, bis die Tür aufging und eine sehr blasse Kinga auf wackligen Beinen ins Sonnenlicht trat. Noch immer hielt sie die Pistole in den Händen. "Er ist tot", flüsterte sie. Senora Ewa schritt auf sie zu und nahm ihr behutsam die Waffe aus der Hand. "Komm, Kinga, es wartet noch jemand darauf dich zu sehen."


    Kinga fühle sich wie in Watte gepackt. Alls drang nur dumpf und undeutlich zu ihr durch. Es war ein wenig so, als wenn sie wieder high wäre. Sie folgte Senora Ewa eher unbewusst. Und als diese die Tür zu einem Büro öffnete, erkannte sie die Frau, die dort saß nur langsam. Doch dann gefror sie zu einer Salzsäule. "Mutter", keuchte sie. Die Frau in dem bequemen Sessel vor einem großen Schreibtisch saß, begann zu lachen. "Nein King, nicht deine Mutter. Nur ihre Zwillingsschwester."


    Erst jetzt erkannte Kinga, dass dort ihre Tante Joanna im Sessel saß. Sie erhob sich graziös und schritt langsam auf Kinga zu, die verwirrt zu Senora Ewa hinüber blickte. "Darf ich vorstellen, Donna Joanna, der Kopf unsere Organisation." Inzwischen war Donna Joanna bei Kinga angekommen und umfasste die Arme ihre Nichte. Sie beugte sich vor und hauchte Kinge einen Kuss auf die Wange. "Willkommen Kinga. Willkommen in deiner neuen Familie. Willkommen bei "Justice".


    Gedanken:


    „Willkommen in deiner Familie“. Kinga hatte nicht geglaubt, dass sie diese Worte jemals wieder hören würde und sie ihr irgendetwas bedeuten würden. Doch das taten sie. Sie fühlte sich tatsächlich so, als ob sie endlich zu ihrer Familie gefunden hätte. Sie gehörte nicht zu dem Mann, der sie aufgezogen, aber doch nicht ihr Vater war, nicht zu dem kleinen Mädchen, die sie als ihre Schwester bezeichnete und schon gar nicht zu der Frau, die ihre Mutter sein wollte, aber nicht einmal in der Lage war sie zu lieben. Nein, Sie gehörte hier her, zu „Justice“. Hier war sie zuhause. Zweieinhalb Jahre hatte sie unter erbärmlichen Bedingungen gelebt. Sie hatte sich quälen und demütigen lassen. Aber das alles diente nur dazu, damit sie endlich zu ihrer Familie fand. Diese Erkenntnis entschädigte für alle Strapazen.


    Sie hatte alle Aufgaben gemeistert. Trotz der anfänglichen Ausrutscher gab es keinen Zweifel mehr daran, dass sie bereit und würdig war, ein Teil der Organisation zu werden. Und auf ihrem Weg dorthin hatte sie viel Menschen kennengelernt, die ihr mehr ans Herz gewachsen waren, als ihre wahre Familie in der Sierra Simlone es je könnte. Romina war ihre engste Vertraute und Tabea eine verwandte Seele. Ihr Tod würde Kinga noch lange beschäftigen, aber es verschaffte ihr Genugtuung, dass sie Tabeas Tod rächen konnte. Und auch ihre weiteren Mitbewohner, Heidemarie, Gertrude, Willi, Peter und Linda würde sie nie vergessen, ebenso wie Vroni und Igor, zwei weitere Kommilitonen, die sie entscheidend geprägt haben.

    Sie waren schon eine tolle Truppe gewesen. Kinga war sich sicher, dass eine Baracke wie ihre nicht alle Tage vorkam. Sie hoffte, ihre Mitbewohner und Kommilitonen in naher Zukunft wieder sehen zu können. Aber wer wusste schon genau, was das Schicksal für sie bereit hielt? Hätte ihr jemand vor drei Jahren gesagt, dass sie in ein Lager gesperrt und zur Agentin ausgebildet werden würde, sie hätte ihn ausgelacht. Aber das Schicksal ging manchmal seltsame Wege und man konnte nur verlieren, wenn man versuchte sie vorauszusehen.

  • Was bisher geschah:
    (Zusammenfassung der vorherigen Aufgaben)




    Vor 20 Jahren hatte ich eine Affäre mit Albert, einem verheirateten Mann und Vater von vier Kindern. Diese Affäre blieb nicht ohne Folgen und bald schon merkte ich, dass ich schwanger war. Da ich Alberts Ehe und Familie um keinen Preis zerstören wollte, erzählte ich ihm nichts von dem Kind und das, obwohl ich ihn schon damals über alles liebte. Stattdessen suchte ich mir einen Ersatzvater für mein ungeborenes Kind. Geplant war, dass Dominik mich verließ, wenn er von meiner Schwangerschaft erfuhr.



    Doch Dominik dachte nicht einmal daran. Er freute sich auf das Kind, unser Kind, und unsere gemeinsame Zukunft. Also wurde meine Tochter Kinga in eine scheinbar glückliche Familie hinein geboren. Doch ich liebte Dominik nicht und auch meiner Tochter konnte ich nicht die Liebe entgegenbringen, die sie verdient hätte. Ich fühlte mich einfach zu schuldig für die Affäre, aus der sie hervorgegangen war.



    Viele Jahre bleib ich bei Dominik, doch meine Gefühle für Albert waren nie erlöschen. Schließlich konnte ich sie nicht länger unterdrücken und Albert und ich waren bereit, uns von unseren bisherigen Partnern zu trennen und eine gemeinsame Zukunft zu beginnen. Doch meine Träume wurden jäh zerstört, als Albert in einem Autounfall ums Leben kam. Kurz nach seinem Tod stellte ich zudem fest, dass ich erneut schwanger war. Ob Alber oder Dominik der Vater meines Kindes waren, vermochte ich nicht sagen.



    Vor Verzweiflung und Trauer fiel ich in ein tiefes Loch. Dominik versuchte zwar, mir wieder auf die Beine zu helfen, aber er kam kaum an mich heran, weil er nicht wusste, wie es in meinem Herzen aussah. Ich floh zu meiner Großmutter nach Warschau, die mir schließlich den Rat gab, Dominik zu heiraten. Da ich Dominik inzwischen sehr schätzte und mein ungeborenes Kind nicht ohne Kind aufwachsen sollte, folgte ich ihrem Rat und wurde Dominiks Frau. Und wir wurden eine glückliche Familie, Dominik, Kinga, meine zweite Tochter Klaudia und ich. Zwar liebte ich Dominik nach wie vor nicht, aber ich war dennoch zufrieden mit meinem Leben.



    Bis zu dem Zeitpunkt, als meine Zwillingsschwester Joanna auftauchte und mir offenbarte, dass sie der Kopf einer Verbrecherorganisation war und meine Hilfe bei einem ihrer finsteren Pläne benötigte. Sie erpresste mich mit dem Wissen um Kingas wahren Vater und schickte mich auf eine Mission, die mich beinah das Leben kostete. So schrecklich dieses Ereignis auch war, dadurch merkte ich, wie sehr ich meine Familie und auch meine Mann liebte. Endlich konnte ich ihm all die Liebe entgegenbringen, mit der ich seit Jahren von ihm überhäuft wurde.



    Alles wäre wunderbar gewesen, wenn Dominik nicht durch einen dummen Zufall erfahren hätte, dass er nicht Kingas Vater war und dies auch Klaudia fraglich blieb. Dominik konnte mir nicht länger vertrauen und verließ mich. Kinga verkraftet den Verlust ihres Vaters nicht und entwickelte einen tiefen Hass auf mich und auch auf ihre kleine Schwester Klaudia, die sich doch als Dominiks leibliches Kind entpuppte. Dominik heiratete erneut und bekam einen Sohn. Auch ich hatte mehrere Beziehungen, bis ich schließlich mit Kasimir einen neuen Mann fürs Leben fand.



    Die Krankheit meiner Großmutter wirbelte mein Leben wieder durcheinander. Ich musste nach Warschau und auf Wunsch meiner kranken Großmutter begleitete mich Dominik. Dort kamen mein Exmann und ich uns wieder näher. Es ging sogar so weit, dass Dominik mir seine Liebe offenbarte und mich bat, erneut seine Frau zu werden. Ich liebte ihn, aber ich brauchte Zeit für eine Entscheidung. Zudem warteten Zuhause größere Probleme auf mich. Kinga war nicht nur wütend auf mich, nein, sie versuchte auch ihre Wut mit Alkohol, Sex und Drogen zu unterdrücken. Da ich keinen anderen Ausweg mehr sah, bat ich meine Schwester Joanna um Hilfe. Sie verfügte über die notwendigen Mittel, um meine Tochter wieder auf einen rechten Pfad zu bringen.



    Ich erkannte, dass ich zu Dominik gehörte und trennte mich von Kasimir. Nun waren Klaudia, Sky, Dominik und ich eine große glückliche Familie und ich war mir sicher, dass eines Tages auch Kinga wieder zu dieser Familie gehören würde. Unser Familienglück wurde allerdings auch eine harte Probe gestellt, als eine dramatische Wirtschaftskrise uns an den Rand des Bankrotts trieb. Und noch schwerer wog Dominiks Entscheid für einige Monate als Sicherheitsmann in Simnistrien, einem Ölstaat in Südamerika, zu arbeiten.




    Kapitel 157: Unerreichbar





    "Die Leitungen sind überlastet. Bitte probieren Sie es später noch einmal." Ich atmete schwer. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, mich nicht zu beunruhigen, stieg so langsam aber sicher Furcht in mir auf. Seit zwei Wochen probierte ich vergebens, Dominik zu erreichen. Aber jedes Mal ertönte nur die immer wieder gleiche Ansage vom Band. Ich hatte es schon zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten probiert, aber ohne Erfolg. Auch jetzt um 5 Uhr morgens, in Simnistrien musste es gerade 22 Uhr gewesen sein, schaffte ich es nicht, meinen Ex-Mann und Verlobten zu erreichen.





    Ich beschloss, dass es keinen Sinn machte, mich jetzt noch ins Bett zu legen. Bei all den Gedanken, die mir im Kopf herumschwirrten, war an Schlaf ohnehin nicht zu denken. Stattdessen legte ich mich aufs Sofa und versuchte wenigstens, mich etwas zu entspannen. Dominik war nun schon seit über zwei Jahren als Wachmann in Südamerika tätig. Es war allerdings das erste Mal, dass er unerreichbar blieb. Zwar fiel das Telefonnetz in Simnistrien immer mal wieder aus, allerdings noch nie über einen solch langen Zeitraum. Was mir besondere Sorgen machte war die Tatsache, dass Dominik zuvor von einer zunehmenden Verschärfung des Konfliktes zwischen den Simnationalen Ölgesellschaften, für die er arbeitete, und der Simnistrischen Regierung berichtet hatte.





    Irgendwann muss ich dann aber doch eingeschlafen sein. Erschrocken fuhr ich zusammen, als die Tür zum Schlafzimmer aufgerissen wurde. Hastig setzte ich mich auf und erkannte, dass Sky in meinem Zimmer stand. "Mami, du musst aufwachen!", rief er aufgeregt. "Der Schulbus kommt gleich und wir sind noch nicht fertig. Schnell!"





    Es war nicht meine Art einfach so zu verschlafen. Dies führte mir noch einmal deutlich vor Augen, wie sehr mir die Sorge um Dominik an die Substanz ging. Ich gab Sky einen Kuss auf die Stirn und bereitete Omeletts zum Frühstück vor. Klaudia versicherte mir, dass sie das auch selbst hingekriegt hätte, immerhin war sie schon 15. Aber ich hätte ohnehin aufstehen müssen. Auf mich wartete noch ein Tag voller Arbeit draußen auf den Weiden bei den Rindern.





    Dass ich verschlafen hatte, war für Sky keine große Sache. Bereits beim ersten Biss von seinem Omelett hatte er die ganze Geschichte wieder vergessen. Anders sah das bei Klaudia aus. Ich erkannte, dass ich ihr nicht länger etwas vormachen konnte. Sie spürte genau, wenn mich etwas bedrückte oder ich mich sorgte. Und diesmal erkannte sie auch sofort den Grund. "Irgendetwas stimmt nicht mit Papa." Es war eine Feststellung, keine Frage. Ich überlegte kurz, ob ich sie anlügen sollte, um sie nicht weiter zu beunruhigen. Als ich jedoch ihren Blick sah, wusste ich genau, dass sie alt genug war, um die Wahrheit zu erfahren.





    "Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie es deinem Vater geht. Ich kann ihn seit gut zwei Wochen nicht mehr erreichen." Klaudia nickte stumm. "Ich hab es auch schon probiert, aber angeblich sind die Leitungen belegt", gestand sie schließlich. Natürlich. Ich hätte mir denken können, dass Klaudia selbst versuchen würde, mit ihrem Vater zu sprechen.





    Dann lächelte sie jedoch. "Es wird schon alles in Ordnung sein, Mama. Das Telefonnetz in Simnistrien ist uralt. Papa geht es sicherlich gut und er ist froh, dass es mal zwei Wochen Ruhe von uns hat." Unweigerlich musste ich ebenfalls grinsen. Klaudia hatte vermutlich recht und das technische Problem würde schnell behoben werden. "Nun aber ab zum Schulbus", sagte ich und scheuchte sie Richtung Straße. "Der Fahrer sieht schon ganz finster aus, weil du dir so lange Zeit lässt und das penetrante Hupen weckt sonst die halbe Nachbarschaft."







    Doch ganz so entspannt, wie ich mich Klaudia gegenüber gab, war ich nicht. Während ich mich für die Arbeit bei den Rindern umzog, kam mir der Gedanke, dass Dominik sicherlich auch seit zwei Wochen versuchte, mich zu erreichen und nicht durchkam. Vielleicht hatte er ja einen Brief geschickt? Ich steig in den Pickup und machte einem Umweg zum Stadtzentrum. "Hi Alexa", begrüßte ich das Mädchen hinter der Theke unseres Gemischtwarenladens, der zugleich auch als Postamt fungierte. "Ist vielleicht ein Brief für mich angekommen?"





    "Ich schaue mal nach", erwiderte Alexa und begann in den Regal hinter der Ladentheke herumzustöbern. Sie schaute einige Briefe durch, doch ganz offensichtlich war keiner an mich adressiert. "Es tut mir sehr leid, Frau Brodlowska." Ich nickte. "Schon gut, Alexa. Aber könntest du mich bitte sofort benachrichtigen, wenn ein Brief von Herrn Blech ankommen sollte?"





    Alexa versicherte mir, sofort Bescheid zu geben. Obwohl ich jetzt auch nicht viel mehr wusste als zuvor, hatte sich das ungute Gefühl in mir verstärkt. Dominik hätte doch sicher versucht mir zu schreiben, wenn schon keine Kommunikation über das Telefon möglich war. Wenn ihm bloß nichts passiert ist. In der gleichen Sekunde, in der mir dieser Gedanke gekommen war, verfluchte ich mich auch schon dafür. Man sollte den Teufel nicht an die Wand malen. Und vielleicht hatte Dominik ja geschrieben, aber der Weg von Südamerika nach Simropa war lang. Sicherlich war der Brief noch unterwegs.







    Es blieb mir nichts anderes übrig als abzuwarten und zu hoffen. Ich fuhr hinaus auf die Weiden und parkte das Auto bei den Stallungen. Dort sattelte ich mein Pferd und ritt hinaus zum Wasserloch, um die Rinder zu zählen und nach den neuen Kälbern zu schauen. Seit einigen Tagen nieselte es immer wieder und heute wurde der Regen stärker. Aber ich empfand das als sehr angenehm, da es trotz des Schauers immer noch sehr heiß war und der Regen eine willkommene Abkühlung bot.





    Plötzlich begann mein Pferd zu scheuen. Im ersten Moment wusste ich nicht, was der Grund dafür sein konnte. Doch dann wurden auch die Rinder unruhig und schließlich hörte auch ich das dumpfe Drohnen in der Ferne, welches immer lauter wurde. Ich blickte zum Himmel und erblickte mehrere Punkte am Horizont, die sich schnell als sehr tief fliegende Hubschrauber entpuppten. Der Lärm war ohrenbetäubend und die gesamte Rinderherde, die ich zuvor mühsam zusammengetrieben hatte, flüchtete in alle Himmelsrichtungen. Ich verfluchte die Idioten, die so tief am Boden flogen, doch dann viel mein Blick auf die Raketen, die deutlich sichtbar außen an den Hubschraubern befestigt waren.





    Und sie flogen direkt auf die Stadt zu! Ich gab meinem Pferd die Sporen und galoppierte mitten in das Rapsfeld hinein, immer den Hubschraubern hinterher. Das Feld endete an einem seichten Hügel, von dem aus man einen guten Blick über das Tal hatte, in dem Sierra Simlone Stadt, mein Zuhause, lag. Und ich hatte mich nicht geirrt, die Hubschrauber hielten direkt auf die Stadt zu. Ich war den Hubschraubern nicht nur aus Neugierde gefolgt. Mich hatte bei ihrem bloßen Anblick ein ungutes Gefühl beschlichen. Und diesem Gefühl wurde Rechnung getragen, als plötzlich helle Lichter an den Hubschraubern aufblitzten, sich kleine Objekte lösten und einen schwarzen Schweif hinter sich her ziehend auf die bei der Stadt gelegenen Ölbohrtürme zurasten. Ich schrie vor blankem Entsetzen.





    Ich sah die grell Explosion, sah, wie die hohen Metallkonstruktionen zu schwanken begannen, sah den dicken, schwarzen Qualm, der aufstieg und vom Wind nach Norden geweht wurde. Der gewaltige Knall der Explosion erreichte mich erst einige Sekunden später. Vor Schreck gaben meine Knie beinah nach. Mein Pferd ging nun endgültig durch und galoppierte in die entgegengesetzte Richtung. Ich verschwendete nicht einen Gedanken daran, ihm hinterher zu jagen.





    Der furchtbare Anblick vor mir zog mich zu sehr in seinen Bann. Wieder blitzten die Lichter an den Hubschraubern auf und der nächste Bohrturm wurde getroffen. Ich zitterte am ganzen Körper und über mir vernahm ich das Getöse weiterer Hubschrauber, die auf Sierra Simlone Stadt zuhielten.





    Ich lief. Ich lief so schnell ich konnte. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, aber ich kannte nur ein Ziel. Ich musste in die Stadt, ich musste zu meinen Kindern. Klaudia und Sky waren in der Schule. Sie waren diesen unbekannten Angreifern schutzlos ausgesetzt. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, ehe ich die Stallungen und mein dort geparktes Auto erreichte. Goya folgte mir dicht. Meine Lunge brannte vor Anstrengung, aber ich ließ es nicht zu, langsamer zu werden. Der Lärm der einschlagenden Raketen trieb mich immer weiter an. Ich musste zu meinen Kindern! Ich musste sie retten.

  • Kapitel 158: Der Wahnsinn beginnt




    Mit Vollgas raste ich die Landstraße entlang nach Sierra Simlone Stadt. Die Regentropfen auf der Scheibe nahmen mir fast vollständig die Sicht, denn der leichte Sommerregen war in einen kräftigen Schauer übergegangen. Doch ich kannte nur ein Ziel. Ich musste zu meinen Kindern, zu Klaudia und Sky, und sie in Sicherheit bringen. Mit quietschenden Reifen bog ich auf den Bürgersteig vor der Schule ein und sprang aus dem Wagen. Und im selben Moment hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall aus Richtung der Bohrtürme. Ich musste mich beeilen.




    Ich hastete den Schulgang entlang und riss ohne anzuklopfen die Tür zu Skys Klassenzimmer auf. In der Klasse herrschte ein heilloses Durcheinander. Einige der Kinder liefen wild umher, andere saßen wie angewurzelt auf ihren Plätzen und starten hilfesuchend ihre Lehrerin an. Ein Junge versteckte sich sogar unter der Schulbank.




    Skys Lehrerin stand regungslos mit dem Rücken zur Tafel. Ihr Mund stand leicht offen und ihre Augen sprachen deutlich von der Verwirrung, der Angst und der Hilflosigkeit, die in ihr vorgehen mussten. Es war ihr erstes Jahr als Lehrerin. Der normale Unterricht brachte sie schon oft genug an den Rand der Verzweiflung, aber diese Situation überforderte sie in Gänze.




    "Mami!", schrie Sky laut, sprang von seinem Platz auf und lief auf mich zu, sobald er mich erkannte. "Mami, was ist hier los? Was ist das bloß für ein Lärm? Ich hab solche Angst", quickte er. Seine Augen spiegelten das blanke Entsetzen wider. "Dir wird nichts passieren, Liebling", versicherte ich ihm. "Mami wird nicht zulassen, dass dir etwas passiert."




    Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, gab es einen gewaltigen Knall. Entsetzt riss ich meinen Kopf zum Fenster. Die Explosion war viel näher, als die Vorherigen. Es hörte sich fast so an, als ob diesmal nicht nur einer der Bohrtürme getroffen wurde. Nein, die Explosion muss ganz in der Nähe stattgefunden haben, mitten in der Stadt. Die Kinder schrien alle noch lauter als zuvor. Waren sie vorher nur verängstigt, so brach jetzt offene Panik aus. Ich musste Sky hier rausbringen und Klaudia und all die anderen Kinder. Aber wohin?




    Ich lief zu Skys Lehrerin hinüber, die immer noch apathisch an der Tafel stand. "Frau Jolowitz! Frau Jolowitz!" Ich packte die junge Frau an den Schultern und schüttelte sie kurz aber heftig. Benommen starrte sie mich an, als ob sie gerade aus einem Traum erwacht wäre. "Frau Jolowitz, wir müssen die Kinder in Sicherheit bringen. Die Stadt wird gerade bombardiert! Wir sind alle in Gefahr. Hat die Schule einen Keller? Sie müssen uns hinführen!"




    Doch die Frau wirkte immer noch benommen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie verstanden hatte, was ich gerade zu ihr sagte. Dann begann sie langsam mit dem Kopf zu schütteln. "Nein, wir dürfen das Klassenzimmer nicht verlassen. So steht es in der Schulordnung. Die Kinder müssen bis zum Gong in diesem Raum bleiben. Ja, so steht es in der Schulordnung." Ich konnte meinen Ohren kaum glauben. "Frau Jolowitz, das hier ist keine normale Situation. So etwas ist in der Schulordnung nicht vorgesehen. Wir müssen sofort alle hier raus." Doch die junge Lehrerin wollte nicht hören. Besser gesagt, sie konnte es nicht. Der Schock über die Ereignisse saß zu tief. "Die Schulordnung verbietet es", sagte sie immer wieder leise auf und wiegte sich mechanisch vor und zurück.




    Eine erneute Explosion in unmittelbarer Nachbarschaft machte mir deutlich, dass ich schnell handeln musste. "Alle weg vom Fenster und versteckt euch unter den Tischen", schrie ich. Offenbar hatten die Kinder nur auf eine klare Ansage gewartet, denn plötzlich kehrte halbwegs Ordnung ein und alle Kinder folgten ausnahmslos meiner Aufforderung. Ich versicherte mich, dass alle Kinder unter den Tischen kauerten und kroch anschließend selbst zu ihnen. "Frau Jolowitz", forderte ich die junge Lehrerin auf, "kommen sie auch zu uns hinunter."




    Doch die junge Frau schien meine Worte nicht einmal gehört zu haben. Anstatt sich unter den Schulbänken zu verstecken, schritt sie zum Fenster und starte ausdruckslos auf die Straße. Sie beugte sich gerade vor, als eine Rakete direkt vor der Schule einschlug. Die Druckwelle lies die Scheiben bersten. Glasscherben und Holzsplitter flogen durch die Luft und gruben sich in den Körper der Frau, die quer durch den Raum geschleudert wurde.




    Die Kinder schrien vor Angst und Entsetzen laut auf. Und auch ich konnte das Gesehene kaum ertragen. "Schaut weg Kinder", wies ich sie an, doch sie konnten den Blick von ihrer schwer verletzten Lehrerin nicht abwenden.




    Ich krabbelte unter dem Tisch hervor und auf Frau Jolowitz zu. Es war ein furchtbarer Anblick. Aus zahlreichen durch die Glasscherben verursachten Wunden floss Blut, doch die junge Frau rührte sich nicht. Zitternd streckte ich meine Hand aus und suchte nach der Hauptschlagader an ihrem Hals. Doch ich fühlte keinen Puls. Skys Lehrerin war tot.




    Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und eine Frau um die Fünfzig blickte völlig außer Atem in das Klassenzimmer. Sie musste hierher gerannt sein. Entsetzt entdeckte sie die Leiche vor meinen Füßen, während ich mich wieder aufrichtete. Es war die Direktorin der Schule. "Christina!", keuchte sie. "Wir brauchen sofort einen Notarzt." Doch ich blickte sie traurig an und schüttelte kaum merklich mit dem Kopf. Und die Direktorin verstand, dass jede Hilfe für ihre Kollegin zu spät kam.




    Doch anders als Skys junge, unerfahrene Klassenlehrerin geriet die Direktorin nicht in Panik. "Draußen herrscht das totale Chaos. Die Kinder sind hier nicht länger sicher. Unter der Schule befinden sich einige Kellerräume. Ich habe die anderen Schüler schon runter geschickt. Das hier ist die letzte Klasse." Diese Nachricht ließ mich wieder hoffen. Vielleicht konnten die Kinder doch noch in Sicherheit gebracht werden.




    "Los, alle schnell raus hier", wies ich die unter den Tischen hockenden und wimmernden Kinder an. Sofort krochen sie unter den Schulbänken hervor und liefen in die Richtung, in die die Direktorin sie wies. Ich versicherte mich ein letztes Mal, dass alle den Raum verlassen hatten und lief dann gemeinsam mit der Direktorin zur Kellertür.




    Es waren zwar nur wenige Meter bis zum Eingang zum Keller, doch dieser Weg erschien mir unendlich weit. Ich rechnete in jedem Moment damit, dass eine Rakete das Schulgebäude traf. Aber wir kamen alle sicher an. Ich stieg als Letzte die Leiter in den Kellerraum hinab. Unten waren bereits die Schüller und Lehrer versammelt. In kleinen Grüppchen verteilt hockten sie in den Ecken zwischen alten Büchern und staubigen Kisten. Es herrschte eine angespannte Stille, die nur von einem gelegentlichen Flüstern unterbrochen wurde.




    "Mama!" Klaudia sprang sofort auf und lief auf mich zu, als sie mich die Leiter hinunter steigen sah. Erleichtert fiel sie mir um den Hals. Sie hatte Angst, wie wir alle und war den Tränen nah. Und mir erging es nicht besser. Bis jetzt war ich stark, weil ich es sein musste. Doch hier, in der Sicherheit des Kellers überkamen auch mich die Hoffnungslosigkeit und das blanke Entsetzen. Ich konnte nicht mehr tun als sie zu halten und ihr auf diese Weise Trost zu spenden. Aber auch ich schöpfte aus dieser Berührung neuen Mut.




    "Was ist denn da draußen los? Was geht da vor sich?", drang meine Tochter mit Fragen auf mich ein. Doch darauf konnte ich ihr keine Antwort geben. Ich berichtete, was ich von den Weiden aus beobachten konnte, wie die Hubschrauber plötzlich aus dem Süden auftauchten, direkt auf die Stadt zuflogen und mit der Bombardierung der Bohrtürme begannen. Ich merkte, dass nicht nur Klaudia zuhörte, sondern dass auch die Blicke der übrigen älteren Schüler und der Lehrer auf mich gerichtet waren.




    Meine Erzählung wurde Sekunden später von einem Raketeneinschlag unweit der Schule unterbrochen. Die Wände des Kellers vibrierten und Putz rieselte von der Decke herab. Erschrocken blickten wir alle in Richtung des Kellereingangs, aber offensichtlich hatte die Rakete nicht das Schulgebäude selbst getroffen. Zumindest schien über uns alles noch zu stehen. Es wurde mucksmäuschenstill in dem Raum. Selbst das leise Flüstern verstummt jetzt.




    Ich zog mich mit Klaudia und Sky in eine Ecke des Kellers zurück. Mein Sohn zitterte am ganzen Körper, fest umschlossen von meinen Armen. Aber ansonsten blieb er ganz ruhig. Alle Kinder blieben erstaunlich ruhig. Von Klaudias Schulkameraden hätte man das erwarten können, aber viel der Kinder waren gerade einmal sechs oder sieben Jahre alt. Und nur meine Kinder hatten das Glück, dass sie in dieser Situation nicht alleine waren, sondern ihre Mutter bei sich hatten.




    Einige Minuten lang blieb es ruhig, sodass fast eine entspannte Situation aufkam. Doch dann gab es wieder einen Knall, lauter, als alles was wir bis dahin vernommen hatten. Die Regale im Keller zitterten und einige der Bücher fielen heraus. Diesmal hörte man vereinzelte Schreckensschrei, die sich auf alle Anwesenden ausweiteten, als Sekunden später das Licht im Keller ausfiel. Selbst Direktorin Bartelt konnte einen entsetzten Aufschrei nicht unterdrücken. Überall rückten die Schüler enger zusammen, nahmen Jungs ihre Freundinnen in den Arm oder gaben sich zwei Freunde gegenseitig halt. Die nun herrschende Dunkelheit nahm uns die Sicht, doch sie konnte das leise Wimmern und Schluchzen aus allen Ecken nicht verbergen.




    Auch Klaudia, Sky und ich rückten näher zusammen. Klaudia konnte ihre Tränen nicht länger unterdrücken und schluchzte leise. Sky blieb tapfer, vermutlich, weil ihm nicht ganz klar war, was um uns herum geschah. Aber er spürte instinktiv, dass etwas überhaupt nicht in Ordnung war. Ich drückte meine Kinder fest an mich und betete. Ich betete dafür, dass wir gesund aus diesem Keller kamen, dass Frau Jolowitz das einzige Opfer dieses Wahnsinns bliebe und das wir noch ein Zuhause hätten, in das wir zurück kehren konnten, wenn wir diesen Keller verließen.