Hi
ich verrat nix! ätsch! weiter gehts
Das "Perfekte" Leben
Teil IV
Wieder verschaffte ich meinem Leben ein paar Veränderungen. Ich half immer noch wo ich nur konnte und lernte so viel wie möglich. Schließlich stand ja auch bald mein Abschluss vor der Tür. Ich kochte jetzt nicht nur Abends sondern auch Mittags für meine Familie. Dazwischen hatte ich gerade noch so Zeit um mich an meinen Plan zu halten.
Jeder Tag verlief nach dem gleichen Schema. Mittagessen von 13.20 – 14.20 Uhr, Abendessen von 17.30 – 18.30 Uhr, von 15.00 bis 17.00 Uhr waren die Hausaufgaben dran und von 19.30 – 22.30 Uhr wurde gelernt. Zwischen Abendessen und Lernen war meine feste Zeit, in der ich mich mit Lilly "unterhielt".
Aber das war nur der halbe Plan, den ich mir ausgerechnet und aufgeschrieben hatte. Ich nutzte jede freie Minute, um mich abzulenken, von dem ganzen Mist zu Hause. Ich war oft unterwegs, einfach nur um nicht daheim zu sein. Ich war auch oft im Einkaufszentrum und wühlte in den Klamotten
Ich suchte selten etwas bestimmtes... es diente immer nur dazu, mich von dem ganzen anderen Sch**** der sich "mein Leben" schimpfte abzulenken...
Ab und zu fand ich sogar etwas, was mir gefiel... Auf den Preis musste ich noch nie achten, ich bekam genug Taschengeld, um den ganzen Laden leer zu kaufen. Aber egal was ich anprobierte, es passte einfach nichts... es war nichts gut genug, nichts war perfekt.
Ja.... "Perfekt"... dieses Wort hatte sich inzwischen in mein Gehirn eingebrannt, es spukte den ganzen Tag in meinem Kopf herum. Manchmal konnte ich an nichts anderes mehr denken, als daran, wie ich Dinge perfektionieren konnte. Und Ich fing an Dinge zu hassen, wenn sie nicht perfekt waren.
Manchmal, wenn ich gar nicht mehr weiter wusste, setzte ich mich an das Grab meiner Großeltern und erzählte ihnen wie es mir ging, meckerte, dass nichts perfekt war... und weinte. Sie konnten mich nicht mehr trösten, obwohl sie es bestimmt getan hätten
Oft wünschte ich, Oma und Opa wären wieder da und würden meiner Mutter sagen, sie soll mich doch mal beachten – nicht immer nur Julie... Aber Oma kam nicht... und Opa kam auch nicht und manchmal machte mich allein der Gedanke daran so unendlich traurig, dass ich mir wünschte zu sterben. Ich wollte oft einfach nur sterben und genau so wie meine Großeltern unter duftenden Blumen schlafen.... Aber dann hätte Julie Mama für sich alleine gehabt! Das konnte ich unmöglich zulassen!
Diese Unzufriedenheit in mir nahm mit jedem Tag zu und ich wurde rastlos. Ich weitete meine Planung aus. Vor der Schule von 04.30 – 06.00 Uhr machte ich Sport.
Danach hatte ich noch Zeit mein Frühstück nach zu stellen. Ich ließ einfach einen Teller so aussehen, als hätte ihn jemand benutzt. Ein paar Krümel hier und ein Klecks Marmelade da.... Meine Eltern waren nur zufrieden, wenn auch jeder brav sein Frühstück hatte. Den Teller ließ ich immer sichtbar stehen und schlüpfte unter die Dusche, kurz bevor die anderen aufstanden.
Und auch Abends nach dem Lernen hatte ich meinen Plan auf noch 1,5 Stunden Sport verlängert. Ein perfekter Körper muss trainiert sein! Meine Mutter fragt nur ein Mal, wieso ich so wenig aß, wenn wir Mittags und Abends zusammen am Tisch saßen. Ich meinte nur, ich wäre beim Kochen schon so hungrig gewesen, dass ich mir zwei Brote machte und sie währenddessen aß. Mit dieser Antwort war sie zufrieden.
Mein Leben wurde immer anstrengender... ich trainierte immer intensiver und aß immer weniger und oft wurde mir beim Training schwindelig...
Das Schwindelgefühl hielt selten länger als ein paar Sekunden an. Ich konzentrierte mich auf einen bestimmten Punkt an der Wand und atmete tief ein, schon ging es wieder.
Zum Schlafen blieb mir nie viel Zeit, da ich mein tägliches Trainingsprogramm ebenfalls fast täglich um ein paar Übungen erweiterte. Und irgendwie klappte es mit dem Lernen auch nicht mehr so ganz... aber um meinen Notenschnitt nicht zu versauen, lernte ich eben noch zusätzlich nach dem Sport am Abend und vor dem Morgensport.
Mit meinen Eltern hatte es kein einziges Mal mehr Streit gegeben, seit ich meinen Plan gefasst hatte. Ich war immer gut gelaunt, immer freundlich und zuvorkommend. Und ich half weiterhin jede freie Minute so viel ich konnte im Haushalt. Niemanden fiel es auf, wie dünn ich wurde.
Und niemand wusste wie es IN mir aussah. Nach außen hin war ich die liebe, immer fröhliche Tochter... Innen war ich kalt und leer... einsam und verzweifelt... Ich hatte eine Mauer um mich herum errichtet und sie mit einer fröhlichen Fassade verkleidet. In dieser Mauer konnte ich mich verstecken. Dort war ich alleine und niemand konnte dort hindurch. Es war mein eigenes Reich, meine eigene Welt, zu der nur ich alleine Zugang hatte.
Und diese Mauer musste gepflegt werden, ausgebessert, verstärkt... und ich verstärkte und verbesserte sie mit jedem Tag an dem ich ein glückliches Mädchen mimte. Doch wenn ich alleine war, dann kam sie wieder über mich, diese unglaublich tiefe Traurigkeit, die keinen Anfang und kein Ende zu haben schien, sie überrollte mich einfach und ich versank vollkommen in ihr und konnte nicht mehr aufhören zu weinen....