Leise plätschernd floss das Wasser seinen vorgegebenen Weg lang. Sanft umspülte es die süß duftenden Wasserrosen, welche ruhig auf der bewegten Oberfläche auf und ab schwankten. Wohin der Fluss führte vermochte niemand zu sagen. Nur eine Person hätte es wissen können, aber diese interessierten im Moment andere Dinge.
Ein Baum mit überirdisch weißen, in der samtenen Dunkelheit der Nacht fast leuchtenden Blüten stand am Ufer. Dieser Anblick ließ Frühling vermuten, aber die Temperaturen erinnerten eher an eine laue Sommernacht.
Und wieder war es nur diese einzige Person, welche diese Welt erschaffen hatte, die die Jahreszeit hätte benennen können, aber andere Dinge bannten ihre Aufmerksamkeit.
Sie bemerkte nicht den himmlischen Duft, welcher von den zahlreichen Blüten an diesem unwirklichen Ort verströmt wurde. Sie würde wohl nie erfahren, wie warm das Flusswasser war.
Wo war die Quelle des Wassers und wohin floss es? Was befand sich hinter den Bergen?
Das waren Fragen, die keinerlei Interesse hervorriefen.
Zu weit war sie gelaufen, um noch großartig Gedanken an ihre Umgebung zu verschwenden. Zu lange war sie schon der Spur gefolgt, um zu wissen, wieso sie diese Wanderung überhaupt begonnen hatte. Ihre Füße schmerzten, Hunger und Durst plagten sie und trotz der angenehmen Temperaturen ließ sie eine unerklärliche Kälte zittern.
Aber sie ließ sich nicht zu einer Rast nieder oder verließ ihren Weg Richtung Fluss, um einen Schluck zu trinken. Das alles war nebensächlich, sie wusste, dass das alles keine Linderung ihrer Pein bewirken würde. Diese erwartete sie erst am Ende ihrer Reise.
Und da war wieder eines der Zeichen, welcher ihr unbekannter Führer ihr hinterlassen hatte. Zu ihren Füßen lag eine weiße Rose. Es war unklar, wie lange sie schon dort lag. Sie war noch frisch, als wäre sie gerade dort platziert worden, aber in dieser Welt hatte dies nichts zu bedeuten.
Aufheben konnte das Mädchen keine der Blumen, welche ihr den Weg bisher gewiesen hatten. Sobald sie sie berührte, zersprangen sie in tausende Scherben, welche jedoch keine Verletzungen verursachten.
Die Wanderin hob den Kopf und sah eine Art Tempel auf einer sanften Anhöhe stehen. Das war das erste Gebäude, was sie auf ihrem Weg sah. Obwohl die letzten Tage nur wie eine schemenhafte Erinnerungen in ihrem Kopf herum spukten, wusste sie, dass sie eine lange Zeit nur durch unbewohnte Landschaften gelaufen war. Und jetzt plötzlich etwas, was von Menschenhand geschaffen war.
War das ihr Ziel?
Hoffnung verlieh ihr neue Kraft und mit jedem Schritt, den sie näher zu dem Gebäude kam, schien ihr ein Teil der Last von ihren Schultern genommen zu werden. Würde sie da oben tatsächlich Erlösung finden? Wäre ihr dort Ruhe gestattet? Ein Ende des scheinbar unendlichen Laufes?
Der Untergrund wechselte von Erdboden zu Marmorfließen. Niemand außer ihr war da. War dies doch nur eine Zwischenstation?
In einer Ecke stand ein Blumentopf, aus welchem weiße Rosen wuchsen. Konnte sie diese berühren? Konnte sie diesmal die samtigen Blütenblätter spüren, bevor diese zersprangen? Konnte sie sich hier eine Bestätigung holen, dass sie überhaupt wirklich da war?
Nichts hatte sie bisher von ihrer Umgebung mitnehmen können. Waren ihre Füße wirklich nur taub vom Gehen oder erstreckte sich unter ihnen kein Untergrund? Wieso war ihr kalt, obwohl sie Luft um sie herum warm schien? War dieser gesamte Ort nur eine Illusion? War das alles falsch?
Nicht, wenn sie diese Blüten berühren konnte.
Doch die schlanken Finger stoppten kurz vor dem entscheidenden Augenblick. Sie war nicht alleine. Sie spürte deutlich die Präsens einer anderen Person, direkt hinter ihr. War dies ihr geheimnisvoller Führer? Bekam sie nun endlich Antworten?
Oder würde diese Person verschwinden, wenn sie sich umdrehte? Würde sich dieses Gefühl der Zweisamkeit als Sinnestäuschung herausstellen?
Aber was sollte sie sonst tun?
Und so drehte sich das Mädchen um. Sie sah ihn. Er war wirklich, er war real. So wie ihre gesamte Umgebung es war. Hier war also wirklich ihr Ziel.
Alle Schmerzen waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. War sie wirklich tagelang umhergeirrt oder hatte sie nur drei Schritte getan? War ihre Reise hierher wirklich gewesen oder nur ein Traum?
Vertrautheit entstand bei einer bekannten Berührung. War es nicht egal, was vorher war? Zählte nicht nur das, was jetzt war? War nicht nur dieser eine Moment wichtig?
Was interessiere sie das Wie und Warum? Weshalb sollte sie sich mit Fragen über die Vergangenheit aufhalten?
-geht noch weiter-