50.
„Sie haben sich also heute Abend mit diesem Fabian verabredet? Und was ist mit Ihrem Noch-Ehemann?“
Die Psychologin sah Eileen eingehend an. Diese rutschte unbequem auf dem Stuhl hin und her.
„Ich weiß nicht. Also – doch, ich weiß schon: ich habe mich entschieden, dass ich nicht wieder mit ihm zusammen sein möchte.“

„Und wieso nicht?“
Eileen kratzte sich am Kopf. „Sie haben letztes Mal selbst gesagt, dass… also, ich meine, Sie haben mir doch geholfen, all die Überlegungen aufzustellen, die mir gezeigt haben, dass ich ihn nicht nur wegen der finanziellen Seite wieder in mein Leben lassen sollte.“
„Ja, das stimmt“, erwiderte Frau Kolopp. „Aber sind Sie sich denn ganz sicher, dass Sie keine Gefühle mehr für ihn haben? Oder ist es jetzt nur wegen der neuen Liebe, die in ihr Leben treten könnte?“
Eileen seufzte. „Das habe ich mich natürlich auch gefragt, mehrmals. Aber auch wenn Fabian nicht da wäre, würde ich es nicht tun können. Das hat mir das Wochenende klar gemacht.“
„Was ist neben Ihrem Aufenthalt im Krankenhaus noch passiert? Sie sagten, Sie hätten sich zuvor sehr aufgeregt, da Ihr Noch-Ehemann Sie besucht hat. Was ist während dieses Besuches geschehen?“
„Ich… das ist schwierig zu beschreiben.“ Eileen zögerte und sagte dann: „Wir haben uns geküsst.“
Frau Kolopp zog lächelnd die Augenbrauen nach oben, sagte aber nichts und bedeutete ihr, weiter zu sprechen.

„Ja, ich weiß, wie sich das jetzt anhört. Ich meine… er kam einfach so herein geschneit und war… er wirkte so verletzlich und irgendwie auch aufrichtig. Vielleicht… hab ich ihn die ganze Zeit falsch eingeschätzt, also, ich meine, dass ich das alles sehr einseitig gesehen habe.“
„Was man Ihnen nicht verübeln kann, nachdem Sie von ihm verlassen und wochenlang hintergangen wurden“, wandte Frau Kolopp ein.
„Ich bin verwirrt. Manchmal machen Sie den Eindruck, als seien Sie gegen ihn, manchmal aber auch gerade das Gegenteil.“
Frau Kolopp lächelte. „Nein, Frau Viersen – ich bin auf gar niemandes Seite, und ich werde und darf Ihnen auch nicht sagen, was das richtige ist, denn das kann ich gar nicht entscheiden. Ich möchte Ihnen nur helfen, alle Aspekte zu betrachten und eben nicht einseitig zu sein. Und vor allem nicht zu streng zu sich zu sein. Sie haben sich also geküsst… und ich vermute, Sie haben ein schlechtes Gewissen deswegen, aus mannigfaltigen Gründen.“
Eileen nickte. „Ja, das stimmt. Zum einen weil ich ihm damit falsche Hoffnung gemacht habe. Wobei er mich geküsst hab, nicht ich ihn! Aber das macht wohl keinen großen Unterschied, oder?“
„Für Sie schon.“
„Ja, aber ich hätte ihn ja auch abwehren können, ich hab es zugelassen.“ Sie seufzte. „Und wenn ich ganz ehrlich bin, hat es mir in diesem Moment gefallen. Es war wie ein Nachhausekommen.“

„Und trotzdem sind Sie überzeugt, dass es keine Zukunft mehr für Sie und Ihren Mann gibt? Obwohl Sie entdeckt haben, dass Sie offenbar doch noch Gefühle für ihn hegen? Beim letzten Mal waren Sie sehr viel unsicherer, ob Sie es noch einmal versuchten sollten, und Ihre Überlegungen lagen damals nur auf dem Blickwinkel der Sicherheit für das Kind und Sie selbst.“
„Ja, ich weiß. Aber ich habe gemerkt, dass diese Gefühle nicht unbedingt bedeuten, dass ich ihn noch liebe. Nicht genug, verstehen Sie.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Es ist einfach zu viel geschehen.“
„Sie meinen, weil er Sie betrogen hat?“
„Auch. Weil er mich verlassen hat. Weil ich so viele unschöne Seiten an ihm entdeckt habe in den letzten Wochen. Aber auch weil vorher schon so viel geschehen ist. Irgendwie… hatten wir uns auseinander gelebt. Ich bin mir nicht einmal sicher, wann das angefangen hat. Ich dachte immer, es sei nach der Fehlgeburt gewesen. Ja, während ich schwanger war, da war unsere Beziehung sehr innig, fast wieder neu verliebt würde ich sagen.“ Sie lächelte sanft bei der Erinnerung an jene Zeit. „Wir waren wohl einfach beseelt von dem Gedanken, dass aus zwei bald drei würden.“
„Und was war vorher? Vor Ihrer Schwangerschaft?“
Eileen dachte nach. „Genau das ist es ja – ich glaube, dass auch da schon nicht wirklich alles stimmte. Wir waren schon über vier Jahre verheiratet. Und ich hätte schon viel früher Kinder gewollt, aber Marcel war noch nicht bereit dazu. Ich habe das nie in Frage gestellt. Ich weiß auch nicht. Aber ich denke, dass ich es ihm schon innerlich nicht ganz verziehen habe, dass ich so lange warten musste, wo es doch ein Herzenswunsch war.“
„Und Sie denken, dass Sie sich darum auseinander gelebt haben?“
Eileen zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Kann das sein?“

Frau Kolopp dachte einen Moment nach und sagte dann: „Meiner Erfahrung nach ist es meist nicht der Grund, dass man sich auseinander lebt. Also diese eine Sache, sondern mehrere.“
Eileen nickte. „Ja, das kann schon sein. Wir haben eben einfach so unser Leben gelebt. Wir waren zufrieden, auch glücklich, natürlich – aber… dieses tiefe Gefühl zueinander, das war irgendwie schon eine ganze Weile vor der Schwangerschaft nicht mehr zugegen.“
„Und als Sie schwanger wurden, ist es wieder aufgeblüht?“
Eileen nickte und lächelte wieder. „Marcel war so fürsorglich und liebevoll, wir haben oft gelacht, viel gekuschelt, wir waren wirklich verliebt. Ich habe mich so richtig… angebetet gefühlt von ihm.“ Sie lachte. „Das klingt jetzt wahrscheinlich sehr eitel.“
„Nein, wieso? Es ist nichts dabei, es zu genießen, dass der Partner einen wertschätzt und …“, Frau Kolopp schmunzelte. „Im Bestfall vielleicht auch einmal anbetet. Die Frage ist nur: war das alles, was es ausgemacht hat?“
Eileen schüttelte den Kopf. „Nein, nein! Es ist nur schwer zu beschreiben, es ist eben ein Gefühl, das man hat. Wir waren uns einfach sehr nahe in dieser Zeit.“
„Und als Sie das Kind verloren, da verloren Sie automatisch auch dieses Gefühl zueinander?“
„Ich fürchte schon“. Eileen seufzte. „Es… sein Verhalten danach, das war wie… eine kalte Dusche. Es war doch ohnehin schon alles schlimm genug, und ich dachte… dass er mich hält, stützt und fängt.“
„Das ist ganz normal, aber: wer hat ihn gehalten, gestützt und gefangen?“

Eileen schluckte. „Ich… ich hatte nicht den Eindruck, dass er das brauchte. Ich meine… er hat keine Träne geweint, er hat… das ganze nicht einmal angesprochen. Er sagte danach immer nur, *als du im Krankenhaus warst* oder *als das passiert ist* … er hat nie das Wort *Fehlgeburt* oder gar den Ausdruck *Kind* in den Mund genommen. Es… es war, als wäre es nie geschehen.“
Frau Kolopp sah Eileen ernst an. „Aber das bedeutet nicht, dass es ihn nicht berührt hat. So wie Sie mir das beschreiben, hat sich Ihr Mann sehr auf das Kind und seine Vaterschaft gefreut.“
„Ja, das hat er, das hat er wirklich.“
„Und dann ist alles von einer Minute auf die andere zerbrochen. War er dabei, als Sie die Diagnose bekamen?“
„Nein, nein – er war an diesem Tag unterwegs. Noch so etwas, was ich ganz schlimm fand. Ich meine, er konnte da nichts dafür, es war geschäftlich. Er … kam dann ins Krankenhaus, am Abend. Als schon alles geschehen war.“

Frau Kolopp stöhnte leise. „Das ist ja furchtbar. Frau Viersen, mich wundert das nicht. Versetzen Sie sich doch mal in die Lage von ihm, für einen kleinen Moment: Er kommt am Abend nach Hause und findet Sie im Krankenhaus vor: und von einem Augenblick auf den anderen ist die Zukunft, die er sich ausgemalt hat, nicht mehr existent. Er hatte nicht einmal die Chance, dabei zu sein… es zu begreifen. Es war wie ein Schalter, der umgelegt wurde und genauso ist es dann vielleicht auch in ihm gewesen. Es war vorbei… er wurde nicht gefragt, nicht mit einbezogen, also schaltete auch er um. Aus Selbstschutz vielleicht?“
Eileen dachte einen Moment nach und sagte dann mit zittriger Stimme: „Aber… ich konnte doch nichts dafür! Ich war selbst überrumpelt und…“
„Stopp, Frau Viersen“, fiel ihr die Psychologin ins Wort. „Das war keine Schuldzuweisung, nur eine Feststellung, eine Hypothese, mehr nicht! Es ist viel schief gegangen bei Ihnen, man hätte Sie sanfter informieren sollen, Ihnen Bedenkzeit geben sollen.“
„Die Ärztin machte den Eindruck, als sei das gar nicht in Frage zu stellen“, wandte Eileen ein.

„Ja – leider machen das viele so. Aber die Erfahrungen zeigen, dass es wichtig für die Frauen und auch die betroffenen Väter ist, sich Zeit zu geben. Sehen Sie, wenn solche traumatischen Dinge geschehen, sind wir nicht in der Lage, alles auf einmal auf zu nehmen und zu begreifen. Das ist wie mit einer Festplatte, die einfach zu voll ist und man versucht immer noch etwas darauf zu speichern. Wenn man das ganze langsam angehen lässt, ist die Chance größer, dass es nach und nach gespeichert und verarbeitet wird, so dass die Festplatte sozusagen gar nicht erst an ihre Grenzen stoßen muss. Manchmal passiert es eben doch, wenn sich viele, eindrückliche Ereignisse überschlagen. Dann ist es wichtig, dass man sie im Nachhinein zu sortieren und zu verarbeiten versucht – nur dann kann man damit abschließen.“
„Und wie soll das gehen?“
„Indem man darüber redet beispielsweise. Und anspricht, was da ist – ohne es zu bewerten. Natürlich sprechen wir alle gerne über Freude und nette Empfindungen, aber Wut oder sogar Hass – das sprechen wir nur ungern aus. Haben Sie und Ihr Mann jemals darüber gesprochen? Über das, was geschehen ist an jenem Tag?“
Eileen schüttelte den Kopf. „Ich hab es einige Male versucht, aber… er wurde dann immer sehr aggressiv und… dann hab ich es irgendwann aufgegeben.“

„Männer gehen anders damit um als Frauen. Ich denke, es war einfach viel Ungesagtes zwischen Ihnen … und ist es heute noch.“
„Und das heißt?“
Frau Kolopp lächelte. „Ich weiß nicht. Was heißt es für Sie?“
„Ich… bin mir nicht sicher. Ich… bin trotzdem der Meinung, dass eine Beziehung mit ihm wieder scheitern würde. Ich… liebe ihn nicht mehr, oder nicht mehr genug.“
Frau Kolopp nickte. „Es ist sehr mutig von Ihnen, sich das einzugestehen. Es zeigt, dass auch Sie sich weiter entwickelt haben. Und was ist mit Fabian?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Eileen schon wieder. „Ziemlich mau, was? Dass ich so gar nichts weiß.“

„Man sagt, dass es zu einer der weisesten Aussagen gehört, zugeben zu können, dass man es nicht weiß“, erwiderte Frau Kolopp sanft. „Es gehört auch hier viel Mut dazu, und es zeigt, dass Sie nicht mehr die Kontrolle über alles haben möchten.“
„Das klappt sowieso nicht“, erwiderte Eileen. „Ich… will das mit Fabian jetzt einfach mal auf mich zukommen lassen und sehen, wohin es führt.“
„Das finde ich gut“, entgegnete die Psychologin. „Und heute Abend wissen Sie vielleicht schon mehr. Und Ihr Noch-Ehemann?“
„Der weiß davon noch nichts, wieso auch, es ist ja noch nichts geschehen. Ich werde ihm am Wochenende sagen, was ich entschieden habe. Ich brauche noch einige Tage, damit ich mich nicht wieder so aufrege und dem Baby schade.“

Wenige Minuten später ließ sich Eileen auf den Fahrersitz ihres Wagens fallen. Nachdenklich startete sie den Motor und bog auf die Hauptstraße ab.
Die Psychologin hatte ihr einiges zum Denken mitgegeben. Hatte sie Marcel wirklich falsch eingeschätzt, vor allem was sein Verhalten nach der Fehlgeburt anging?
Waren sie vielleicht einfach die ganze Zeit aneinander vorbei gelaufen?
Zum ersten Mal begann sie die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Vielleicht hatte er genauso getrauert, und sie hatte seine Trauer genauso wenig bemerkt und respektiert wie er die ihre?
Als er damals in ihr Krankenzimmer gekommen war – nach dem Eingriff – und so starr und steif dastand. Die Augen ins Leere, das Gesicht mit einer Härte überzogen, die sie sonst kaum an ihm kannte… immer hatte sie geglaubt, er habe sich mit Absicht distanziert oder es habe ihn einfach kalt gelassen, was geschehen war. Zum ersten Mal hatte sie das Bild von ihm anders vor Augen – genau hart, genauso kalt, genauso leer im Blick… doch mit einemmal sah sie in diesem Bild auch Einsamkeit, Trauer, Schmerz, Fassungslosigkeit.

All das hatte sie nie gesehen, kaum in Erwägung gezogen. Sie hatte sich so danach gesehnt, getröstet, gehalten und verstanden zu werden. Hatte sie darüber vielleicht vergessen, dass Marcel all das vielleicht genauso benötigt hätte?
Der Gedanke erschien ihr befremdlich, wo sie doch so oft versucht hatte, mit ihm zu sprechen oder einen gemeinsamen Weg zu finden, den Verlust irgendwie kenntlich zu machen.
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Heute wollte sie nicht weiter darüber nachdenken.
In anderthalb Stunden würde Fabian bei ihr zum Essen aufschlagen und sie musste sich sputen, um bis dahin fertig zu werden.
Ihr Herz, das sich eben noch schwer und verwirrt angefühlt hatte, hüpfte bei dem Gedanken an das, was ihr nun bevorstand.
Solche Gefühle hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt. Für einen Augenblick ergriff sie ein schlechtes Gewissen, dass sie die Gedanken um Marcel nun so einfach beiseite schob. Doch dann lächelte sie und schüttelte den Kopf.
Es war an der Zeit, auch wieder andere Gedanken zuzulassen. Es war an der Zeit, auch einfach nur einmal an sich selbst zu denken und das, was das Leben ihr bot, zu genießen.
Und mit Schmetterlingen im Bauch drehte sie das Radio auf und fuhr rasch nach Hause.