34.
Eileen saß zitternd auf dem Bett und starrte ins Leere. Ihr Kopf fühlte sich an, als sei er zu einem gigantischen Wattebausch mutiert.

Ihre Mutter trat ins Zimmer und musterte sie sorgenvoll.
„Schatz… kann ich Dir etwas bringen?“, fragte sie sanft.
Eileen schüttelte den Kopf.
"Nein“, sagte sie und lächelte tapfer. „Nein. Ich… bin nur so durcheinander.“
„Du solltest ein wenig schlafen. Ich gehe runter zu deinem Vater ins Wohnzimmer.“
Eileen sah sie einen Moment an und erwiderte: „Ihr müsst eigentlich nicht bleiben, Mama. Ich… fühle mich schon wieder ganz gut und… eigentlich wäre ich jetzt gerne alleine.“
Ihre Mutter dachte einen Moment nach und sagte dann: „Eigentlich möchte ich dich nicht alleine hier lassen, Schatz. Was, wenn du doch noch einmal ohnmächtig wirst?“
Eileen schüttelte den Kopf. „Du brauchst dich nicht ängstigen. Sowohl Doktor Lengert als auch die Frauenärztin haben gesagt, dass mein Zusammenbruch nur von der Aufregung, der Belastung und dem fehlenden Essen kamen. In der Schwangerschaft…“, sie schluckte und wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, genau das gesagt zu haben. „Da braucht man einfach öfter etwas zu essen. Wegen dem Blutzucker.“

Ihre Mutter nickte. „Ich weiß, ich weiß. Aber… das alles…“, sie sah sich im Zimmer um, als stände dieses symbolisch für die Ereignisse der letzten Wochen. „War doch ziemlich viel und …“
„Mama, ihr könnt nicht hier einziehen für die kommenden Wochen. Ich muss jetzt einfach einen Weg finden, besser auf mich zu achten“, erwiderte Eileen müde. „Und ich würde gerne damit anfangen, indem ich ein wenig schlafe und einfach meine Ruhe habe. Bitte, Mama… ich habe euch gerne um mich, aber manchmal möchte man einfach alleine sein. Ich muss das ganze jetzt erst einmal verarbeiten, verdauen.“
Sie sah ihre Mutter ernst an.
„Gut“, erwiderte diese schließlich. „Wir fahren nach Hause. Aber bitte rufe mich noch einmal an, bevor du schlafen gehst. Morgen früh komme ich vorbei und bringe dir Frühstück und ein paar Einkäufe, ja?“

Eileen nickte. „Ja. Ich werde jetzt noch Lene anrufen und ihr erzählen, was los war. Sie muss mich auch bei meinem Chef entschuldigen.“ Eileens Herz sank bei dem Gedanken daran, dass sie nun schon wieder auf der Arbeit fehlen würde. Aber die Ärztin hatte nicht mit sich reden lassen. Den Rest der Woche musste Eileen auf jeden Fall im Bett oder zumindest auf der Couch verbringen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Glücklicherweise war schon Mittwochabend, aber drei Fehltage ließen sich nicht vermeiden.
„Gut, Schatz“, ihre Mutter lächelte und strich ihr über den Kopf, als sei sie wieder ein kleines Mädchen. „Dann ruh dich aus und wenn etwas ist, ruf uns an.“
Eileen nickte und lehnte sich in den Kissen zurück, während ihre Mutter das Zimmer verließ. Sie hörte sie unten gedämpft mit ihrem Vater sprechen – allen Anscheins nach führte sie jetzt fast genau dieselbe Diskussion mit ihm wie Eileen einige Minuten zuvor mit ihr geführt hatte – und schließlich fiel die Haustür ins Schloss. Eine Minute später war das Geräusch ihres Motors in der Ferne verklungen. Eileen seufzte tief. Draußen begann es bereits wieder zu dämmern.

Sie stand auf, griff nach ihrer Tasche und holte ein Ultraschallbildchen hervor, das sie nachdenklich betrachtete.
Das Baby war schon deutlich zu erkennen – kein Wunder, nach den Berechnungen der Ärztin war Eileen auch bereits im vierten Monat, ganz wie die Ärzte es schon vor der Untersuchung vermutet hatten.
Sie betrachtete das kleine Wesen lange. Es sah fast genauso aus wie das Baby damals, nur um einiges größer. Kleine Ärmchen, die schon kräftig in ihr herumruderten, ein heftig pochendes Herzchen, das eifrig auf dem Bildschirm gezuckt hatte. Das Kleine war wach gewesen, in ihrer Gebärmutter auf und nieder gehüpft, hatte mit Ärmchen und Beinen Schwimmbewegungen vollführt und einmal sogar die winzige Hand gehoben, als wolle es ihr durch den Bildschirm zuwinken und sich mit „Hallo Mama, da bin ich nun also“ vorstellen.
Ob es jedoch ein Junge oder ein Mädchen war, hatte man noch nicht erkennen können.
Eileen seufzte und legte das Bild sorgsam in ihren Nachttisch.
In ihr herrschte ein solches Wirrwarr an Gedanken und Gefühlen, das ihr davon fast schon wieder schwindelig wurde.

Der Himmel hatte sich mit Wolken zugezogen und Eileen war sich sicher, dass es bald wieder zu schneien anfangen würde. Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch und hielt ob dieser Bewegung inne. Es war ihr fast, als spüre sie die kleinen Tritte in sich bereits, auch wenn das unmöglich war. Wie konnte es nur sein, dass seit fast acht Wochen ein zweites kleines Herzlein in ihr schlug und sie nichts davon bemerkt hatte?

Sie sah an sich herunter und musste unfreiwillig grinsen. Nun ja – fast nichts aus den enger werdenden Hosen. Wer hätte aber je gedacht, dass daran nicht die Sahnetorten sondern ein kleines Menschlein schuld sein könnte?
Eileen schüttelte den Kopf, immer noch völlig fassungslos. Immerhin hatte sie ihre Menstruation bekommen… sie schluckte. Im Nachhinein war ihr klar, dass das, was sie dafür gehalten hatte, wohl eher Zwischenblutungen gewesen sein mussten. Aber sie hatte gedacht, es sei eine – aufgrund der Umstände eben etwas durcheinander geratene – Periode gewesen.
Wer sollte es ihr schon übel nehmen, dass sie in den stressigen letzten Wochen alles andere im Sinne gehabt hatte als Zykluskalender zu führen? Zumal sie ja abstinent gelebt hatte… nun ja, zumindest nach der Trennung.
Sie kratzte sich am Kopf und fragte sich, ob das eigentlich alles nur ein verrückter Traum sei? Aber wo fing er an und wann hörte er auf?
Stöhnend griff sie sich an die Stirn, es fühlte sich an, als platze ihr Kopf, nicht vor Schmerz, sondern von der Fülle an Gedanken darin, die allesamt keinen rechten Sinn geben wollten.
Ihr Magen knurrte, so dass sie das Schlafzimmer verließ und nach unten in die Küche ging. Im Kühlschrank fand sich eine vorsorglich von ihrer Mutter vorbereitete Platte mit belegten Broten, von denen sie sich eines auf einen Teller legte.

Sie wollte keinesfalls riskieren, dass ihr wieder der Boden unter den Füßen verloren ging.
Nachdem sie sich gestärkt hatte, warf sie einen Blick zur Uhr. Es war nun fast halb sechs, und Lene dürfte inzwischen zu Hause angekommen sein. Also griff sie nach dem Hörer und holte tief Luft.
Bisher wusste Lene nur, dass sie heute krank war – ihre Mutter hatte sie kurz von der Klinik aus angerufen, aber nichts Genaues gesagt.
Wie sollte sie ihrer Freundin nur beibringen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden alles geschehen war?
„What a difference a day made. Twenty-four little hours…”, ging Eileen der alte Song von Diana Washington durch den Kopf.
Am anderen Ende der Leitung hörte sie es tuten und schließlich meldete Lene sich atemlos.
„Hallo?“

„Hei, Eileen hier.“
„Eileen! Wie schön, dass du anrufst. Mensch, ich hab mir den ganzen Tag Sorgen gemacht. Was ist los, wo bist du?“
Eileen schluckte und wusste nicht recht, wo sie anfangen sollte. Schließlich sagte sie langsam: „Das ist eine lange Geschichte, Lene.“
„Was ist passiert?“ Lene klang erschrocken. „Geht es dir gut?“
„Ja, soweit. Ich bin zu Hause.“
„Warst du denn woanders?“
Eileen kratzte sich am Kopf. „Hat meine Mutter dir nichts gesagt?“
„Sie rief nur an und sagte, du kannst nicht kommen.“
„Oh...“, Eileen biss sich auf die Lippen. Sie hätte gedacht, dass Lene wenigstens die groben Fakten wusste. „Also… ich war im Krankenhaus. Bis vorhin.“
„Du selbst? Was ist los?“
„Längere Geschichte“, sagte sie erneut und schnitt eine Grimasse, auch wenn Lene sie nicht sehen konnte.

„Soll ich vorbeikommen?“, bot Marlene sofort an.
Doch Eileen schüttelte den Kopf und sagte schnell: „Nein – sei mir nicht böse, aber ich bin noch nicht wieder ganz auf den Beinen. Ich werde gleich schlafen gehen. Also, Lene… ich versuch es mal in der Kurzform… ich…“
„Ja?“
„Ich bin schwanger, Lene.“
Schweigen am Telefon. Eine halbe Minute. Eine Minute.

„Lene?“
Eileen ging nervös auf und ab„Bist du noch dran?“
„Ja. Sag mal…willst du mich vergackeiern?“
Sie klang wütend.
Eileens Stimme wurde zittrig. „Ich wünschte, es wäre so.“
„Wie kannst du schwanger sein? Von wem?“
Erst jetzt begriff Eileen, was Lene von ihr denken musste.
„Nein… nein, nein“, rief sie schnell aus. „Nicht so wie du denkst!“
„Was denke ich denn?“, gab Lene schmollend zurück. „Ich denke, du hättest es mir wenigstens erzählen können, dass du schon jemand neuen hast…“

„Nein, Lene, stopp – stopp!“, rief Eileen hastig in den Hörer. „Du irrst dich. Ich bin schwanger… von Marcel schwanger.“
„Wie bitte? Seit wann läuft das wieder?“
Eileen wäre am liebsten durch den Hörer gesprungen und hätte Lene geschüttelt.
„Lene! Nun hör mir doch erstmal zu! Ich bin bereits im vierten Monat! Es… es ist Marcels Kind. Es ist… noch vor der Trennung passiert, verstehst du!“
Wieder Schweigen. Dann ein „Oh“, von Marlene.
War das alles? Eileen schwieg und wartete darauf, dass Marlene etwas sagte. Nach einer schier endlos scheinenden Zeit tat sie es dann auch: „Wie… wie kann das sein? Hast du es nicht gemerkt?“

„Nein“, erwiderte Eileen und versuchte den Ärger über den Ton, in dem ihre Freundin den letzten Satz gesagt hatte, hinunter zu schlucken. „Nein, ich hatte meine Periode und ich hätte nie gedacht, dass ich schwanger sein könnte.“
Marlene schwieg erneut. Dann fragte sie: „Und jetzt ist es weg?“
Eileen riss die Augen auf. „Was? Wie kommst du darauf?“
„Na… weil du im Krankenhaus warst. Ich dachte, du…“
„Du dachtest, ich hab es wegmachen lassen“, vollendete Eileen ihren Satz. „Und es dir jetzt erst erzählt, oder wie?“
Marlene schien sich nun unsicher zu werden.
„Nein… ich… dachte nur, dass du vielleicht… dass du deswegen in der Klinik warst und…“
„Nein, deswegen nicht“, sagte Eileen mit plötzlich sehr kalter Stimme. „Ich war gestern in der Klinik, weil Marcel einen Autounfall hatte.“

„Ach herrjeh!“, rief Marlene aus. „Habe ich ihm zu sehr den Teufel an den Hals gewünscht?“
Eileen konnte sich nur noch über ihre Freundin wundern. Ihre Offenbarung, von ihrem Mann, der sie einige Wochen zuvor wegen einer anderen verlassen hatte, im vierten Monat schwanger zu sein, löste endloses Schweigen und merkwürdige Rückschlüsse bei ihr aus, aber die Aussage, dass eben jener Mann einen Unfall gehabt hatte, löste ihre Zunge?
„Nun, es geht ihm nicht schlecht, aber… mir ging es nach der Aufregung nicht so gut, und die Ärzte haben mich über Nacht dabehalten und dabei gemerkt, dass ich schwanger bin“, kürzte sie die aufreibenden Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden ab.
„Und nun?“, fragte Marlene abermals. „Wirst du das Kind behalten?“

Wieder spürte Eileen einen eisigen Zorn in sich über die Flapsigkeit, mit der ihre Freundin diesen Satz äußerte.
„Marlene – ich bin schon mitten des vierten Monats!“, rief sie aus. „Ich habe gar keine Wahl!“
„Oh“, stieß diese wieder hervor und verfiel dann wieder in ihr Schweigen. Schließlich sagte sie vorsichtig: „Und… gibt es da gar keine Möglichkeit? Vielleicht in einem Nachbarland oder bei einem privaten Arzt?“
Eileen schluckte. „Marlene, sag mal… hast du was getrunken?“
„Nein, wieso?“
„Weil… weißt du, was du da gerade gesagt hast?“
Marlene schluckte schuldbewusst. „Ja… ich meine… ach Mensch, Eileen, ich weiß auch nicht, was ich jetzt sagen soll. Ich meine… du bist ohnehin am Ende, nun auch noch ein Kind, auch noch von Marcel. Ich frage mich eben nur, wie das gehen soll?“
„Es muss und wird wohl gehen“, sagte Eileen fest. „Schließlich ist es jetzt da. Und es ist mein Baby und… kann nichts dafür, was sein Vater getan hat. Es verdient genauso die Chance auf Leben und Liebe wie sein Geschwisterchen sie auch hatte.“

Erst jetzt, als sie diese Worte so inbrünstig sprach, realisierte sie, dass das genauso war. Und dann spürte sie, wie ein warmes Gefühl für das kleine Wesen in ihr aufzusteigen begann und ihre Brust erfüllte.
„Es ist mein Kind“, sagte sie darum fest. „Und irgendwie schaffe ich das schon.“
„Na… gut, wenn du meinst“, erwiderte Marlene und klang wenig überzeugt. Eileen wäre ihr am liebsten ins Gesicht gesprungen. Was gab es denn für Alternativen und wie konnte Marlene nur so wenig teilnehmen?
„Nun ja…“, sagte Eileen schnell und versuchte, ihren Ärger herunterzuschlucken. „Jedenfalls haben mich die Ärzte für die nächsten zwei Tage aus dem Verkehr gezogen. Ich weiß, das ist nicht gut, aber ich habe sie nicht überzeugen können. Aber am Montag bin ich wieder da. Sagst du Herrn Kuhrmaier, dass es mir leid tut?“
„Und was soll ich sagen, wieso du schon wieder fehlst?“, fragte Marlene ratlos.

„Sag, ich bin krank. Den Rest bespreche ich am Montag mit ihm“, erwiderte Eileen rasch. „Ich muss jetzt auflegen. Bis dann.“
Und ehe Marlene noch ein Wort hatte sagen können, legte Eileen auf. Wütend funkelte sie das Telefon an. In manchen Dingen war Marlene einfach ein unsensibles Trampeltier!
Doch dann legte sie den Hörer beiseite und sah an sich hinunter. Und zum ersten Mal berührte sie ihren Bauch mit jener Zärtlichkeit, die sie noch von früher kannte – und plötzlich fühlte sie sich nicht mehr verwirrt oder verzweifelt.

Sondern glücklich. Einfach glücklich
Fortsetzung folgt.