41.
Die Fahrstuhltüren schlossen sich langsam hinter Eileen und sie biss sich nervös auf der Unterlippe herum, während sie vor der Tür aus dunklem Eichenholz stehen blieb.
Dann schließlich fasste sie sich ein Herz und klingelte.
Von innen waren Schritte zu hören, dann öffnete eine ältere Dame mit freundlichem Gesicht.
„Frau Viersen?“, fragte sie direkt und lächelte Eileen warm an.
Diese nickte und sah sich unbehaglich um.
„Kommen Sie doch herein.“
Langsam betrat Eileen die kleine Wohnung. Es roch nach einer feinen Note aus Lavendel und Sandelholz, vermischt mit einem Hauch Vanille
Es wirkte alles anheimelnd und warm, die rustikal gemauerten Wände, die zahlreichen Blumen und das warme Licht der Lampen, die den vom frühen Abend ins Dunkel getauchten Flur erhellten.
„Ich bin Frau Kollop“, stellte sich ihr Gegenüber vor und reichte ihr die Hand zum Gruß. „Wie schön, dass das so schnell geklappt hat mit uns beiden.“ Sie lächelte erneut.
Eileen nickte nur und konnte immer noch nichts sagen, darum folgte sie Frau Kollop in das nächst gelegene Zimmer.
Es war warm und gemütlich darin, auf einem kleinen Sideboard brannten zahlreiche Kerzen, die nach Eileens Vermutung für den angenehmen Duft im Raum verantwortlich waren.
Sie ließ sich in einen der gemütlichen Sessel sinken, während Frau Kollop ihr gegenüber Platz nahm.
Wieder lächelte diese sie an und sagte dann: „Sie sind auf Empfehlung von Frau Walter hier?“, fragte sie dann, und Eileen nickte rasch.
„Ja, Sie hat mir Ihre Karte gegeben. Vorige Woche.“
„Es ist Ihr erstes Mal bei einer Psychologin?“
Eileen nickte unbehaglich und Frau Kollop sah sie verständnisvoll an.
„Das erste Mal fühlen sich viele meiner Patientinnen unwohl, aber das müssen Sie gar nicht. Es ist völlig in Ordnung, sich in schwierigen Situationen Hilfe zu holen. Das hat nicht das Geringste mit Verrücktsein oder Labilität zu tun“.
Eileen atmete ein wenig auf, es schien, als habe die Psychologin ihre Gedanken erraten.
„Ich… habe lange überlegt, ob ich anrufen soll. Aber … irgendwie weiß ich nicht wohin mit meinem ganzen Gefühlschaos“, sagte sie dann langsam.
„Nun, in diesem Raum hier ist es gut aufgehoben“, sagte die Psychologin sanft. „Wie wäre es, wenn Sie mir erst einmal ein bisschen etwas über sich erzählen und was Sie hierher führt?“
Eileen nickte und rieb ihre Hände aneinander, die wohlige Wärme im Raum tat ihr gut, nachdem sie ohne Mantel durch die Kälte gegangen war. Sie hatte direkt vor dem Haus geparkt und es nicht für nötig gehalten, sich wärmer zu bekleiden, aber im Hausflur war es doch sehr kalt gewesen.
„Ich… mein Mann hat sich vor etwas mehr als zwei Monaten von mir getrennt. Und jetzt bin ich schwanger von ihm.“
Die Psychologin sah sie weiterhin an und zeigte keine Regung. Eileen vermutete, dass sie solche Geschichten vermutlich ständig in ihrer Praxis hörte.
Für einen Moment zweifelte sie erneut an der Richtigkeit ihres Besuches. Aber da sie nun ja ohnehin hier war, konnte sie auch weitersprechen.
Also begann sie zu erzählen: davon wie Marcel gegangen war und wie schwer die ersten Wochen danach für sie gewesen waren. Wie sehr sie sich geweigert hatte, zu akzeptieren, dass er sie nicht mehr liebte und dass es aus war.
Und dann schließlich von der Schwangerschaft.
Dann schwieg sie eine Weile und auch die Psychologin sagte vorerst nichts. Schließlich erhob sie aber doch die Stimme und sagte: „Das ist eine ganz schön schwierige Situation für Sie, Frau Viersen. Es ist gut, dass Sie damit nicht ganz alleine fertig zu werden versuchen.“ Sie sah Eileen an. „Ich habe aber das Gefühl, dass da noch irgendetwas ist. Was ist mit Ihrem Mann? Weiß er von dem Kind? Oder gibt es noch etwas, das sie aufwühlt?“
Eileen schluckte. „Nun ja…“, sagte sie langsam. „Mein Mann weiß davon. Ich habe vor einigen Tagen mit ihm gesprochen. Und…“
Sie seufzte. „Es ist alles noch schwieriger geworden. Es war ein katastrophaler Abend. Obwohl… nicht ganz.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Was hat Ihr Mann dazu gesagt?“, fragte Frau Kolopp nach.
„Er…“, Eileen seufzte. „Er möchte, dass wir es noch einmal miteinander versuchen. Dem Kind zuliebe.“
Die Psychologin nickte. „Das klingt ja ganz anständig von ihm?“
Eileen sah sie verwundert an. „Anständig? Nun ja… ich weiß nicht.“
Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und spürte den Zorn in sich aufflammen. „Ich weiß nicht, ob man das anständig nennen kann – ich … ich meine, er hat mir so viel angetan in dieser Zeit. Er wollte das Haus gegen meinen Wunsch verkaufen – und bis heute habe ich keinen Cent von ihm gesehen, obwohl er rechtlich dazu verpflichtet ist, sich an den Raten zu beteiligen. Er weiß genau, dass ich finanziell untergehe, wenn er mich hängenlässt. Wochenlang musste ich ihn anbetteln, nie hat er sich bewegt und am Ende wollte er mich sogar erpressen. Als er im Krankenhaus war, bin ich sofort zu ihm gefahren… und er hat mich bis auf die Knochen blamiert, als er direkt nach dem Aufwachen nach seiner Neuen fragte.“
Sie sah die Psychologin wütend an: „Ich… ich meine… er wohnt immer noch bei ihr. Er lässt sich in diesem Moment vermutlich von ihr pflegen, und innerlich wartet er vermutlich nur darauf, dass ich ihm wieder Tür und Tore öffne! Das kann es doch eigentlich nicht sein, oder?“
Sie sah die Psychologin so wütend an, dass man hätte meinen können, sie selbst sei schuld an allem. Diese jedoch lächelte nur, fast verschmitzt.
„Sehr gut, Frau Viersen. Jetzt haben Sie zum ersten Mal seit Sie hier sind richtig Ihre Emotionen erfasst und ausgedrückt. Ich habe Sie extra ein wenig provoziert, weil ich wissen wollte, wie es in Ihnen im Moment aussieht, was diese ganze Sache angeht.“
Eileen sah sie erstaunt an. „Und… was haben Sie nun herausgefunden dabei?“, fragte sie dann leicht verärgert.
„Ich glaube“, sagte die Psychologin langsam“, dass ich Ihnen das gar nicht beantworten muss. Sie selbst können sich das beantworten.“
Eileen sah sie verwirrt an und Frau Kollop sprach weiter: „Sie haben vorhin gesagt, in Ihnen herrscht Gefühlschaos. Sie wissen nicht, was Sie tun sollen, wie Sie zu Ihrem Mann stehen. Es gibt einen Widerspruch zwischen dem logischen Denken – das natürlich klar sieht, wie günstig es wäre, der Ehe eine neue Chance zu geben, allein der Absicherung wegen – und Ihren Gefühlen.“
Eileen überlegte einen Augenblick und erwiderte dann: „Ja, das ist ganz richtig. Aber das hat sich noch nicht geändert.“
Die Psychologin pflichtete ihr bei: „Es ist eine schwere Entscheidung. Auf der einen Seite haben Sie die Verantwortung gegenüber des Kindes, schwere Sorgen, was ihre wirtschaftliche Lage angeht. Auf der anderen Seite haben Sie aber auch sich selbst gegenüber eine Verantwortung. Lassen Sie uns eine scheinbar einfache Frage stellen, die aber vermutlich die schwierigste überhaupt ist: Lieben Sie Ihren Mann noch?“
Eileen schluckte und sah ihr Gegenüber ratlos an. „Ich… ich weiß nicht“, sagte sie dann langsam.
Die Psychologin dachte einen Augenblick nach. Dann sagte sie: „Gibt es noch irgendetwas, das Sie zu Ihrem Mann zieht? Gefühle, Sehnsüchte…?“
Eileen dachte einen Augenblick nach und fühlte tief in sich hinein. Dann überkam sie die Erkenntnis mit voller Wucht und sie sah die Psychologin verwirrt an.
„Ich… nein“, sagte sie dann. „Nein… Sie… Sie haben Recht. Ich… ich liebe ihn nicht mehr. Nicht ein bisschen.“
Die Psychologin nickte. „Sind Sie sicher?“, fragte sie dann. „Wenn Sie ihn nicht mehr lieben, wieso sind Sie dann so schnell an sein Krankenbett geeilt?“
Eileen schluckte wieder und schüttelte verwirrt den Kopf. Hatte sie ihr Gefühlschaos nicht lichten wollen? Stattdessen schien alles nur noch verwirrender zu werden durch diese Fragen.
„Ich… ich weiß nicht genau“, stammelte sie. „Vielleicht… aus Gewohnheit. Aus einem… alten Impuls. Kann das nicht sein?“
Die Psychologin nickte erneut. „Ja, natürlich – Sie haben viele Jahre zusammengelebt und Emotionen erlischen entgegen aller landläufigen Überzeugungen in der Regel nicht von heute auf morgen. Aber vielleicht ist genau das, was Sie an sein Bett trieb, ja ein Rest der Liebe, die noch übrig ist?“
Eileen schüttelte vehement den Kopf. „Nein. Nur weil er mir nicht völlig gleichgültig ist, heißt das doch lange noch nicht, dass ich ihn liebe. Schon gar nicht, dass ich ihn genug liebe, um noch einmal eine Beziehung mit ihm zu beginnen.“
Die Psychologin lächelte wieder. „Ich nehme an, Sie haben sich in diesem Moment die Frage, die Sie so sehr beschäftigte, als Sie hier herein kamen, im Großen und Ganzen selbst beantwortet?“
Eileen sah sie erstaunt an. „Ja… irgendwie schon“, sagte sie dann und dachte einen Moment nach. „Aber… habe ich denn ein Recht, nur an mich zu denken und was ich fühle? Ich meine… ohne Marcel schaffe ich es nicht… ich habe kaum Reserven auf dem Konto. Und wenn ich kein Gehalt mehr bekomme… wovon soll ich denn leben? Soll ich zum Sozialfell werden? Oder mein Kind von Anfang an fremden Leuten geben? Ich… das ist doch kein schönes Leben für ein Kind! Bin ich es ihm nicht schuldig, die andere Variante zu leben? Ich meine… mit Marcel könnte es so einfach werden. Er verdient genug, um uns beide und das Kind zu versorgen … gut zu versorgen… ich kann doch nicht nur an mich denken.“
Aufgebracht sah sie die Psychologin an.
Diese schwieg wieder einen Augenblick und erwiderte dann: „Das ist der andere Aspekt. Aber lassen Sie mich eine Frage stellen: War Ihre eigene Kindheit … nun ja, sagen wir mal… einigermaßen glücklich?“
Eileen sah sie zerstreut an. „Ja… natürlich… ja.“
„Und… die Erinnerungen, die Sie haben. Die besonders glücklichen, intensiven meine ich. Was für welche sind das?“
Eileen kratzte sich am Kopf. „Ich… ich weiß nicht genau.“
Sie dachte intensiv nach und lächelte dann: „Weihnachten. Wenn ich mit meiner Mutter oder Großmutter, die damals noch lebte, Plätzchen backte. Oder… diese Spieluhr, jeden Abend hat mein Vater sie mir aufgezogen und dann eine Geschichte vorgelesen… mh… und was ich auch besonders gut in Erinnerung habe… wenn meine Großmutter Suppe kochte und wie das Haus danach roch.“
Sie lächelte und winkte dann ab. „Nun ja… nichts Besonderes eben.“
„Ja“, sagte die Psychologin und sah sie an. „Nichts Besonderes. Wären die Erinnerungen denn anders, wenn Ihre Eltern mehr verdient hätten? In einem größeren Haus gelebt hätten? Wenn Sie Ihnen Klavierunterricht und ein Pony hätten bezahlen können?“
Eileen sah sie stumm an und schluckte. „Nein“, erwiderte sie dann langsam.
„Und… was wäre mit all diesen Erinnerungen, wenn Ihre Eltern sich nicht gemocht hätten. Wenn Ihre Mutter, Ihr Vater, Ihre Großmutter innerlich gelitten hätten? Wirkten sie damals authentisch auf Sie oder so, als würden Sie sich jahrelang zu etwas zwingen, was sie nicht mochten?“
Eileen seufzte. „Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Nein, vermutlich wären die Erinnerungen dann in dieser Form nicht so schön. Aber… trotzdem kann man das doch nicht so einfach sagen. Ich meine, immerhin waren Marcel und ich so lange zusammen. Vielleicht gewöhnen wir uns ja wieder aneinander. Wer weiß… wir waren doch glücklich. Wir könnten es doch wieder werden?“
Frau Kollop lehnte sich nach vorne. „Frau Viersen, ich… kann und werde Ihnen die Entscheidung nicht abnehmen. Ich kann Ihnen nur helfen, herauszufinden, was Sie möchten und was in Ihnen ist.“
Eileen nickte langsam.
„Gibt es da noch etwas?“, fragte die Psychologin nach.
„Nun… ja“, sagte Eileen langsam. „Es… ich weiß nicht… ob es überhaupt etwas ist, aber…“
Sie sah sie fest an. „Ich… da gibt es einen anderen Mann. Also… nein, falsch, das klang jetzt seltsam. Ich meine…“
Sie seufzte. „Ich weiß nicht, was ich für ihn empfinde. Aber ich weiß, dass er mich berührt- auf irgendeine Weise.“
„Und was ist mit ihm?“, fragte die Psychologin.
Eileen dachte nach. Diese Frage hatte sie sich bisher nur einmal gestellt, aber dann waren ihre Überlegungen sofort wieder von den Gedanken um Marcel und sein Angebot beendet worden.
„Ich… bin nicht sicher“, sagte sie und dachte nach. „Ich… glaube… er… mag mich auch.“
Als sie dies gesagt hatte, durchflutete sie mit einemmal eine Welle warmen Gefühls.
Die Psychologin sah sie aufmerksam an. „Und wie finden Sie das?“
„Ich…“, Eileen biss sich auf die Lippen.
„Frau Viersen – seien Sie ehrlich zu sich und zu mir. In diesem Raum gibt es keine Bewertungen. Das macht ihn ja so wertvoll“. Sie lächelte sie aufmunternd an.
„Der Gedanke, dass er mich auch mag…“, sie lächelte versunken. „Ist wunderschön“, flüsterte sie dann.
Frau Kollop nickte.
„Frau Viersen… unsere Zeit ist fast herum“, sagte sie dann langsam. „Lassen Sie uns doch nächste Woche weitersprechen. Ich möchte Sie bitten – nur bitten, es ist Ihre Entscheidung – bis dahin noch keine Entscheidung zu fällen. Aber dafür genau in sich hinein zu hören, was Sie möchten… was Ihnen wichtig ist. Ohne Eile. Ohne schlechtes Gewissen. Auch ihre Gefühle zu dem anderen Mann. Und vielleicht… rufen Sie ihn ja einfach einmal an.“
Sie lächelte Eileen zu. Gemeinsam standen sie auf.
„Ich bin froh, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben“, sagte Frau Kollop warm.
Eileen nickte und lächelte. Dann schloss sich die Wohnungstür hinter ihr.
Langsam verließ Eileen das Gebäude, vor dem ihr kleiner Wagen parkte. Sie wollte rasch nach Hause. Es gab vieles, worüber sie nachdenken musste.