1.
Müdigkeit. Tag und Nacht nur Müdigkeit.
Schlaf ist die beste Medizin, hatte ihre Mutter immer zu sagen gepflegt. Doch Schlaf konnte keine Herzen heilen.
Aber er verschaffte einige Stunden Ablenkung von dem Schmerz, der in ihr loderte.
Im Schlaf konnte sie sich flüchten in ihre Träume, die so völlig anders waren als die Realität. Im Schlaf segnete sie eine dankbare Verdrängung und die Wirklichkeit schien ferner als alles andere.

In ihren Träumen war sie nicht alleine. Dieses Bett war nicht kalt und leer, mit nichts darin als ihrem unscheinbaren Körper.
Nein, in ihren Träumen umfingen sie Arme, küssten sie sanfte, weiche Lippen. In ihren Träumen war ihr Leben warm und sonnig – und die dunklen Wolken noch weit fort am Horizont.
Und wenn es nach ihr gegangen wäre, dann wäre sie nie aufgewacht, um festzustellen, dass diese Wolken ihr Lebensfirmanent bereits so unendlich verdunkelt hatten.
Erneut schloss sie darum die Augen, versucht, die warmen, glückerfüllten Bilder wieder vor ihrem inneren Auge aufsteigen zu lassen.
Fast wäre es ihr gelungen, hätte in diesem Moment nicht das schrille Klingeln des Telefons alle ihre Versuche zunichte gemacht.
Empört riss sie die Augen auf und überlegte einen kleinen Moment, ob sie dem aufdringlichen Geräusch neben sich trotzen oder folgen sollte.
Es vergingen mehrere Sekunden, bis sie sich schweren Herzens entschied, aufzustehen und barfuss nach unten zu tapsen, wo sie brummelnd den Hörer abnahm.

„Eileen, Schätzchen. Ich dachte schon, ich muss eine Vermisstenmeldung aufgeben“, schlug ihr eine fröhliche Stimme entgegen.
Es war Marlene, wer konnte es auch sonst sein. Wer kümmerte sich schon um sie, wem war sie noch wichtig?
“Hallo Marlene“, sagte Eileen leise. „Was gibt`s?“
„Was es gibt? Seit Tagen meldest du dich nicht. Das einzige, was man von dir hört oder sieht, ist deine Krankmeldung, die seit zwei Wochen regelmäßig durch meine Hände geht. Wieso rufst du nicht an?“
„Es tut mir leid, Marlene. Aber danach stand mir wirklich nicht der Kopf.“
Eileen seufzte.
„Ich habe versucht, Marcel zu erreichen. Doch er ist nicht an sein Handy gegangen“, plapperte Marlene weiter und kicherte dann: „Ich dachte schon, ihr zwei wärt endgültig auf eure einsame Insel ausgerückt. Aber nun wo ich dich dran habe, klingst du wirklich ziemlich krank. Ich hab mir echt Gedanken um dich gemacht. Sag nur, dich hat auch diese fiese Grippe erwischt?“

Eileen antwortete nicht, was sich auch als unnötig erwies, denn Marlene hielt das Gespräch problemlos aufrecht: „Dann hoffe ich nur, dass du deinen geliebten Göttergatten nicht auch noch ansteckst, denn kranke Männer sind wirklich un-er-träglich!“
Wie immer, wenn Marlene einer bestimmten Sache ein ganz besonderes Gewicht verleihen wollte, betonte sie jede Silbe einzeln.
„Stell dir nur vor, Dirk hat sich letzte Woche mit dem Hammer am Finger verletzt. Nichts schlimmes, keine Bange, nur eine winzige Quetschung, aber du hättest mal erleben sollen, wie er danach gejammert hat. Man hätte tatsächlich fast meinen können, der ganze Finger müsse amputiert werden.“ Sie lachte leise. „Aber das kennst du ja.“
Als Eileen immer noch schwieg, wurde Marlene stutzig. „Sag mal, bist du überhaupt noch da?“
„Ja.“

„Hast es dir die Sprache verschlagen?“
„Weiß nicht.“
„Mensch, Eileen, nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“ Marlene wurde langsam nervös. Dass Eileen kein Plappermaul wie sie selbst war, das wusste sie, aber so schweigsam hatte sie die junge Frau bisher selten erlebt. „Was ist los, Eileen? Ist was geschehen? Du hast doch nur die Grippe, oder?“
Eileen lachte bitter auf. „Ich weiß nicht, ob man das so nennen kann.“
“Kann ich etwas für dich tun?“ fragte Marlene sanft. „Dir einen Saft bringen oder etwas einkaufen? Aber bestimmt bist du bestens von Marcel versorgt, nicht wahr?“
Eileen schluckte. „Nein“, erwiderte sie dann. „Nein, du kannst nichts für mich tun. Es geht schon, Marlene, wirklich.
Marlene atmete erleichtert auf. „Da bin ich aber froh, Süße. Ich dachte schon, es wäre was Schlimmeres. Wann denkst du, dass du wieder fit bist? Ich versinke hier ohne dich in Arbeit, was nicht heißen soll, dass du dich nicht auskurieren sollst. Nur ist es ohne dich richtig langweilig hier.“
„Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme“, sagte Eileen und verbiss sich zu sagen. „Ich weiß nicht, ob ich jemals wiederkomme...“

Marlene war einen Moment verdutzt und sagte dann schnell: „Du hast recht, kurier dich erst mal ordentlich aus. Mit solchen Grippewellen ist nicht zu spaßen. Und anstecken brauchst du mich auch nicht, bleib ruhig schön zu Hause und behalt deine Viren für dich, ich will nämlich am Wochenende mit Dirk weg fahren. Ach, noch was Eileen – bevor ich es vergesse – Dirk erreicht Marcel nicht auf dem Handy und er würde sich gerne seine Kletterausrüstung borgen. Meinst du, das geht?“
Eileen schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Ich denke nicht, dass ich dir darauf antworten kann, Marlene.“
Marlene schien verwirrt. „Aber warum nicht? Denkst du, er möchte es nicht?“
“Das weiß ich nicht, Marlene. Es ist nur leider so, dass ich ihn wohl kaum fragen kann.“
“Und wieso nicht?“ Marlene wurde langsam ungeduldig. Eileen war heute aber auch wirklich seltsam.
„Ganz einfach“, sagte Eileen mit zitternder Stimme. „Weil Marcel mich vor zwei Wochen verlassen hat. Ich weiß nicht, wo er ist und was er tut. Er ist einfach – fort...“

Und bevor Marlene noch etwas erwidern konnte, hatte Eileen den Hörer aufgelegt.
Fortsetzung folgt.