Kapitel 26
Anspannung
Marie sah sich im Spiegel an. Ihre Haare saßen ordentlich, sie hatte ein wenig MakeUp aufgetragen, um ihre Blässe zu kaschieren und trug warme Farben, um eben diese nicht noch mehr hervorzuheben.
Sie atmete dreimal tief durch. Was ihr nun bevorstand, war schwerer, als sie es sich vorgestellt hatte. Aber sie wusste ja, dass sie nicht ewig vor einer Konfrontation fortlaufen konnte.
„Du schaffst das schon, Marie“, sagte sie sich leise und versuchte, ihrem Spiegelbild ein ermutigendes Lächeln zu schenken.
Sie hatte gestern Abend mit Anna alles genau besprochen und beschlossen, direkt heute Nägel mit Köpfen zu machen. Wirklich überzeugt war sie immer noch nicht, dass es der richtige Weg war, Cedrik reinen Wein einzuschenken. Aber die Vorstellung, ihm das Kind zu verheimlichen, war auch nicht das, was Marie erquickte. Eigentlich schien es keinen wirklich vernünftigen Ausweg zu geben. Am meisten Angst jedoch hatte sie vor Susans Reaktion. Die Tatsache, dass Marie nun auch noch schwanger von Cedrik war, verschärfte den Konflikt ins tausendfache.
„Du musst jetzt an dein Kind denken“, hatte Anna ihr gesagt. „Das ist das wichtigste – selbst vor Susan, verstehst du.“
Marie seufzte und drehte wie gedankenverloren das Wasser auf und ließ es sich über die Hände laufen. Es war lauwarm und ihre Finger waren eiskalt. Sie merkte, wie sich ihre Fingerglieder unter dem warmen Strom langsam entkrampften und seufzte ein wenig.
Bei Anna klang das alles so einfach. Natürlich war sie froh, Anna zu haben – was hätte sie nur ohne sie angefangen in den letzten Tagen?
Und doch glaube sie manchmal auch, Anna verstehe sie nicht wirklich. Das Problem lag wohl darin begründet, dass Anna schlichtweg keinen echten Konflikt darin sah, dass sie- Marie – mit Cedrik geschlafen hatte.
Ja, es war der Bruder von Susan, ihrer besten Freundin. Und die Art und Weise, wie die beiden sich nahegekommen waren – Marie stieß ein verächtliches Lachen aus, als ihr diese Worte „nahe gehen“ durch den Kopf wanderten – nahegehen, das war milde ausgedrückt!
Und doch- die Tatsache, dass sie sich eben auf diese Art und Weise nahegekommen waren, musste für Susan mit Sicherheit ein Schock gewesen sein. Aber Anna fand Susans Reaktion überzogen und nicht nachvollziehbar und darum sah sie keine Schuldigkeit bei Marie oder Cedrik liegen.
Freilich hatte sie dies gegenüber Marie immer höchst vorsichtig formuliert, aber diese hatte schon verstanden, was Anna ihr damit sagen wollte.
Sie selbst sah das immer noch anders. Anna wusste nicht, was sie und Susan verband. Anna war eine wundervolle Freundin, aber das Band zwischen Susan und Marie war so viel tiefer, inniger und vertrauensvoller – gewesen… Marie schluckte. Ja, gewesen.
Es würde niemals wieder so wie früher sein, das war eine Tatsache. Nichts würde jemals wieder wie früher sein. Rein gar nichts. Ihr Leben war aus den Fugen geraten und nicht etwa nur ein klein wenig, so wie es das ein Leben eben ab und an tut – nein, es war in seinen Grundmanifesten erschüttert und nun ratterte sie irgendwo auf einem holprigen, steinigen Seitenpfad in Richtung Nirvana auf ihrer Lebensreise…
Aber wenigstens war sie nicht allein. Mit einem Lächeln stahl ihre schlanke Hand sich zu ihrem Bauch und strich sanft darüber.
Maries Rücken straffte sich und ein letztes Mal warf sie einen Blick in den Spiegel. Sie musste es jetzt hinter sich bringen, sonst würde sie es vermutlich nie mehr schaffen.
Sie öffnete die Tür der Damentoilette und trat hinaus auf den steril müffelnden Klinikflur.
Schnellen Schrittes ging sie in Richtung der Intensivstation und blieb wie immer am Eingang stehen, um zu klingeln.
Eine freundliche Schwester öffnete ihr die Tür.
„Guten Tag, ich bin Marie Liebhart und wollte meine Freundin Susan Lensen besuchen.“
Die Schwester lächelte freundlich.
„Frau Lensen, meinen Sie? Ja, wissen Sie das denn noch nicht?“
Für einen Moment setzte Maries Herz aus, aber die Schwester sah so freundlich drein, dass sie nichts Schlimmes meinen konnte.
„Frau Lensen ist heute Morgen auf die Normalstation verlegt worden. Station 4, Zimmer 432, soweit ich weiß. Sie müssen einfach mit dem Aufzug nach oben und dann direkt rechts“, gab ihr die Schwester freundlich Auskunft.
Maries Herz machte einen Sprung. Damit, dass Susan schon wieder so gesund war, dass sie wirklich auf der normalen Station liegen konnte, hätte sie nicht gerechnet.
Sie hatte die letzten Tage weder mit Cedrik noch mit Simone gesprochen, weil sie einfach durch die Ereignisse und die Prüfung so eingenommen gewesen war. Fast plagte sie deshalb ein schlechtes Gewissen. Aber sie hatte Simone vor einigen Tagen eine SMS geschrieben, dass sie Susan besuchen wolle, sobald es ginge.
Maries Gedanken überschlugen sich, während sie mit dem Aufzug in den 4. Stock hinauffuhr. Dass Susans Zustand schon stabil genug war, um sie auf die normale Station zu verlegen, war eigentlich eine wunderbare Nachricht. Das bedeutete aber auch, dass sie bei vollem Bewusstsein wäre und die Konfrontation noch schlimmer ausfallen könnte als Marie befürchtet hatte.
Was würde Susan ihr sagen? Hatte sie schon mit Cedrik gesprochen? Wussten ihre Eltern etwa schon Bescheid über alles?
Marie hatte furchtbare Angst und spürte, wie ihr Herz ihr flatterig bis zum Halse schlug und sie mehrmals tief durchatmete, um sich zu beruhigen. Ihre Hände waren kalt und nass.
Ohne es recht zu merken, trugen ihre Beine sie wie automatisch den Weg durch den langen Gang, bis sie schließlich vor der Tür zu Zimmer 432 stehenblieb.
Von innen hörte sie ein helles Lachen- sie zuckte zusammen- war das Susans Lachen? Oder doch eher Simone? Sie hörten sich so gleich an, Mutter und Tochter.
Marie atmete mehrmals tief durch. Hinter ihr schlurfte eine alte Frau auf einer Gehhilfe vorbei und krächzte mit rauer Stimme „Guten Tag!“. Marie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie quiekend zusammenschreckte, woraufhin die alte Frau nur den Kopf schüttelte und brummelnd weiterschlurfte.
Marie rief sich selbst zur Ordnung, sie führte sich ja auf wie ein kleines Kind, das im Rektorzimmer saß und auf seine Absolution wartete. Nicht dass sie in ihrer Schulzeit jemals in einer vergleichbaren Situation gewesen wäre…
Sie zauderte einen Moment. Noch konnte sie zurück, im Zimmer hatte man nichts von ihrer Anwesenheit gemerkt und wenn sie sich nun auf dem Absatz umdrehen und losstürzen würde – keiner würde wissen, dass sie dagewesen war.
„Was für ein Blödsinn!“ fluchte sie leise. „Irgendwann musst du es hinter dich bringen, Marie Liebhart!“ Sie wollte an dem Plan, den sie mit Anna geschmiedet hatte, festhalten. Zuerst wollte sie die Sache mit Susan hinter sich bringen und dann Cedrik von seiner Vaterschaft unterrichten. Sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Sie hatte zwar keine Idee, wie es danach weitergehen sollte, würde, könnte… aber ihr war auch klar, dass dieses Katz-und-Maus Spiel nicht ewig weitergehen konnte, und ein schnelles Ende besser war.
Also nahm Marie all ihren Mund zusammen, hob die Hand und klopfte vorsichtig an die große, schwere Tür.
„Herein!“ hörte man von drinnen. Langsam drückte sie die Klinke herunter, die in ihrer kalten, schweißigen Hand klebenblieb. Was würde sie nun erwarten?
Fortsetzung folgt!