Beiträge von Innad

    Kapitel 26
    Anspannung



    Marie sah sich im Spiegel an. Ihre Haare saßen ordentlich, sie hatte ein wenig MakeUp aufgetragen, um ihre Blässe zu kaschieren und trug warme Farben, um eben diese nicht noch mehr hervorzuheben.
    Sie atmete dreimal tief durch. Was ihr nun bevorstand, war schwerer, als sie es sich vorgestellt hatte. Aber sie wusste ja, dass sie nicht ewig vor einer Konfrontation fortlaufen konnte.



    „Du schaffst das schon, Marie“, sagte sie sich leise und versuchte, ihrem Spiegelbild ein ermutigendes Lächeln zu schenken.
    Sie hatte gestern Abend mit Anna alles genau besprochen und beschlossen, direkt heute Nägel mit Köpfen zu machen. Wirklich überzeugt war sie immer noch nicht, dass es der richtige Weg war, Cedrik reinen Wein einzuschenken. Aber die Vorstellung, ihm das Kind zu verheimlichen, war auch nicht das, was Marie erquickte. Eigentlich schien es keinen wirklich vernünftigen Ausweg zu geben. Am meisten Angst jedoch hatte sie vor Susans Reaktion. Die Tatsache, dass Marie nun auch noch schwanger von Cedrik war, verschärfte den Konflikt ins tausendfache.

    „Du musst jetzt an dein Kind denken“, hatte Anna ihr gesagt. „Das ist das wichtigste – selbst vor Susan, verstehst du.“
    Marie seufzte und drehte wie gedankenverloren das Wasser auf und ließ es sich über die Hände laufen. Es war lauwarm und ihre Finger waren eiskalt. Sie merkte, wie sich ihre Fingerglieder unter dem warmen Strom langsam entkrampften und seufzte ein wenig.



    Bei Anna klang das alles so einfach. Natürlich war sie froh, Anna zu haben – was hätte sie nur ohne sie angefangen in den letzten Tagen?
    Und doch glaube sie manchmal auch, Anna verstehe sie nicht wirklich. Das Problem lag wohl darin begründet, dass Anna schlichtweg keinen echten Konflikt darin sah, dass sie- Marie – mit Cedrik geschlafen hatte.

    Ja, es war der Bruder von Susan, ihrer besten Freundin. Und die Art und Weise, wie die beiden sich nahegekommen waren – Marie stieß ein verächtliches Lachen aus, als ihr diese Worte „nahe gehen“ durch den Kopf wanderten – nahegehen, das war milde ausgedrückt!
    Und doch- die Tatsache, dass sie sich eben auf diese Art und Weise nahegekommen waren, musste für Susan mit Sicherheit ein Schock gewesen sein. Aber Anna fand Susans Reaktion überzogen und nicht nachvollziehbar und darum sah sie keine Schuldigkeit bei Marie oder Cedrik liegen.
    Freilich hatte sie dies gegenüber Marie immer höchst vorsichtig formuliert, aber diese hatte schon verstanden, was Anna ihr damit sagen wollte.
    Sie selbst sah das immer noch anders. Anna wusste nicht, was sie und Susan verband. Anna war eine wundervolle Freundin, aber das Band zwischen Susan und Marie war so viel tiefer, inniger und vertrauensvoller – gewesen… Marie schluckte. Ja, gewesen.



    Es würde niemals wieder so wie früher sein, das war eine Tatsache. Nichts würde jemals wieder wie früher sein. Rein gar nichts. Ihr Leben war aus den Fugen geraten und nicht etwa nur ein klein wenig, so wie es das ein Leben eben ab und an tut – nein, es war in seinen Grundmanifesten erschüttert und nun ratterte sie irgendwo auf einem holprigen, steinigen Seitenpfad in Richtung Nirvana auf ihrer Lebensreise…
    Aber wenigstens war sie nicht allein. Mit einem Lächeln stahl ihre schlanke Hand sich zu ihrem Bauch und strich sanft darüber.
    Maries Rücken straffte sich und ein letztes Mal warf sie einen Blick in den Spiegel. Sie musste es jetzt hinter sich bringen, sonst würde sie es vermutlich nie mehr schaffen.
    Sie öffnete die Tür der Damentoilette und trat hinaus auf den steril müffelnden Klinikflur.
    Schnellen Schrittes ging sie in Richtung der Intensivstation und blieb wie immer am Eingang stehen, um zu klingeln.



    Eine freundliche Schwester öffnete ihr die Tür.
    „Guten Tag, ich bin Marie Liebhart und wollte meine Freundin Susan Lensen besuchen.“
    Die Schwester lächelte freundlich.
    „Frau Lensen, meinen Sie? Ja, wissen Sie das denn noch nicht?“
    Für einen Moment setzte Maries Herz aus, aber die Schwester sah so freundlich drein, dass sie nichts Schlimmes meinen konnte.
    „Frau Lensen ist heute Morgen auf die Normalstation verlegt worden. Station 4, Zimmer 432, soweit ich weiß. Sie müssen einfach mit dem Aufzug nach oben und dann direkt rechts“, gab ihr die Schwester freundlich Auskunft.



    Maries Herz machte einen Sprung. Damit, dass Susan schon wieder so gesund war, dass sie wirklich auf der normalen Station liegen konnte, hätte sie nicht gerechnet.
    Sie hatte die letzten Tage weder mit Cedrik noch mit Simone gesprochen, weil sie einfach durch die Ereignisse und die Prüfung so eingenommen gewesen war. Fast plagte sie deshalb ein schlechtes Gewissen. Aber sie hatte Simone vor einigen Tagen eine SMS geschrieben, dass sie Susan besuchen wolle, sobald es ginge.
    Maries Gedanken überschlugen sich, während sie mit dem Aufzug in den 4. Stock hinauffuhr. Dass Susans Zustand schon stabil genug war, um sie auf die normale Station zu verlegen, war eigentlich eine wunderbare Nachricht. Das bedeutete aber auch, dass sie bei vollem Bewusstsein wäre und die Konfrontation noch schlimmer ausfallen könnte als Marie befürchtet hatte.
    Was würde Susan ihr sagen? Hatte sie schon mit Cedrik gesprochen? Wussten ihre Eltern etwa schon Bescheid über alles?
    Marie hatte furchtbare Angst und spürte, wie ihr Herz ihr flatterig bis zum Halse schlug und sie mehrmals tief durchatmete, um sich zu beruhigen. Ihre Hände waren kalt und nass.

    Ohne es recht zu merken, trugen ihre Beine sie wie automatisch den Weg durch den langen Gang, bis sie schließlich vor der Tür zu Zimmer 432 stehenblieb.



    Von innen hörte sie ein helles Lachen- sie zuckte zusammen- war das Susans Lachen? Oder doch eher Simone? Sie hörten sich so gleich an, Mutter und Tochter.
    Marie atmete mehrmals tief durch. Hinter ihr schlurfte eine alte Frau auf einer Gehhilfe vorbei und krächzte mit rauer Stimme „Guten Tag!“. Marie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie quiekend zusammenschreckte, woraufhin die alte Frau nur den Kopf schüttelte und brummelnd weiterschlurfte.



    Marie rief sich selbst zur Ordnung, sie führte sich ja auf wie ein kleines Kind, das im Rektorzimmer saß und auf seine Absolution wartete. Nicht dass sie in ihrer Schulzeit jemals in einer vergleichbaren Situation gewesen wäre…
    Sie zauderte einen Moment. Noch konnte sie zurück, im Zimmer hatte man nichts von ihrer Anwesenheit gemerkt und wenn sie sich nun auf dem Absatz umdrehen und losstürzen würde – keiner würde wissen, dass sie dagewesen war.
    „Was für ein Blödsinn!“ fluchte sie leise. „Irgendwann musst du es hinter dich bringen, Marie Liebhart!“ Sie wollte an dem Plan, den sie mit Anna geschmiedet hatte, festhalten. Zuerst wollte sie die Sache mit Susan hinter sich bringen und dann Cedrik von seiner Vaterschaft unterrichten. Sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
    Sie hatte zwar keine Idee, wie es danach weitergehen sollte, würde, könnte… aber ihr war auch klar, dass dieses Katz-und-Maus Spiel nicht ewig weitergehen konnte, und ein schnelles Ende besser war.



    Also nahm Marie all ihren Mund zusammen, hob die Hand und klopfte vorsichtig an die große, schwere Tür.
    „Herein!“ hörte man von drinnen. Langsam drückte sie die Klinke herunter, die in ihrer kalten, schweißigen Hand klebenblieb. Was würde sie nun erwarten?





    Fortsetzung folgt!

    @ineshnsch: Ja, Anna ist wirklich eine gute Seele. Wie gut, dass Marie sich ihr anvertraut hat und Anna zugleich einfühlsam, aber auch richtungsweisend auf sie einzuwirken versteht!
    Dass Marie liebe Menschen um sich hat, das stimmt. Aber sie ist so von ihrer Angst getrieben, dass sie das wohl zurzeit gar nicht zu sehen vermag...!
    Danke für Deinen lieben Kommi!



    Rivendell: Hihi, unsere liebe Rivendell kauft uns nicht ab, dass wir so geradlinig sind. Ich sag mal nur so viel zum Thema Vaterschaft: Man kann sich durchaus errechnen, wer von beiden der Vater ist... aber ob Marie sich da den richtigen errechnet hat... das lass ich mal ganz offen ;)


    Danke für Deinen lieben Kommi!





    @ALL: Es geht heute weiter! Viel Spaß wünschen Euch



    Chrissy und Innad

    Oh oh, das ging ja mächtig in die Hose mit den beiden! Dass Kim aber auch nicht geschalten hat und gegenüber Sean alles ausplappern musste ;)


    Nun scheinen die zwei sich ja aber wenigstens wieder zu vertragen - nur hoffe ich inständig, dass sie sich jetzt nicht wirklich im Wald verirt habern, auch wenn das durchaus romantisch werden könnte.


    Ich hab mich übrigens köstlich über Deine Mr.Bean Anspielung amüsiert! Tolle FS wie immer! :applaus

    Mit einem beklommenen Gefühl schloss Tessa eine Minute später die Tür hinter ihrer Mutter. Sie ging zum Fenster und beobachtete, wie diese in ihr Auto stieg und davonfuhr. Dann öffnete sie langsam und mit einem unwohlen Gefühl die Tür zum Schlafzimmer.
    „Keine Gefahr mehr im Verzug“, versuchte sie mit einem schiefen Lächeln zu scherzen.
    Jess trat ins Wohnzimmer und sagte langsam. „Wer war das?“



    „Das… war meine Mutter“, erwiderte Tessa beklommen.
    „Aha… deine Mutter also.“
    Jess´ Ton klang gereizt und Tessa spürte ein unschönes Gefühl im Magen aufsteigen.
    „Jess… es tut mir leid, aber… wenn sie dich hier gesehen hätte… du kannst dir gar nicht vorstellen, was dann los gewesen wäre“, versuchte sie zu erklären.
    „Ach – was denn?“ erwiderte er provozierend. „Hätte sie dann die Polizei gerufen? Hätte sie dann gedacht, der böse Junkie-Freund ihrer Tochter habe sie verprügelt und ihr Leid zugefügt, weil das ja so gut zu seinem Image passt?“




    Tessa schluckte. „Ich… nein… sie hätte mich mit Fragen gelöchert… wer du bist und was du hier machst…“

    Im selben Augenblick, als sie es ausgesprochen hatte, wurde Tessa klar, dass dies nicht gerade dazu beitragen würde, die Situation zu retten.
    „Wie…“, stammelte Jess.„Tessa… sag mal… du hast ihnen nie von uns erzählt, oder? Stimmt das? Du hast niemanden von uns erzählt, hab ich recht?“
    Tessa seufzte und starrte auf die Holzdielen unter ihren Füßen.




    „Du musst das verstehen, Jess“, erwiderte sie dann leise und zaghaft. „Das hat nichts mit dir zu tun, nichts mit uns – nur damit, dass meine Eltern und meine alten Freunde verbohrte Hohlköpfe sind, die nicht verstehen, was du mir bedeutest und was für ein guter Mensch du eigentlich bist…“
    „Ein guter Mensch, der dir viel bedeutet, für den du dich aber immer geschämt hast und wahrscheinlich immer schämen wirst!“ rief Jess aufgebracht.
    „Jess… ich…“
    „Kannst du dir vorstellen, wie ´schön´ es sein muss, sich in der Wohnung seiner Freundin zu verstecken, vor ihrem Umfeld, weil sie sich für dich schämt? Tessa – ich hätt das nicht von dir gedacht! Natürlich weiß ich, dass es nicht einfach ist! Aber wie sollen wir eine gemeinsame Zukunft haben, wenn du es nicht schaffst, zu mir zu stehen – mich im Gegensatz dazu sogar versteckst?“
    Tessa schluckte betroffen.



    „Jess… alles zum rechten Zeitpunkt“, versuchte sie ihn dann zu beruhigen. „Was meinst du, wie es für sie gewesen wäre, dich jetzt und hier in diesem Zustand zu sehen? Ich meine…“
    „Darum geht es nicht!“ rief Jess aus. „Du hast ihnen all die letzten Monate offenbar auch nicht von uns erzählt… oder?“
    „Nein… ich hab einem alten Freund von uns erzählt und er hat mich darauf fallenlassen!“ sagte Tessa. „Und meine Eltern wären wohl durchgedreht … aber das ist nicht MEIN Denken, Jess… ich kann doch nichts für mein Umfeld…!“
    „Nein, das kannst du wirklich nicht!“ sagte Jess. „Aber du kannst aus ihnen herausstechen – und das habe ich von dir immer felsenfest geglaubt. Dass du unsere Freundschaft und später sogar unsere Liebe monatelang vor deinem Umfeld verheimlichst wie etwas, das niemand sehen und hören darf, weil es so blamabel, dreckig… wertlos…! … ist… das hätt ich von dir niemals erwartet!“



    „Jess….“, erwiderte Tessa, fast flehend. „Es tut mir leid… aber das hat nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun, versteh das doch…“
    Doch Jess schüttelte den Kopf. „Oh doch – das hat es, Tessa. Und das müsstest du eigentlich wissen.“
    Er sah sie traurig an, dann verzog er das Gesicht fast verächtlich und ungeduldig, winkte ab und sagte leise. „Aber das ist jetzt auch egal...“
    Und mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand in Richtung Schlafzimmer, wo er die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zuschlug.








    Fortsetzung folgt.

    Kapitel 37
    Überraschungsbesuch


    Tessa schlug gehetzt die Schlafzimmertür hinter sich zu und blieb einen Moment zögernd stehen, um gleich darauf entsetzt festzustellen, dass sie tatsächlich für zwei Sekunden mit dem Gedanken gespielt hatte, den Schlüssel im Schloss umzudrehen und Jess erneut einzuschließen. Dabei hatte sie diesmal keinerlei Recht dazu. Scham stieg in ihr auf, doch das erneute, drängende Klingelgeräusch ließ sie diese Gedanken beiseite schieben und zur Gegensprechanlage hetzen.
    Einen kleinen Moment zögerte sie noch einmal. Sollte sie wirklich aufmachen? Aber ihr blieb keine andere Wahl.
    „Komm hoch, Mutter!“ rief sie in das Telefon der Gegensprechanlage und drückte gleichzeitig auf den Summer.
    Sie öffnete die Wohnungstür und blieb wartend in der Küche stehen. Hier war sie noch nahe genug am Schlafzimmer, um zu bemerken, wenn Jess sich entgegen ihrer Bitte doch rührte, und doch weit genug weg, um ihre Mutter nicht auf die Idee zu bringen, aus irgendwelchen Gründen direkt dort hinein zu spazieren.
    „Um Gottes Willen, Teresa, wie siehst du denn aus?“ rief ihre Mutter aus, als sie in die Küche kam und starrte ihre Tochter ernst an.



    Im Eifer des Gefechtes hatte diese tatsächlich ihre deutlich sichtbaren Spuren im Gesicht vergessen! Tessa biss sich auf die Lippe und verfluchte sich innerlich dafür, nicht wenigstens noch Zeit für etwas kaschierendes MakeUp gehabt zu haben.
    Doch nun musste sie sich etwas einfallen lassen. Natürlich hätte sie die Möglichkeit gehabt, ihrer Mutter die Türe nicht zu öffnen, aber diese besaß einen Haustürschlüssel und immerhin hatte Tessa sich schon seit Tagen nicht mehr zu Haus gemeldet… wer konnte schon sagen, ob ihre Mutter nicht einfach heraufgekommen wäre, um nach dem Rechten zu sehen… und sie und Jess dann unweigerlich gefunden hätte…?
    „Ich… ich bin gestürzt“, stieß sie schnell hervor, als sie den leicht entsetzten und fragenden Blick ihrer Mutter auf sich spürte.
    „Gestürzt?“ Ihre Mutter verzog fragend das Gesicht.



    „Ja, weißt du…“, in Tessas Kopf überschlugen sich die Gedanken in dem Versuch, eine halbwegs vernünftige Erklärung für ein derartiges Aussehen zu bekommen. „Ich bin auf der Treppenstufe vorne ausgerutscht und so unglücklich gefallen, dass ich mir das Auge angestoßen habe… am nächsten Tag war alles blau… auf die Lippe hab ich mir auch gebissen dabei, es hat ganz schön geblutet. Und irgendwie hat es auch meine Wange erwischt. Ich fürchte, die Treppe war vom Schnee nass – da muss ich ausgerutscht sein…!“



    Ihre Mutter sah sie einige Sekunden prüfend an, fast so, als denke sie über die Worte ihrer Tochter nach. Tessas Herz hatte begonnen, ihr bis zum Halse zu schlagen. Was, wenn ihre Mutter ahnte, dass ein einfacher Treppensturz nur schlecht solche Verletzungen hervorrufen konnte? War die Handschrift einer Gewalttat nicht allzu deutlich sichtbar?
    „Das geht so nicht!“ rief ihre Mutter da mit strengem Ton aus und Tessa zuckte erschrocken zusammen und sah sie ängstlich an.
    „Ich werde das sofort dem Hausverwalter sagen, das ist gemeingefährlich, die Treppen im Winter in einem derartigen Zustand zu lassen! Schließlich haben wir als Eigentümer der Wohnung ein Recht darauf, dass man sich um so etwas kümmert!“
    Tessa sah sie einen Moment verständnislos an und wusste dann nicht, ob sie aufgrund der Einfachheit ihrer Mutter lachen oder weinen sollte. Zum einen war sie froh, sie so schnell und leicht getäuscht haben zu können – aber auf irgendeine Weise tat es auch weh…



    „Du hast dich einige Tage nicht gemeldet“, sprach ihre Mutter jetzt weiter. „Und Doktor Arnfeldt hat mir gesagt, dass es dir offenbar letzte Woche noch nicht ganz gut ging und du noch nicht zur Arbeit konntest? Hast du ihm von dem Sturz erzählt? Wieso hast du denn nicht angerufen?“
    „Ach – so schlimm war das ja nicht, Mama… ich bin nur ganz froh, dass mich so niemand sehen muss“, sagte Tessa mit einem schiefen Lächeln. „Und ich habe mich schon… ein wenig auf die Uni vorbereitet und bin auch noch etwas müde, offenbar von der Grippe, irgendwie bin ich nicht zu viel gekommen…“

    „Nun – dann ist es ja gut, ich dachte schon, ich müsse mir wieder Sorgen um dich machen“, erwiderte ihre Mutter rasch. „Tut mir auch leid, dass wir uns nicht früher bei dir melden konnten, aber wir haben zurzeit so viel zu tun. Dein Vater ist schon wieder für fünf Tage nach Singapur geflogen und ich bin in den letzten Tagen nicht vor zehn Uhr abends aus dem Geschäft gekommen. Stell dir vor, Annemarie hat sich auch krankgemeldet und du kannst dir ja ausmalen, wie sich das ausgewirkt hat…“



    Schnell war Tessas Mutter so damit beschäftigt, ihrer Tochter von ihren geschäftlichen Problemchen zu erzählen, dass offenbar sowohl Tessas Blessuren als auch alles anderen vergessen waren.
    Immer wieder lauschte Tessa angespannt in Richtung Schlafzimmer, aber es war mucksmäuschenstill – hätte sie es nicht gewusst, wäre sie selbst im Zweifel gewesen, ob Jess noch dort war.
    Sie versuchte, den Redeschwall ihrer Mutter zu unterbrechen, indem sie sagte. „Du Mama – ich… äh… ich wollte eigentlich gerade ein bisschen an die frische Luft gleich… mir fällt die Decke auf den Kopf…“
    „Oh – Tessa, ich würde wirklich gerne mit dir einen Kaffee trinken gehen, aber ich hab gar keine Zeit…“, sprang ihre Mutter auch sofort darauf an.
    „Macht nichts“, erwiderte Tessa schnell. „Ich sollte mich wohl ohnehin besser nicht in einem Café blicken lassen, wo ich doch noch nicht richtig gesund bin. Aber nächste Woche bin ich wieder arbeiten und bald beginnt schon die Uni, bis dahin bin ich wieder voll einsatzfähig“, fügte sie schnell hinzu, bevor ihre Mutter Bedenken und Sorgen über ihre Zukunft zu äußern gedachte.



    „Gut, Tessa – dann werde ich mal wieder gehen, aber vorher habe ich noch etwas für dich“, sagte ihre Mutter und drehte sich nach der Tüte um, die sie beim Hereinkommen auf den Boden gestellte hatte. Aus dieser zog sie ein hübsch verpacktes Geschenk und hielt es Tessa strahlend entgegen.
    „Hier schau mal – ich bin in der Stadt daran vorbeigegangen und dachte sofort, das wäre etwas für dich!“



    Tessa starrte den Karton einen Moment unsicher an. Irgendwie war es wohl schon immer so gewesen, dass die fehlende Zeit und Fürsorge seitens ihrer Eltern meist in Geschenken und Nettigkeiten ihren Ausgleich zu finden versucht hatten.
    Dennoch freute sie sich – denn war nicht auch das ein Zeichen von Aufmerksamkeit, von Kümmern und in irgendeiner Form auch von Liebe?
    Lächelnd nahm sie das Päckchen darum entgegen und sagte: „Oh vielen Danke, Mutter… ich schau es mir nachher in Ruhe an.“



    „Gut, Tessa – ich gehe wieder! Kommst du am Wochenende zum Essen?“
    Tessa zögerte. „Ich… ruf dich noch mal an.“

    „In Ordnung! Machs gut und pass bitte besser auf, wo du hintrittst… du siehst fast aus, als habe dich jemand verprügelt.“ Ihre Mutter zwinkerte, während Tessa bleich wurde – doch dies bemerkte sie nicht.

    Luxa: Ich weiß ja, dass DU gerade Stress hast und auch was krank warst, darum keine Bange, ich dacht mir schon, dass Du nur nicht zum Kommi Schreiben kommst :)



    @Llyna: Du hast recht, Tessa kommt schon in Erklärungsnot, je nachdem, wer da vor der Tür steht!
    Dass ihnen die Nähe gegönnt ist, sehe ich auch so... aber NOCH ist es nicht so weit ;)
    Danke für Deinen Kommi!



    @ineshnsch: Hihi, keine Angst, heute erfährst Du, wer kommt. Und wie Tessa ihre Verletzungen erklären will, ist natürlich so eine Sache. Ob man wirklich sieht, dass es nicht von einem Sturz kam?
    Du wirst es sehen! :)
    Danke für Deinen Kommi!

    Kapitel 36
    Versteckspiel




    Nach sechs Tagen schien es Jess am Morgen endlich besser zu gehen. Er hatte die ganze Nacht fast ungestört durchgeschlafen und als Tessa und er erwachten, sah er verhältnismäßig frisch und ausgeschlafen aus, was Tessa einen Seufzer der Erleichterung abrang.
    „Wie geht es dir?“ fragte sie leise und schmiegte sich vorsichtig an ihn.
    „Besser“, erwiderte er langsam und warf ihr einen Blick zu. „Und dir?“
    Alleine dass er diese Frage an sie richtete, bewies Tessa, dass er zumindest vorerst über das Schlimmste hinweg sein musste.
    „Gut, wenn es dir besser geht“, antwortete sie.
    „Was macht dein Gesicht?“ erkundigte er sich besorgt. Sie lächelte.
    „Nicht mehr der Rede wert. Es verheilt allmählich.“

    Sie richteten sich beide in den Kissen auf und lagen einen kleinen Moment stillschweigend nebeneinander, bis Jess sagte: „Sag mal, Tessa… was ich mich gerade frage… was ist mit deiner Arbeit? Müsstest du nicht eigentlich arbeiten gehen?“
    Tessa lächelte ihn an.



    „Nein, ich war doch so krank, hatte die Grippe, ich bin schon lange krank geschrieben. Und als ich dich vorige Woche nicht gefunden habe, bin ich noch einmal zum Arzt und habe mich weitere zwei Wochen krankschreiben lassen. Ich hätte keine ruhige Minute gehabt, bevor ich dich nicht gefunden hätte. Und da die Grippe recht schwer war, hat er mich anstandslos noch einmal zwei Wochen aus dem Verkehr gezogen. Ich war jetzt schon fast fünf Wochen nicht mehr im Büro… aber nächste Woche bin ich auch noch krankgeschrieben, danach muss ich aber auf alle Fälle wieder gehen. Aber ich hoffe einfach, dass du bis dahin das Gröbste überstanden hast… oder?“
    Jess sah sie an und nickte kurz. „Ich denke, ja. Und dir geht es wirklich gut? Du sagst, du warst vorher sehr krank…“
    „Mir geht’s gut, Jess“, erwiderte Tessa schnell. „Mach dir keine Gedanken um mich. Ich bin sehr froh, jetzt noch krankgeschrieben zu sein… mit diesem Gesicht könnte ich ohnehin nicht aus dem Haus. In einer Woche wird auch das abgeheilt sein.“

    Sie lächelte. „Ich bin sehr stolz auf dich.“



    Jess lächelte ebenfalls, jedoch zurückhaltend.
    „Es ist noch nicht vorbei, Tessa…“
    „Ich weiß“, erwiderte diese schnell. „Aber dass du bis hierhin gekommen bist, verdient den allergrößten Respekt. Und den Rest schaffen wir auch noch! Das wäre doch gelacht, oder?“
    Jess sah sie liebevoll an. „Ich hab das nur dir zu verdanken. Weil du bei mir warst…“
    Er zog sie dicht an sich und küsste sie zärtlich.
    „Ich weiß durchaus, welch eine Belastung das für dich gewesen sein muss und immer noch ist…“



    „Ich würde alles dafür tun, dich von den Drogen los zu bekommen“, sagte Tessa schnell. „Das weißt du! Ich bin dir sehr dankbar, dass du es für uns versuchst! Ich weiß jetzt, wie sehr du leidest… zumindest hab ich eine Vorstellung davon.“
    Sie sah ihn traurig an. „Aber das ist jetzt bald vorbei, Jess… bald geht es dir wieder gut und wir werden ein neues Leben anfangen. Wie das alles gehen soll, ist mir noch nicht wirklich klar…. aber wir werden schon einen Weg finden. Wenn wir das hier geschafft haben, kann uns nichts mehr aufhalten.“
    Jess lächelte. „Wenn du es sagst….“
    Und er zog sie wieder dichter an sich und begann, sie leidenschaftlicher zu küssen.



    „Du riechst so gut…“, flüsterte er zärtlich in ihr Ohr. Sie spürte, wie seine Hände langsam unter ihren Schlafanzug wanderten und schauderte wohlig zusammen.
    So nah war er ihr noch nie gekommen – wie auch, waren sie doch in all den Monaten immer von Menschen umgeben gewesen.
    Nach diesem Moment hatte sie sich so lange gesehnt – und so lange nicht darauf zu hoffen gewagt…
    Ein schrilles Klingeln ließ beide ruckartig auseinander fahren.
    „Was war das?“ Jess sah Tessa verwirrt an.
    „Die Klingel!“ stieß Tessa hervor und sprang mit einem Satz aus dem Bett und zog den Vorhang ein Stück zur Seite.
    „Oh mein Gott!“ drang es aus ihrem Mund.



    „Was ist los? Was ist denn?“ rief Jess nervös und sprang ebenfalls aus dem Bett, um zum Fenster zu gehen und hinauszulugen, doch Tessa versperrte ihm den Weg und rief schneidend. „Nein! Geh nichts ans Fenster!“
    Dann rannte sie hektisch zum Kleiderschrank, um in Windeseile einige Kleider herauszuzerren und überzustreifen.



    „Tessa! Was… was ist denn los? Wer ist das?“ fragte Jess wieder, doch Tessa schüttelte nur den Kopf und stolperte eilends zur Tür.
    „Bitte bleib hier drinnen und versuche, dich nicht zu mucksen!“ rief sie ihm zu und warf ihm einen gehetzten Blick zu. Als sie seine fragenden Augen spürte, schluckte sie, stockte einen Moment und rief dann nur noch schnell: „Ich erklär es dir später…. bleib nur hier drinnen, bitte … und sie leise…!“
    Mit diesen Worten ließ sie die Schlafzimmertür hinter sich ins Schloss fallen und eilte zur Haustür.




    Fortsetzung folgt!

    @Dani04: Oh, danke für diesen superlieben Kommi! :kussDas freut mich total, denn ich bin für das Feedback echt dankbar. Was Du zu Ryan-Allie und Jess-Tessa schreibst, empfinde ich übrigens genauso. Natürlich sind die Situationen und die geschichten dahinter total verschieden, aber dieses verzweifelte ist auch da. Unsere Frauen kämpfen sozusagen um ihre Männer und niemand weiß, ob sie den Kampf gewinnen :(
    Da ist schon eine gewisse Parallele da, das ist richtig!
    Mit den Updates werd ich hoffentlich bald noch was schneller sein, hab die Tage einen Rappel gehabt und etliche Kapitel vorfotografiert :)




    @Llyna
    : Danke für diesen tollen Kommi! Dass auch Dir die Bilder so gefallen, macht mich unglaublich stolz, ich kann nur immer wiederholen, dass das nicht gerade meine Königsdiziplin ist ;)
    Was Du zu Jess` Entzugsmethodik schreibst, kann ich nur unterschreiben! Das in Eigenregie zu machen, ist nicht nur ziemlich unvernünftig, sondern total!!! unvernünfitg und hochgradig gefährlich.
    Schließlich ist Heroin mit die stärkste Droge, die man dem Körper antun kann. Das einfach so abzusetzen kann sehr schnell tödlich enden, auch noch viele Tage später.
    Ob die beiden sich also erholen können, ist erstmal die große Frage. Noch ist es nicht vorbei....




    @inesnhnsch: Danke auch für Deinen lieben Kommi und danke vor allem, dass Du immer so treu kommentierst, das weiß ich total zu schätzen *knuddel*
    Das mit den Bildern von Jess´ Visionen war auch wirklich dazu, mal ein wenig zu verdeutlichen, wie schlimm so ein Entzug ist, auch wenn das vermutlich nicht alles ganz an der Realität dran ist, habe ich versucht, mich doch mgl nah - sofern das ein Laie eben kann - daran zu halten.
    Dass noch nicht alles durchgestanden ist, ist natürlich klar. Aber einen wichtigen Schritt haben beide geschafft.




    @ALL
    : Heute kommt nur eine ganze kleine FS - aber besser als gar keine, oder? :)

    Huhu Llyna,


    boah, war das eine schöne und lange Fortsetzung! :applaus


    Ich hab mir ja fast schon gedacht, dass zwischen Molly und Liz mehr als bloße Freundschaft sein könnte, aber dass es nun echt so zu sein scheint, ist echt der Hammer! Also hatte Timo gar nicht so "unrecht", sie von Liz fernhalten zu wollen? :rolleyes


    Dass Molly ihren Frust an Nina ausgelassen hat, war natürlich ziemlich unschön, wo ihr die Gute doch nur helfen wollte. Aber sie hat sich ja entschuldigt. Tobi scheint sich ja auch ein wenig um Molly zu sorgen.


    Ich überlege schon die ganze Zeit, dass der in der "Gegenwart" sicher auch ganz verzweifelt ob Mollys Verschwinden ist, falls es denn bemerkt wird.


    Nun ist Molly also zumindest an ein Stück Zivilisation in Form der Kühe gekommen. (übrigens genial sehen die aus :D ) Ich kann verstehen, dass sie sich - so blöde es auch scheint - über die Kühe freut, es ist immerhin eine Lebensform um sie, die mit Menschen verbunden ist.


    Irgendwann müssen die Kühe ja auch gefüttert und gepflegt (eigentlich ja auch gemolken, sofern weiblich ;) ) werden und evtl hat sie so doch eine Chance, einen Menschen zu treffen?



    Bin sehr gespannt, wie es weitergeht!

    Boah, diese Scarlett ist ein echtes Miststück, muss man echt mal gesagt haben! Ich bin froh, dass sie selbst mal erlebt hat, wie es ist, wenn einem nicht alle den Rücken stärken, isoliert dazustehen. Und dass Kim ihr großes Maul gestopft hat, finde ich wahnsinnig gut!


    Arme Venus. Erst dieser Schrecken mit Scarlett, nun ist sie auch noch zwischen zwei Jungs hin - und hergerissen. Ich bin gespannt, für wen sie sich entscheiden wird. Und ob die Sache mit Scarlett noch ein Nachspiel haben wird?


    Tag 5


    „Jess?!“
    Tessas Stimme klang entsetzt, fast ein wenig panisch. In Windeseile hatte sie das Badezimmer durchquert und war neben dem regungslosen Mann auf die Knie gesunken. Sie befürchtete schon das Schlimmste, doch als sie ihn vorsichtig berührte, bewegte er seinen Kopf und öffnete langsam die Augen.
    „Jess! Was ist mit dir?“
    Er blickte sie einen Moment zerstreut an, als wisse er nicht, wo er sich befände, dann sagte er mit leiser Stimme. „Tessa… oh… Tessa… du bist noch da…“
    „Natürlich bin ich noch da, du Dummerchen. Wo sollte ich denn sonst sein? Kannst du aufstehen?“
    Langsam half sie Jess auf die Beine. Er umklammerte sie fest und wimmerte leise: „Tessa… ich dachte, du wärst gegangen…“
    Tessa schluckte und drückte den zitternden Körper fest an sich.
    „Natürlich bin ich nicht gegangen…“




    Sie drückte ihn fester an sich.
    „Du hast mir einen Schrecken eingejagt, als du da so lagst… wie lange liegst du schon dort? Du bist eiskalt…“
    Sie musste auf der Couch in einen komaartigen Schlaf gesunken sein, denn als sie aufwachte, war es bereits erneut schwarze Nacht gewesen und sie erinnerte sich daran, dass ihr Telefonat mit Tina in den frühen Morgenstunden gewesen war. Jess musste somit schon seit fast vierundzwanzig Stunden hier eingesperrt gewesen sein.
    Gewissenbisse übermannten Tessa. Wie hatte sie das nur zulassen können? Wieso war sie nicht vom Tageslicht aufgewacht, wie hatte sie es in dieser Situation nur fertigbringen können, fast zwanzig Stunden zu schlafen?!



    Vorsichtig führte sie Jess zurück ins Schlafzimmer und half ihm, sich ins Bett zu legen. Er zitterte immer noch, was wohl von der Kälte der Fliesen kommen konnte, auf denen er offenbar schon stundenlang gelegen hatte.
    Rasch ging Tessa in die Küche und kochte einen Tee. Sich selbst bereitete sie einen Espresso vor. Sie durfte keinesfalls schon wieder einschlafen, bevor sie nicht sicher sein konnte, dass es Jess einigermaßen gut ging.



    Sie flößte ihm den Tee vorsichtig und langsam ein, streichelte seinen zitternden Körper wie den eines kleines Kindes. Irgendwann schien beides seine Wirkung zu tun. Er wurde ruhiger und schlief schließlich sogar ein.
    Tessa jedoch wagte es nicht, sich auch neben ihn zu legen. Draußen dämmerte bereits wieder der Morgen, doch sie saß oder stand neben dem Bett und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen.
    Immer noch nagten die Gewissenbisse in ihr. Nicht nur Tina, sondern sogar Jess selbst hatten ihr gesagt, dass es in Ordnung sei, wenn sie ihn einschloss. Doch nun fragte sie sich, ob sie nicht zu schnell auf diese „Lösung“ zurückgegriffen hatte. Und vor allem konnte sie es sich nicht verzeihen, so lange geschlafen zu haben, während Jess alleine und verriegelt gewesen war. Was, wenn er sich in diesen Stunden etwas angetan hätte – egal ob beabsichtigt oder nicht? Tessa wollte gar nicht darüber nachdenken.



    Schließlich spürte auch sie die Müdigkeit immer deutlicher. Obwohl sie so lange geschlafen hatte, schien ihr Körper dermaßen erschöpft, dass er schon nach wenigen Stunden des Wachseins wieder nach Schlaf verlangte. Vielleicht kam es von daher, dass diese Stunden derart angespannt waren. Abgesehen davon spürte Tessa immer noch jeden Muskel schmerzen und auch die Wunden im Gesicht verheilten nur langsam. Offenbar hatte ihr Körper nicht mehr allzu viel Energie zur eigenen Rehabilitation übrig.
    Sie dachte an das, was Tina ihr gesagt hatte – denk auch an dich, denn schwach und kraftlos bringst du Jess nicht weiter!
    Sie seufzte und musste einsehen, dass sie nicht ewig neben Jess stehen oder sitzen konnte, um über seinen Schlaf zu wachen. Darüber hinaus schien dieser tatsächlich fest zu schlafen. Nur selten drehte er sich und stöhnte nur ab und an und sehr leise, nicht wie in den letzten Tagen, an denen ihn seine Horrorvisionen offenbar sogar bis in den Schlaf verfolgt hatten.
    Darum überwand Tessa sich schließlich und krabbelte neben dem schlafenden Mann ins Bett.



    Nach wenigen Sekunden war auch sie in einen traumlosen und tiefen Schlaf gesunken, während der Tag sich langsam zum Ende neigte.





    Fortsetzung folg

    „Aber Jess sagte, man bekäme von heute auf morgen meist keinen Therapieplatz“, gab Tessa zu bedenken.
    „Das kommt auf die Einrichtung an“, erklärte Tina ihr. „In der Regel weisen die Einrichtungen aber niemanden zurück, der sich zum Entzug bereit erklärt – sie wissen genau darum, dass solche Entscheidungen sehr schnell revidiert werden können, wenn man den Betroffenen zurück in sein Umfeld schickt. Aber da Jess nun ohnehin schon mitten im kalten Entzug ist, wird ihn niemand mehr abweisen, das weiß ich. Hol Dir einen Stift, ich sag dir, wo du dich hinwenden kannst.“
    Tessa schrieb sich schnell einige Adressen auf und seufzte dann.
    „Ich fürchte aber, er wird sich nicht dazu bereit erklären. Was soll ich dann tun?“
    „Dann versuche, bei ihm zu bleiben, Tessa, aber stelle dein eigenes Wohl immer, absolut immer, über seines. Bitte versprich mir das. Du hast so viel durchgemacht in den letzten Wochen, du musst auch ein wenig an dich denken.“

    „Aber Jess braucht mich doch!“
    „Ja, aber du hilfst ihm auch nicht viel, wenn du selbst nicht mehr auf den Beinen bist“, erwiderte Tina ruhig.



    „Ich weiß“, gab Tessa zu.
    „Wenn es ihm sichtlich schlechter geht, ruf sofort den Notarzt“, erklärte Tina weiter. „Ein kalter Entzug ist für einen Körper ein ungemeiner Stress, eine extreme Belastung. Es kann dabei sehr leicht zu einem Herz- oder Atemstillstand kommen. Versuch darum auf seine Vitalzeichen zu achten. Es hilft weder dir noch ihm, wenn ihn dieser Versuch das Leben kostet, verstehst du! Und wenn er dir zu aggressiv scheint, schließ ihn ein, so wie du es schon gemacht hast. Das ist in Ordnung, du musst dich selbst schützen. Besser wäre es aber, ihr würdet euch Hilfe holen. Aber Jess muss damit einverstanden sein, sonst bringt das nichts.“
    „Danke, Tina. Das hilft mir schon etwas weiter. Ich werde sehen, wie es sich entwickelt. Weißt du, wie lange das alles noch gehen kann?“
    „Normalerweise rund fünf Tage, aber ein Rückfall ist nie auszuschließen. In jedem Fall habt ihr das gröbste bereits überstanden“, erwiderte Tina. „Aber wenn der kalte Entzug vorbei ist, muss Jess sich in therapeutische Hände geben, Tessa! Die Entzugserscheinungen können auch in den ersten Wochen immer wieder einmal kommen und die Rückfallgefahr im Sinne einer erneuten Sucht ist sehr groß!“

    Tessa nickte. „Sobald er wieder klarer ist, werde ich ihn bestimmt überzeugen können… wie es danach weitergeht, weiß ja ohnehin noch niemand… darüber hab ich noch nicht nachgedacht. Erstmal will ich das hier mit ihm überstehen.“
    „Ich wünsch euch viel Glück, Tessa“, schloss Tina schließlich das Gespräch.
    Tessa legte auf und horchte in Richtung Schlafzimmer. Es war etwas stiller geworden, aber Jess jammerte immer wieder kläglich zwischendurch. Es tat ihr im Herzen weh, ihm nicht helfen zu können. Was er wohl gerade durchmachte?
    Schließlich legte Tessa sich auf die Couch, rollte sich zusammen und döste ein.






    Tag 4


    Jess schrie leise auf, als eines der Monster im Schlafzimmer auftauchte.
    „Jess… ich werde dich kriegen“, sagte der Mann mit rauer Stimme und bleckte seine spitzen Vampirzähne.
    Erschrocken wich Jess zurück.
    „Das gibt es nicht! Du bist nur eine Ausgeburt meiner Fantasie!“



    Er drehte dem Vampir den Rücken zu und eilte ins Badezimmer. In Sicherheit!
    Schwer atmend blickte er sich um. Er sehnte sich nach Tessa. Warum hatte sie ihn eingeschlossen? Stieß sie ihn von sich? Wo war sie?
    War sie vielleicht fort?

    „Würde dich das denn wundern?“
    Wieder entwich seinen Lippen ein Schrei.



    Alleine das Aussehen der Erscheinung zeigte, dass es ein Trugbild sein musste.
    „Scher dich fort!“ rief Jess panisch. „Geh fort, du bist doch gar nicht da!“
    „Offensichtlich bin ich das, wenn auch nur in deinem kranken Kopf“, raunte die Stimme. „Wieso denkst du eigentlich, du hast Liebe verdient? Hast du für das Mädchen jemals etwas getan?“



    Jess schüttelte es vor Entsetzen und er griff sich an den vor Schmerz fast zerberstenden Kopf.
    „Geh raus, geh da raus!“ heulte er. „Lass mich in Ruhe!“



    Doch das Wesen zog stattdessen seine Kapuze aus dem Gesicht und kam auf ihn zu, starrte ihn mit diesem schrecklich entstellten Gesicht an.
    „Du bist ein Verlierer, Jess Berger! Du bist ein Verlierer, du warst es immer, du wirst es immer sein! Du wirst dieses Mädchen enttäuschen, weil du nicht stark genug bist! Und damit wirst du sie auf dem Gewissen haben! Weil du nicht die Kraft hast, zu ihr zu stehen!“




    „Neiiiiiin!“ schluchzte und schrie Jess und hielt sich die Ohren zu, wohl wissend, dass die garstigen Stimmen in seinem Kopf dadurch nicht zum Verstummen gebracht werden konnten.
    Es schien eine Ewigkeit, bis ihn endlich eine dankbare, ruhige Dunkelheit umschloss und ihm Gnade erwies.



    t.

    Tag 3


    Wären da nicht immer wieder ihre Hände gewesen, die sich so sanft anfühlten, dass es doch noch wert war, den eigenen Körper zu spüren, und ihre Stimme, die mit solcher Zärtlichkeit auf ihn einsprach, dass sie es vermochte, seine Seele, die in diesem Kampf verloren zu gehen schien, zu erreichen – er hätte aufgegeben. Er hätte sich fallenlassen in die Dunkelheit, die ihm immer wieder so nahe war.
    Aber Tessas sanfte Stimme und ihre zarte Berührung rissen ihn immer wieder heraus. Er nahm sie nicht oft wahr, denn Schmerz und Übelkeit, Halluzinationen und Wahnvorstellungen nahmen ihn ein und hielten ihn umschlossen.
    Tessa hingegen nahm ihn wahr. Sie nahm alles wahr, in überdeutlicher, grausamer Realität.



    Am Abend des dritten Tages schien Jess zum ersten Mal seit achtundvierzig Stunden wieder ein wenig zu Bewusstsein zu kommen. Sein Blick wurde wieder etwas klarer und seine Haut bekam ein wenig mehr Farbe.
    Tessa setzte sich neben ihn auf die Couch und sah ihn an. Zögerlich begann sie zu sprechen.
    „Jess… ich… ich hab nachgedacht und… ich mach mir wahnsinnige Sorgen um dich… vorhin und auch gestern hatte ich teilweise das Gefühl, du stirbst mir unter den Händen weg. Du hast seit Tagen nichts gegessen und kaum getrunken… ich hab Angst, dass dein Körper das nicht durchhält.“
    Sie schwieg und dachte voller Angst an die Stunden zurück, in denen sie kurz davor gewesen war, den Notarzt zu rufen, weil Jess nahezu nicht mehr ansprechbar in ihren Armen gelegen hatte, der Atem flach, aber schnell, mit kleinen Aussetzern dazwischen.



    Die Haut kalt und schweißig, das Herz so am Rasen, dass sie es selbst durch den dünnen Stoff seines durchnässten Unterhemdes mit bloßem Auge sehen konnte.
    Wie lange konnte ein ohnehin geschundener, geschwächter Körper so etwas aushalten?
    Tessa musste sich eingestehen, dass sie keine Vorstellung davon gehabt hatte, wie schlimm die Entzugserscheinungen werden würden.
    „Du gehörst in professionelle Hände“, sprach sie darum fest weiter, in der Hoffnung, er sei klar genug, um zu verstehen, was sie sagte. „Du brauchst Ärzte, die das Ganze überwachen, die sicherstellen, dass dein Körper das mitmacht, Jess… was wir hier machen, ist gefährlich, ich habe im Internet nachgelesen… du könntest daran sterben, wenn du so entziehst, wie du es tust…!“
    Verzweifelt sah sie ihn an. Er schien einige Sekunden zu brauchen, bis er den Sinn ihrer Worte völlig verstanden hatte, dann zog er das Gesicht wütend zusammen und erwiderte:
    „Ach, hast du es schon satt, oder wie? Ich werde dir wohl zu viel – du willst mich abschieben, an Leute, die sich mit so etwas ´auskennen´?“




    „So meine ich das nicht!“ rief Tessa. „Aber ich habe Angst um dich – ich bin überfordert, ich weiß nicht, was ich tun soll…!“
    „Nichts kannst du tun! Du leidest nicht, ICH leide!“ rief Jess wütend aus. „Hast du noch nicht einmal das Durchhaltevermögen, dies mit mir durchzustehen? Aber von mir verlangst du, dass ich diese Hölle durchmache? Weißt du überhaupt, wie furchtbar es ist?“
    Tessa schluckte. „Nein… das weiß ich natürlich nicht. Aber…“

    „Nichts aber! Ich geh in kein Therapieheim! Ich hab es bis hierhin durchgezogen, noch ein paar Tage, dann ist es vorbei! Ich will es durchhalten! Wie sieht es mir dir aus?“
    Er sah sie wütend an, und die Aggressivität in seinem Gesicht ließ sie erschaudern.



    „Ist gut… ist gut…“, sagte sie darum resignierend.
    „Na schön!“ rief Jess aus und verschwand im Badezimmer.
    Seufzend sah Tessa ihm nach.
    Wenige Stunden später begann Jess erneut zu rebellieren. Er schlug und trat um sich und schrie. Egal wie sehr Tessa ihn zu beruhigen versuchte, es half alles nichts.
    Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Was sollte sie nur tun?



    Eine bange Angst überkam sie. Jess tobte immer noch und war inzwischen dazu übergangen, seinen Frust an den Möbeln auszulassen.
    Sie tat schließlich, was sie tun musste, verließ das Schlafzimmer und schloss hinter sich ab. So konnte er wenigstens nur in Badezimmer und Schlafzimmer rebellieren.
    Schaudernd stand Tessa vor der Tür, den klammen Schlüssel in der Hand. Sie fühlte sich fast zu schwach, um noch auf den Beinen zu stehen und die Tränen liefen ihr über das Gesicht und brannten in den noch nicht verheilten Wunden auf Wange und Lippe.
    Was sollte sie nur tun? Wenn sie doch wenigstens irgendjemanden gehabt hätte, den sie zu Hilfe rufen, mit dem sie hätte reden können!
    Auf was hatten sie sich da nur eingelassen?
    Tessas Blick blieb auf dem Telefon ruhen und plötzlich griff sie danach und wählte eine Nummer, die sie noch nie zuvor gewählt hatte.



    „Sorgentelefon, mein Name ist Tina, hallo“, schlug ihr eine freundliche Frauenstimme entgegen. „Wo drückt der Schuh?“
    Tessa schwieg einen Moment und sagte dann leise: „Hallo… mein Name ist Tessa… ich… ich bin verzweifelt, darum ruf ich an.“
    „Was ist los, Tessa?“ fragte Tinas freundliche Stimme. „Kann ich dir helfen?“
    „Ich weiß es nicht“, erwiderte Tessa müde. „Ich glaube, mir kann niemand helfen.“
    „Aber du rufst trotzdem hier an, und das ist doch schon einmal ein erster Schritt.“
    „Ja...“
    „Was ist los, Tessa?“ wiederholte Tina ihre Frage.



    Stockend begann Tessa, Tina alles zu erzählen – von dem Tage an, da sie Jess im Supermarkt kennengelernt hatte – ein Tag, der ihr in einem völlig anderen Leben gewesen zu sein schien – bis hin zu den letzten Stunden und Tagen, an denen sich so viele, größtenteils schrecklichste Erlebnisse überstürzt hatten.
    Je mehr und länger sie erzählte, desto leichter kamen ihr die Sätze über die Lippen, desto seltener musste Tina Zwischenfragen stellen.
    Erst jetzt, da alles aus ihr heraussprudelte, merkte Tessa, wie gut es tat, endlich mit jemandem über alles reden zu können, formulieren zu können, wie sie sich bei all diesen Schritten und Ereignissen gefühlt hatte, das Gefühl zu haben, jemand interessiere sich für sie und ihre Probleme – ohne sie zu verurteilen oder gewisse Dinge vorauszusetzen.

    Immer wieder rollten ihr Tränen über die Wangen, während sie Tina ihr Herz ausschüttete, doch sie empfand sie diesmal nicht als brennend, sondern erleichternd.
    Als sie schließlich fertig war mit ihrer Schilderung, holte sie tief Luft und sagte dann: „Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll, Tina. Ich hab Angst um Jess… und offen gesagt nicht nur um ihn, sondern auch wegen meiner selbst. Er hat mir eben da drinnen extreme Angst gemacht. Ich weiß nicht… ich hab einfach Angst, dass er in einer seiner Wahnvorstellungen doch einmal auf mich losgeht…“
    Tina antwortete ruhig und einfühlsam. „Tessa – ich kann das völlig nachvollziehen. Was ihr da macht, ist ziemlich riskant. Drogensüchtige sind im Entzug oft völlig außer Kontrolle. Das kann ihnen niemand vorwerfen, weil sie unvorstellbare Schmerzen und Leiden ertragen müssen. Aber es ist nicht umsonst so, dass in den meisten psychiatrischen Einrichtungen, welche sich auf Drogenentzug spezialisiert haben, auch immer mehrere Personalfachkräfte für einen Patienten verantwortlich sind und zur Not mit mehreren eingreifen können, wenn eine Person einmal doch völlig außer Kontrolle gerät.“



    „Aber was soll ich machen?“ erwiderte Tessa ratlos. „Ich kann ihn nicht dazu zwingen, sich Hilfe von außen zu holen. Er hat vorhin regelrecht aggressiv und völlig uneinsichtig reagiert. Und irgendwie kann ich ihn ja auch verstehen. Ich wüsste auch gar nicht, was ich nun unternehmen sollte, selbst wenn er sich dazu bereit erklärt. An wen ich mich wenden sollte? Den Krankenwagen rufen oder das Drogenbüro informieren…?“
    „In dem Punkt kann ich dich beruhigen“, erwiderte Tina. „Ich kann dir eine Liste mit Adressen von Einrichtungen geben, die sich auf Drogenentzug spezialisiert haben.“

    Tag 2


    Tessa erwachte davon, dass jemand laut schrie. Mit einem beherzten Sprung war sie auf den Beinen und sah Jess, der im Schlafzimmer auf und ab ging und dabei urmenschliche Schreie von sich gab. Ihr Herz zog sich zusammen und plötzlich dachte sie an die Nachbarn, denen diese Schreie irgendwann auffallen würden. Was sollte sie dann sagen?
    „Jess… was ist denn los?“ fragte sie sanft, doch er schien sie gar nicht zu hören.
    Wie ein nervöses Tier ging er hin und her, vor und zurück. Seine Augen waren trübe und er sah schlechter aus denn je. Vorsichtig berührte Tessa ihn und zuckte zusammen, als sie spürte, wie kalt vom Schweiß seine Haut geworden war. Fast, als sei er nicht mehr wirklich lebendig.
    „Ich kann nicht mehr… ich kann nicht mehr!“ stieß er keuchend hervor und raufte sich die Haare. Tessa war einige Meter zurückgeblieben und starrte ihn nur mit vor Sorge verzerrtem Gesicht an. Sie fühlte sich so hilflos wie noch nie zuvor in ihrem Leben.



    Die Stunden zogen sich hin wie Minuten. Jess übergab sich mehrmals, bis er kaum noch auf den Beinen stehen konnte vor Erschöpfung. Er schien unendliche Schmerzen zu haben, jedes Glied schien sich auf unerbittlichste Weise in heiß-stechende Dornen zu verwandeln.
    Tessa wurde es von Stunde zu Stunde unbehaglicher und banger zumute.
    Dann kamen die Halluzinationen. Er hatte ihr bereits davon erzählt, doch was er sah, was er spürte, war für sie nicht sichtbar. Sie hörte nur seine verzerrten, schmerzerfüllten, ängstlichen Laute, die er von sich gab. Die Bilder, die in seinem Kopf entstanden, waren nur für ihn sichtbar und nur anhand einiger Wortfetzen konnte sie erahnen, wie sie aussehen mochten.
    „Hol mich nicht…“, stieß er hervor. „Ich will nicht sterben…!“



    Was sah er in diesen Momenten?
    Was produzierte seine durch den Entzug der geliebten Droge derart überstimulierte Phantasie Sekunde für Sekunde?
    Es schien ewig zu gehen. Stunden um Stunden. Halluzination um Halluzination schleppte sich der Tag dahin.



    Gab es denn keine Gnade?
    Niemanden, er ihm helfen wollte? Jess versank in einem Strudel aus bizzaren Bildern. Er nahm nichts mehr wahr um sich. Nicht Tessa, nicht dass sich die Nacht erneut über die Stadt legte.

    Nichts war dort als der unendliche Schmerz, die Hitze und Kälte, die sich grausam abwechselten, und wieder dieser Schmerz, Schmerz, Schmerz.
    Was ist das Leben noch wert, wenn es sich so gestaltet? Nichts.
    In diesem Augenblick war er bereit zu sterben, ja, er flehte sogar danach.
    „Lass es aufhören…. lass es bitte aufhören…“



    Erneut war er auf der Couch eingeschlafen, seine Trugbilder bei ihm. Durch halb geöffnete Augen erkannte er das weiße Geschöpf, das vor ihm stand. Wachte es über ihn? Nahm es ihn mit in die andere Welt? Oder brachte es ihm nur wieder Schmerzen?
    Er wusste es nicht. Er wusste gar nichts mehr.


    Kapitel 35
    Cold Turkey





    Tag 1


    Tessa drehte den Duschhahn auf und ließ sich genießerisch das warme Wasser über ihren Körper laufen. Im ersten Moment zuckte sie etwas zusammen, als die mit Schorf bedeckten Stellen auf ihrem Gesicht mit dem feuchten Nass in Berührung kamen und sofort zu brennen begannen. Doch der Schmerz war nach wenigen Sekunden vorbei und das warme Wasser schien für ihre Glieder wahrer Balsam zu sein.
    Sie hätte ewig so dastehen und sich mit ihrem zart duftenden Duschgel abschrubben mögen. Irgendetwas an ihr schien schmutzig geworden zu sein – etwas, das sie so schnell nicht würde abschrubben können.
    Trotzdem huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Draußen hörte sie Jess´ Schritte, als er durch die Wohnung ging. Vielleicht würde es bald öfters so sein.



    Ihre Bedenken versuchte sie, so weit als möglich in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins zu schieben. Eine bange Angst schien sich in ihr auszubreiten, wenn sie an die nächsten Tage dachte. Doch sie hoffte, sie betete, dass sie es gemeinsam schaffen würden – irgendwie.
    Und wenn es doch zu schlimm werden würde, so versuchte sie sich zu beruhigen, konnte man immer noch professionelle Hilfe holen.

    Nachdem sie ausgiebig geduscht hatte, schlüpfte Tessa in frische Kleider und während Jess unter die Dusche sprang, steckte sie seine ausgefranste Jeans, das Shirt und die Jacke – sein einziges Hab und Gut – in die Waschmaschine.
    Dann machte sie zwei belegte Brote für sich und Jess und kurz darauf saßen sie sich gemeinsam am Frühstückstisch gegenüber.
    Es hätte den Anschein haben können, als seien sie nur ein ganz normales Paar, das nach einer gemeinsamen Nacht ein Frühstück zu sich nahm. Doch bei näherem Hinsehen fiel auf, dass dies nicht der Fall war.
    Tessa bemerkte, wie Jess von Minute zu Minute unruhiger wurde. Nach wenigen Bissen ließ er selbst das Brot unberührt liegen.
    „Ist… alles in Ordnung?“ fragte sie unbehaglich und sah ihn ängstlich an. Er nickte und versuchte ein wenig zu lächeln.



    „Mir ist nur ein wenig übel, darum hab ich wohl nicht so besondern Hunger, auch wenn es wirklich lecker ist.“
    Tessa schluckte. Dass die ersten Symptome so früh beginnen würden, war zwar nicht verwunderlich, und doch hatte sie gehofft, noch einige Stunden „Schonfrist“ zu haben.
    „Jess…. wann hast du das letzte Mal etwas genommen?“ fragte sie nach einer Weile des Schweigens.
    „Gestern Abend, kurz bevor ich dich gefunden habe“, erwiderte er möglichst ruhig. „Es würde langsam wieder Zeit. Es wird bald losgehen.“
    Tessa nickte tapfer und versuchte, ihn aufmunternd anzulächeln.
    „Wir werden das schon schaffen, Jess… gibt es irgendetwas, was ich für dich tun kann? Was ich beachten muss?“



    „Nein – nur bei mir sein. Das reicht völlig.“
    Nachdem Tessa aufgegessen hatte, half Jess ihr, den Tisch abzuräumen. Besorgt stellte diese fest, dass er kaum mehr in der Lage war, die Teller zu halten, so sehr zitterten seine Hände.
    Es war zwölf Uhr mittags.
    Als die Uhr auf ein Uhr stand, begann Jess zu schwitzen. Inzwischen zitterte er heftiger, so dass Tessa es mit bloßem Auge erkennen konnte. Sie saßen nebeneinander auf der Couch und sprachen nur noch wenig. Es schien, als fehle ihm die Konzentration, um tiefgehende Gespräche zu führen.
    Um drei Uhr, nachdem sie beide fast zwei Stunden wortlos nebeneinander gesessen und sich nur gelegentlich vorsichtig berührt hatten, sprang Jess plötzlich auf und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu wandern.
    Unsicher, was sie tun sollte, beobachtete Tessa ihn nur angespannt, sagte und tat aber nichts.
    Nach einer weiteren Stunde, in der er wie besessen hin und her gegangen war, blieb er plötzlich stehen, schlug die Hände vors Gesicht und begann hemmungslos zu schluchzen.
    Erschrocken sprang Tessa auf und näherte sich ihm vorsichtig.
    „Jess…“, sagte sie hilflos.


    „Ich kann nicht mehr!“ schluchzte Jess hilflos. „Ich halte das nicht aus! Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll, Tessa! Ich hab solche Angst! Ich brauche etwas, damit es aufhört, ich weiß es – ich brauche etwas, Tessa!“
    Hilflos griff Tessa nach seiner Hand und drückte sie.
    „Nein… nein, Jess… das ist nicht so. Du brauchst dieses Zeug nicht, hörst du. Du hast mich! Ich bin da- ich geh nicht weg! Du schaffst es – du bist stark!“, versuchte sie ihm Mut zu machen.
    „Nein – ich will nicht stark sein! Ich war noch nie stark!“ heulte Jess weiter wie ein kleines Kind.
    Wäre die Situation nicht so grausig ernst gewesen, hätte seine kindhaftes Gesicht und seine jammervollen, fast wie von einem Kleinkind stammenden Phrasen einem fast ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Genau dies machte die Situation noch abstrakter – ja, fast bizar.
    „Nein, Jess – du bist stark, und du willst es auch sein!“, rief Tessa rasch. „Und ich bin doch da- ich pass auf dich auf!“
    „Ich hab aber solche Angst!“, weinte Jess weiter. „Ich wünschte, meine Mutter wäre hier und könnte mir helfen. Tessa, ich vermisse sie so!“
    Getroffen sah Tessa ihn an. Unter den ersten Symptomen des Entzuges schienen bei Jess wahre Dämme zu brechen. Dass er in seiner Verzweiflung nach seiner längst verstorbenen Mutter rief, erschreckte und rührte sie zugleich.



    Es dauerte schiere Ewigkeiten, bis Jess sich wieder beruhigen konnte. Unter heftigen Schluchzern stieß er viele, erschreckende und berührende Sätze aus, die Tessa ebenfalls Tränen in die Augen trieben. Doch sie selbst schien ihm nicht viel helfen zu können. Mit Sicherheit realisierte er, dass sie bei ihm war und ihn tröstete – doch es schien, als habe ihn ein Strudel erfasst, der nur ihn umschloss und aus dem sie ihn vorerst nicht befreien konnte.
    Also ließ sie ihn einfach weinen, bis er keine Tränen mehr zu haben schien und sich schwach von ihr zur Couch führen ließ.
    Es war inzwischen fast fünf Uhr.



    Erschöpft, aber erleichtert realisierte Tessa, dass Jess eingenickt war. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie erst sechs Stunden überstanden hatten, seit bei Jess die ersten, schwachen Symptome angefangen hatten. Nun, da er schlief, überkam sie endlich etwas Entspannung, die mit sich brachte, dass ihre Gedanken wieder zu den Ereignissen des Vortages zurückschweiften.
    Sie schauderte. „Daran darf ich jetzt nicht denken“, fuhr es ihr durch den Kopf. „Wenn ich es nicht aus meinem Kopf streiche, werde ich verrückt werden. Ich muss jetzt stark sein für Jess. Alles andere kann ich später sehen.“
    Jess stöhnte neben ihr leise auf, als plage ihn ein Alptraum. Sein Gesicht war verzerrt und auf seiner Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet.
    So sollte es die ganze Nacht weitergehen.





    @inesnhnsch: Danke für Deinen lieben Kommi!
    Ja, es kommen harte Zeiten auf Tessa zu, wenn sie mit ihm den Entzug durchsteht, das stimmt. Aber vielleicht lohnt es sich ja?



    draggoon:
    Freut mich total, Dich zu lesen! Ja, Du hast recht, sie haben bange Zeiten vor sich, aber mit einem guten Ziel vor Augen! Danke für Deinen lieben Kommi, hat mich sooo gefreut!


    @Dani04: Ja, Du hast recht, es ist den beiden zu wünschen und sie gäben sicher auch eine süße Familie, find ich auch. Aber bis dahin ist es noch ein guter Stück, sehr steiniger Weg, und ob sie auf dem nicht stolpern, ist fraglich.
    Danke für Deinen lieben Kommi!



    @All:
    Das nächste Kapitel ist arg lang, aber ich wollte es nicht in mehrere Teile reißen! Viel Spaß damit!

    Huhu Rivendell!


    Puhhhhh..... ich habe jetzt ab Seite 4 in einem Rutsch durchgelesen, die letzten 1,5 Stunden und find Deine Story einfach nur total liebenswert!

    Wenn man das so von Anfang bis Ende liest, fällt einem direkt auf, wie sehr Du Dich gesteigert hast, sowohl was den Text aber auch die Bilder angeht, die einfach gigantisch gut sind (wie kriegst Du Deine Sims nur zu derartigen Posten?) :D

    Die Story an sich finde ich toll. Es ist mir sympathisch, ich mag solche Familiengeschichten, wo ma die Kinder langsam aufwächsen sieht und merkt, wie die Zeit vergeht!

    Die Story mit der Alienschwangerschaft ist der Ausgangspunkt, aber Du hast so viele andere, tolle und rührende stories mit einfließen lassen, einfach toll!


    Ab sofort werde ich ganz brav mitlesen, ich bin begeistert! :D

    Boah, wie ist Timo denn bitteschön drauf? Wäre ja nicht gerade der geschickteste Weg, um die Vorwürfe von Liz zu entkräften, oder? :misstrau

    Die arme Molly, wie soll sie sich da entscheiden? dass sie sich bei Liz so geborgen fühlte, lässt natürlich vielerlei an Schlussfolgerung zu... ob das Gefühl nur freundschaftlich war oder mehr?

    Und ich will nun endlich wissen, wie Molly in ihre missliche Lage gekommen ist *nägelkau*! :D

    Die Bilder sind mal wieder toll, Llyna! besonders das mit den Äpfeln find ich super!

    Er schluckte. „Aber es ist nicht nur das. Als du gestern so da lagst, wurde mir erst richtig klar, wie viel du mir bedeutest, verstehst du. Ich will dich nicht verlieren. Ich könnte es nicht ertragen. Aber genau diese Bereitschaft erwarte ich von dir… und das ist nicht fair. Das ist nahezu unmenschlich.“
    Er sah sie offen an und zog sie näher an sich. Seine Bartstoppeln kitzelten sie, und Tessa begann leise zu kichern und er stimmte ein, ohne weiter zu sprechen.



    Nach einer Weile, in der sie sich nur festgehalten und ihre Nähe genossen hatten, erhob Tessa die Stimme und sagte: „Und… was bedeutet das nun für uns?“
    Jess sah sie lange an und sagte dann: „Ich will eine Zukunft für uns beide haben, Tessa. Ich möchte dich nicht verlieren – ganz gleich in welcher Form. Und ich weiß, dass es dir genauso geht. Ich finde, wir haben eine Chance verdient.“ Er lächelte. „Ich weiß, dass es schwachsinnig ist, an so etwas zu denken, aber ich möchte irgendwann einmal an einem Sonntagmorgen in vielen Jahren genauso mit dir hier liegen und das Getrappel kleiner Füßchen über den Boden tappsen hören… ich will eine Familie, ein ganz normales Leben… irgendwann einmal, in vielen Jahren.“



    „Aber zurzeit gibt es für mich nicht einmal ´viele Jahre´…“, fuhr Jess fort und seine Stimme war bitter geworden. „Und es gibt niemanden, der daran etwas ändern kann, außer mir selbst. Das ist einfach Fakt, das kann ich nicht wegignorieren…“
    Tessa hielt gespannt den Atem an. Sollte er nun wirklich das sagen, was sie sich erhoffte, ersehnte…?
    „Ich will aufhören mit diesem Mist“, sagte Jess dann langsam. „Ich will aufhören, Tessa…“
    Tessa riss überrascht die Augen auf.



    „Bist… bist du dir sicher?“ fragte sie dann mit dünner Stimme.
    Jess nickte und lächelte. „Ja, bin ich… ich möchte loskommen von den Drogen. Ich will aufhören.“
    Glücklich lächelte Tessa ihn an. „Oh Jess… das… das ist großartig!“
    Er zog sie näher an sich und lächelte. „Ja… vielleicht wird dann ja doch noch alles gut…“



    Tesa schmiegte sich an ihn und rieb ihr Kinn an seinem Haar.
    „Und… wie geht es nun weiter?“ fragte sie dann langsam.
    „Nun… Tessa… hör zu, folgendes…“, erwiderte Jess langsam. „Ich will einen Entzug machen. Ich will es versuchen. Für uns…“
    Er sah sie kurz an und sagte dann. „Aber ich will es nicht alleine durchstehen müssen. Ich möchte bei dir bleiben… ich will es hier machen. Hier und jetzt.“
    „Was?“



    Tessa sah ihn verwirrt an.
    „Aber… aber Jess…“, stotterte sie. „Wie… wie meinst du das? Braucht man dafür nicht professionelle Hilfe? Ärzte? Therapeuten? Ich meine…“
    Sie sah ihn hilflos an, doch er rückte ein Stück zur Seite und verzog verächtlich das Gesicht. „Nein! Genau das möchte ich nicht mehr! Diese Quacksalber, sie helfen einem doch nicht! Sie machen alles nur noch viel schlimmer… wer weiß, was sie mir diesmal erzählen würden! Abgesehen davon kriegt niemand von heute auf morgen einen Therapieplatz… und ich will nicht warten.“
    Er sah sie lange an. „Ich KANN nicht warten… verstehst du das denn nicht? Wer weiß, ob ich morgen noch die Kraft dazu habe… wenn ich wieder zurückgehe…“



    Tessa schluckte. Ihr Mund fühlte sich trocken an.
    Eigentlich hätte sie jubilieren sollen, denn Jess hatte gerade eben genau den Entschluss gefasst, den sie sich so lange gewünscht hatte.
    Doch die Umstände waren nicht jene, die sie sich dazu gewünscht hatte. Und sie hatte ein schlechtes Gefühl in der Magengegend.

    „Jess…“, begann sie noch einmal. „Das stelle ich mir trotzdem nicht so einfach vor. Was, wenn es dir schlechter geht, als du annimmst? Du hast selbst einmal gesagt, der kalte Entzug ist die Hölle… ich…“
    Sie sah ihn hilflos an und verschwieg, was sie gedacht hatte – nämlich, dass in ihr Angst aufkeimte, Angst, ihn in jenen Extremsituationen zu sehen. Sie wusste nicht, wie er reagieren würde… genau vor jener Situation hatte er sie immer schützen wollen.
    Jess schien abermals ihre Gedanken zu erraten und nahm sie in den Arm.
    „Ich weiß, dass es nicht einfach werde wird – auch für dich nicht, Tessa… aber es ist unsere einzige Chance. Du weißt, ich würde dich nicht darum bitten, wenn ich für mich selbst einen anderen Weg sehen würde… aber ich will und kann nicht wieder in eines dieser Therapieheime. Ich will bei dir sein.“



    Tessa schluckte. Der letzte Satz hatte eine solche direkte, tief ins Herz gehende Ehrlichkeit, dass sie nichts mehr erwidern konnte. Etwas in ihr sagte ihr immer noch hartnäckig, dass dies nicht der richtige Weg sein konnte. Dass es zu viele Unsicherheiten gab, zu viele Risiken.
    Doch Jess hatte jeden anderen für sich ausgeschlossen. Was blieb ihr anders übrig, als ihm die Hand zu reichen und diesen einen mit ihm gemeinsam zu gehen? War sie überhaupt berechtigt dazu, Angst zu haben, wo ihn doch die Hölle erwarten würde? War es nicht das mindeste, was sie für ihn tun konnte, ihm dabei die Hand zu halten, für ihn da zu sein? Auf ihn aufzupassen? Schließlich tat er es für ihre Zukunft – ihre beider Zukunft!
    Wieso sollte sie nicht auch ihren Teil dazu beitragen?
    „Gemeinsam schaffen wir es bestimmt“, flüsterte Jess ihr zu und lächelte. „Ich bin mir ganz sicher… wenn du bei mir bist, wird es anders sein als vorher. Bestimmt.“

    Unsicher lächelte Tessa zurück.
    „Was… was hab ich zu erwarten? Wirst du Schmerzen haben? Wirst du schreien? Muss… muss ich Angst vor dir haben?“
    Jess sah sie lange an und sagte dann: „Ich kann dir darauf keine Antwort geben. Ich werde Schmerzen haben und vielleicht auch schreien… ich weiß es nicht. Aber Angst brauchst du keine haben… denn ich glaube, nachdem, was dir gestern geschehen ist, kann dich nichts mehr ängstigen. Ich werde dir nicht wehtun, das weiß ich ganz sicher. Und wenn du doch Angst hast und denkst, dass ich mich nicht mehr unter Kontrolle habe, kannst du mich in einem der Zimmer einschließen. Das ist in Ordnung…“
    Tessa schluckte bange. Alleine der Gedanke, einen tobenden Jess in einem der Zimmer zu verriegeln, ließ ihren Magen zusammenkrampfen. Doch sie nickte tapfer und versuchte zu lächeln.
    „Das schaffen wir schon, Jess“, sagte sie dann, fast als wolle sie sich selbst Mut zusprechen. „Und du wirst sehen… in wenigen Wochen werden wir ein neues Leben haben… zu zweit.“
    Jess sah sie gerührt an und zog sie an sich, um sie zu küssen.



    Er tat es mit solch einer Innigkeit und Leidenschaft wie nie zuvor. Es war wie ein Versprechen.




    Fortsetzung folgt!