Kapitel1: Kennenlernen

Die ersten paar Jahre bei der alten Frau waren für Lina wie im Nebel. Sie konnte sich nicht wirklich erinnern, dass ihre Ziehmutter viel mit ihr geredet hätte. Sie hatte ihr ihren Namen gesagt und was sie alles nicht anfassen darf, aber sonst war die alte Frau ziemlich schweigsam. Nur eine kleine scharfe Zurechtweisung, wenn Lina mal wieder die falschen Pflanzen in der Hand hatte oder ein Ruf zum Essen, waren das Einzige was sie von der alten Frau hörte. Nicht das es sie sonderlich störte, sie kannte es ja nicht anders. Aber eines Morgens war es anders. Lina erwachte wie immer in der Morgendämmerung und stand sofort auf. Sie wusste, was passiert, wenn sie es nicht tat. Die alte Frau sah und wusste alles. Auf jeden Fall glaubte Lina das. So schnell sie konnte zog sie sich an und ging zum Kessel um das Frühstück vorzubereiten. Jeden morgen das Gleiche, dachte sie so bei sich. Ich wäre froh, wenn es mal Abwechslung geben würde.

„Kind, heute lernst du etwas Neues.“ kam es wie aufs Stichwort von der alten Frau. Lina blickte erstaunt hoch.
„Was denn Adera?“ fragte sie. Sie sprach leise, fast als würde sie sich nicht trauen lauter zu sprechen, aber das täuschte. Sie hatte keine Angst vor der alten Frau, sondern sie wollte nur so schnell wie möglich wissen, was es denn Neues zu lernen gab. Aus der Vergangenheit hatte sie gelernt, so höflich wie möglich zu Adera zu sein, sonst würde sie nie erfahren, was sie wissen wollte.
„Sei nicht so ungeduldig.“ schnappte die alte Frau und setzte sich an den Tisch. Lina rührte enttäuscht weiter in dem langsam wärmer werdenden Haferbrei rum. Sie wusste, dass weitere Fragen nur dazu geführt hätten, dass sich Adera das Ganze noch anders überlegen würde. Und das konnte sie nicht riskieren.

Lina war ein lebhaftes Kind und die täglichen kleinen Arbeiten in der Hütte reichten bei weitem nicht aus, um sie zu erschöpfen. Wann immer sie konnte nahm sie sich Zeit für sich und tobte sich im Wald aus. Sie hatte keine Freunde, denn zum Dorf war es eine ganz schön lange Strecke für ein Kind allein. Aber sie wusste sich zu helfen, in dem sie auf Bäume kletterte und mit ein paar Wildtieren fangen spielte. Natürlich spielten die Tiere nicht richtig mit, aber Lina machte es Spaß.

Nach dem Frühstück an diesem Morgen erwartete sie aber erstmal der ganz normale Tagesablauf. Sie wusch die Teller und den Rest des Geschirrs ab, ging danach die Hühner füttern und widmete sich dann der leidigen Aufgabe des Sauber machen. Sie hasste es zu fegen und Staub zu wischen, aber Adera bestand darauf, dass die Hütte sauber sein sollte. 'Kinder machen Dreck und darum machst du auch hier sauber.' War ihre Begründung als Lina sie einmal fragte, warum sie immer putzen musste. Also putzte Lina ergeben und fragte nie wieder nach dem Warum.

Erst als es schon fast Schlafenszeit war rief Adera Lina zu sich. Sie saß auf der Bank und winkte das Mädchen zu sich. Lina setzte sich auf den Boden vor der alten Frau und schaute sie erwartungsvoll an.
„Also Kind, du bist jetzt schon über 3 Jahre hier bei mir und es wird langsam Zeit, dass du mehr lernst, als nur Hausarbeiten.“ fing Adera langsam an. Sie war sich nicht ganz sicher wie viel sie Lina schon anvertrauen konnte, aber sie hatte beschlossen ihr wenigstens das Nötigste beizubringen. Sie sah Lina ernst ins Gesicht und traf eine Entscheidung. „Du weißt, was ich mache?“
Lina schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung, was die alte Frau machte, dazu hütete Adera ihr Geheimnis viel zu gut. Wieder schien es so als hätte Adera gewusst, was Lina dachte, denn sie lachte einmal leise auf und fuhr dann fort. „Dachte ich mir das doch. Gut, das wirst du schon noch herausfinden. Ich habe dir aber gesagt, dass du etwas Neues lernst, also werde ich dir Lesen und Schreiben beibringen.“

Lina bekam große Augen. Das gefiel ihr. Von vereinzelten Besuchern aus dem Dorf hatte sie gehört, dass nur die Edelleute und Geistliche lesen und schreiben konnten. Sie fragte sich allerdings, warum die alte Frau das dann konnte. Sie war doch keine Edelfrau und eine Geistliche? Nein, das ganz bestimmt nicht. Lina sah sie weiter erwartungsvoll an, aber die alte Frau starrte durch sie durch. Sie traute sich nicht zu fragen, wann es denn los ginge mit dem Unterricht, aber sie wollte auch nicht aufstehen.
Erst nach einer Weile schien sich Adera zu erinnern, dass Lina immer noch vor ihren Füßen saß. „Nun geh schon endlich ins Bett. Heute fangen wir nicht mehr an.“ Lina seufzte leise, etwas enttäuscht, aber sie ging ohne zu zögern schlafen.

Am nächsten Morgen erwachte sie erfrischt und voller Tatendrang. Sie konnte kaum erwarten, endlich die erste Lese- und Schreiblektion zu lernen. Wie immer bereitete sie das Frühstück zu und während des Essens sah sie Adera immer wieder von der Seite an, bis diese ihr sagte, sie soll doch woanders hinschauen. Auch der Rest des Tages verlief genauso wie der Tag zuvor und Lina wurde langsam ungeduldig. Erst am späten Nachmittag rief Adera sie zu sich. Sie hatte sich das mit einem Buch am Esstisch bequem gemacht und Lina setzte sich neben sie.
Binnen kurzer Zeit war Lina gefangen von all den schönen Buchstaben. Sie war mit solch einem Eifer dabei, als würde sie noch am gleichen Tag alles lernen wollen. Nur mit Mühe konnte Adera sie bremsen, sonst hätte Lina noch bis tief in die Nacht weiter gelernt. Selbst in der Nacht träumte sie von Buchstaben und all den tollen Dingen, die sie verkörperten.

Selbst Adera musste ein paar Mal über den Eifer von Lina lächeln, aber sie tat es nur dann, wenn das Mädchen nicht hinschaute. Schließlich war sie davon überzeugt, dass das Mädchen nicht nur fleißig sondern auch ziemlich klug war. Sie warf all ihre vorherigen Pläne über den Haufen und beschloss dem Kind doch zu verraten wer sie war und was sie Lina lernen wollte. Sorgfältig legte sie einige Bücher auf den Tisch, als das Mädchen schon fest schlief. Sie war davon überzeugt, dass Lina von selbst darauf kommen würde, wenn sie ihr die richtigen Hinweise geben würde. Also legte sie ein paar alte Schriften auf den Tisch, die sich mit ihrer Kunst befassten und ging dann selbst schlafen.
*geht noch ein bisschen weiter*