"Das Liebesgeheimnis!" nach einem Roman von Sally Beauman


  • Julia lächelt; sie genießt Streitigkeiten. "Auf unser aller Zukunft", sagt Großvater entschieden; er mag manchmal zerstreut sein, aber Zank bei Tisch duldet er nicht. Ich merke, dass er in Gedanken in der Vergangenheit ist, bei meinem Vater und den anderen Festen, die hier schon gefeiert wurden - bei denen man in eine Zukunft blickte, die ganz anders ausfiel, als man glaubte.





    Ich nippe an dem Wein, der grüngolden, warm und frisch zugleich schmeckt. Die Untiefen oder die Stromschnellen, denke ich. Die Quelle oder den Ozean? Wofür werde ich mich entscheiden, wenn es soweit ist? Ich schaue zum Himmel hinauf, der nach und nach silbergrau und dann schwarz wird. Die Schwalben und Mauersegler sind verschwunden, und an ihrer Stelle jagen nun die winzigen Zwergfledermäuse, die in der Abtei unterm Dach wohnen, durch die Luft. Sie sausen über uns hinweg und fliegen an den Mauern tiefer. Bald wird es ganz dunkel sein. In der Birkenallee ruft ein Käuzchen, und meine Nonnen, die nach der Komplet in ihre Zellen gegangen sind, murmeln und widmen sich dem Gebet. Stella merkt, wie still ich bin, und streichelt meinen Arm. Bettzeit, Schätzchen, sagt sie. Du schläfst ja schon fast.





    Man verscheucht mich also. Ich steige die Treppe hinauf und öffne das Fenster in meinem Zimmer - es ist noch so warm. Im Hof unten sehe ich die Kerzen flackern und die Glut der Zigaretten, die leuchtet wie Glühwürmchen. Dan macht noch eine Flasche Wein auf, Lucas gießt ein. Großvater ist auch verschwunden - er ist vermutlich auf den Weg in die Bibliothek, um sich dort zu betrinken. Einmal im Jahr besäuft er sich, immer an dem Abend, bevor wir nach Elde fahren. Jetzt sind die fünf alle anderen los geworden. Julia läuft ins Haus und legt eine Platte auf - nicht zu laut, aber doch ziemlich laut. Mit erhobenen Armen kommt sie heraus getanzt, kann dem Rythmus nicht widerstehen. Talkin ´bout my g-g-generation, schreit der Sänger wütend. Stella kommt mit einem Glas warmer Milch ins Zimmer.





    Sie zieht die Vorhänge zu und zupft meine Decke zurecht. Ich habe ein weißes Nachthemd an, liege auf einem weißen Kissen unter weißen Laken. Draußen ist es noch nicht ganz dunkel. Stella setzt sich in den Sessel neben meinem Bett, wie immer. Sie weiß, dass es für mich genauso unangenehm ist wie für sie, nach Elde zu fahren, und deshalb erzählt sie mir eine Geschichte wie früher. In ihrem kurzen dunklen Haar zeigen sich graue Strähnchen, und sie hat Fältchen um die Augen. Ich weiß, dass sie sich um so vieles Sorgen macht - das tut sie immer. "Erzähl mir, wie du Daddy kennen gelernt hast", sage ich. "Aber ganz von vorne, und du darfst nichts auslassen."



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    nachher gehts noch weiter, ich muss erstmal mittag machen...

  • Ich mag deine Geschichte wirklich! Bin nätürlich auch wansinnig gespannt was maisie gesehen hat in der Kugel. Auch wie sich die Beziehungen der anderen verändern werden und natürlich die Geschichte übers kennen lernen.

    Freu mich auf die fs!

    lg

    Nikita

  • Nikita. Danke für deinen Kommi. Ja, die Beziehungen werden sich verändern, zumindest eine von der ICH bisher weiss.




    Und so erzählt Stella alles von Anfang an. Ihre Geburt in Edinburgh, den Umzug der Familie nach Kanada, als sie sechs Monate alt war, ihre Kindheit auf einer Farm in Ontario und ihre Träume von Schottland und einem England, das sie noch nie gesehen hatte. Sie war als Kind eine Leseratte, verschlang Bücher, ernährte sich förmlich von ihnen, wie Finn heute auch. "Ich bin auch so", werfe ich ein, aber Stella mag die Bücher nicht, die ich lese, überhört die Bemerkung geflissentlich und fährt fort.





    "Bei Tisch wird nicht gelesen, Stella", pflegte Ihr Vater zu sagen, wenn sie mit einem Buch zum Essen erschien. Sie ließ es verschwinden - Entführt oder Jane Eyre oder Große Erwartungen - und las später auf dem Hof weiter oder mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke bis tief in die Nacht hinein. Aber natürlich war sie nicht auf dem Hof oder im Bett, sondern in jener anderen Welt: Sie war gefangen in einem grässlichen Turm, sie sah zu, wie die verrückte Mrs Rochester Janes Brautschleier zerriss, starrte auf Miss Mavishams Hochzeitstorte mit Spinnen. "Diese Bücher sind immer noch wichtig für mein Leben", sagt Stella jetzt und seufzt. "Maisie, wann werde ich endlich erwachsen? Bücher, Bücher - ich bin süchtig nach diesen Geschichten. So sollte man nicht leben, ich weiß das, aber ich kann nichts dagegen tun."





    Ich will garnicht, das Stella anders ist - und außerdem hätte sie ohne die Bücher niemals meinen Vater kennengelernt. Und das muss man sich mal vorstellen: Dann gäbe es mich gar nicht. Zum Glück war Stella büchersüchtig. Als sie achtzehn wurde und ihren Schulabschluss machte, bekam sie von ihren Eltern das Geschenk, das sie sich gewünscht hatte: ein Jahr in England. Sie würde nach England reisen, bei Tanten, Cousinen und Freunden der Eltern wohnen und endlich all die Orte sehen, von denen sie schon so lange geträumt hatte. Sie fuhr mit einem großen Dampfer, auf dem Zwischendeck. Als sie in Liverpool ankam, nahm sie sofort den nächsten Zug zu ihrem Geburtsort: Edinburgh. Das war im Jahre 1938, und dieser schwächliche Idiot Chamberlain verhieß Frieden.





    Stella blieb eine Woche bei zwei unverheirateten Tanten in Morningside und begab sich dann auf ihre große Tour. Ich liebe die Einzelheiten dieser Reise, bei denen ich immer wegdämmere. Mit einem komplizierten System aus Zügen und Bussen fuhr Stella nach Süden: Sie suchte Walter Scott auf (in den Borders), dann Wordsworth und Coleridge (im Lake District). Im Winter dieses Jahres ging sie bei Haworth mit den drei Bronté-Schwestern im Moor spazieren, eigenartigen und beunruhigenden Gefährtinnen, doch Stella, die ihre Bücher in und auswendig kannte, war darauf vorbereitet. Sie besuchte Lawrence in Nottingham und Tennyson in Lincolnshire. Arm in Arm mit Dickens streifte sie durch London und begab sich dann in den Nordwesten zu Shakespeare, in die Wälder von Arden und Warwickshire. Dann wohnte sie wieder längere Zeit bei einer ledigen Tante; im Anschluss daran kamen Dorset und Thomas Hardy und im Spätsommer Jane Austen in Bath. Ihrer geliebten Austen folgte Stella nach Lyme Regis und Hampshire. Im September stand sie gerade vor Austens Grab in der Winchester Cathedral, als sich unter den anderen Besuchern eine Unruhe breit machte. Stella schlug Mansfield Park zu (das sie zum fünftem Mal las) und horchte aus das Flüstern im Kirchenschiff und die Unruhe - fürchteten sich die Leute vor etwas? Sie ging hinaus, trat zu der Menge, die sich dort versammelt hatte, und fragte, was geschehen sei. Man sagte ihr, es sei Krieg.





    Stella hatte sich so in Jane Austens Welt vertieft, dass sie zuerst gar nicht verstand, was man ihr sagte. Am selben Tag traf ein Telegramm ihrer Eltern aus Kanada ein; sie forderten sie auf, sofort zurückzukommen. Doch Stella weigerte sich. Kanada war für sie nicht mehr ihre Heimat, und sie wollte England zur Seite stehen. Die Shakespeare-Tante erklärte sich bereit, sie aufzunehmen, und so konnte sie in England bleiben. Natürlich musste sie bleiben, dachte ich und schloss die Augen; die Karten würden ihr nämlich einen Ehemann schicken, und der war schon ganz in der Nähe.





    Aber zuerst gab es eine langweilige Phase, in der Stella in London und an anderen Orten in der Rüstungsindustrie arbeitete. Bei diesem Teil der Geschichte höre ich nicht richtig zu - ich bin in Gedanken noch bei der Buchreise und überlege mir zum ersten Mal, dass Stella erstaunlich viele unverheiratete Tanten zur Verfügung standen. Sonderbar, dass keine dieser Frauen so lange lebte, dass wir sie noch kennen lernen konnten - sie kamen nie zu Besuch, sie schrieben nie, sie waren einfach weg. Vielleicht sind sie alle schon tot, denke ich. Vielleicht sind all diese alten Jungfern im Krieg umgekommen ... auf einer Woge alter Tanten drifte ich dahin und drohe einzuschlafen, aber ich wehre mich, ich will noch wach bleiben. Dann ist die öde Zeit endlich vorüber, und Stella, Tochter eines Farmers, hat während des Krieges doch noch die richtige Tätigkeit für sich gefunden. Sie wird Erntehelferin, zuerst auf einer Farm in Warwickshire (wieder bei Shakespeare), dann für eine Weile in Norfolk und schliesslich auf einer Farm im Dörfchen Wykenfield in Suffolk, die von einem Mr Angus McIver gepachtet wurde.





    "Und dort", sagt Stella, "an einem bezaubernden Juniabend - es war schon spät, und ich war seit fünf Uhr morgens auf den Beinen -, ging ich vom Tal zum Holyspring hoch. Da saß ich ein Weilchen, unterhalb vom Nun Wood. Es war so still dort, dass man den Fluss im Tal gluckern hörte. Ich legte mich ins Gras und sah den Schwalben zu. Und auch den Bombern, die von Deepden aus starteten. Man hörte sie jeden Abend losfliegen und jeden Morgen zurückkommen ..."





    "Was hattest Du an?", frage ich, obwohl ich das schon weiß, aber ich will es nochmal hören. "Tja, nichts besonders Hübsches", antwortet Stella träumerisch. "Ich hatte noch meine Arbeitskleidung an - Stiefel, Latzhosen, ein altes kariertes Hemd. Ich war verschwitzt und schmutzig und hatte warscheinlich Stroh im Haar, weil ich an diesem Tag bei den Pferden war ... Da lag ich nun jedenfalls auf dem Feld unterhalb der Abtei. Und aus irgendeinem Grund kam ich auf die Idee, an der Abtei vorbei zurückzugehen. Das Hauptgebäude war damals verschlossen, es war zu heruntergekommen und nicht groß genug, um beschlagnahmt zu werden, und Großvater war in London - na ja, damals war er natürlich noch nicht Großvater für mich. Ich wußte nur, dass die Abtei einem Mr Mortland gehörte - und das der einen Sohn hatte, der Jagdflieger und irgendwo in Sussex stationiert war ..."

  • Hallo, nun muss ich mich auch mal zu Wort melden. Ich bin von deiner Foto-Story total begeistert. Die geschichtlichen Hintergründe, welche du so ganz nebenbei mit einfliessen lässt, sind einfach super .. Man kann sich das alles richtig gut vorstellen. Die Gegend, die Leute, ..


    Anfangs war ich noch nicht so der Fan, da das ganze mit den Geister-Nonnen doch ziemlich abgedreht klang, doch mittlerweile baust du ein ganzes Gerüst auf, welches immer verwobener wird und somit auch immter interessanter.


    Und jetzt, nun .. Du hast eine treue Leserin gefunden

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    ~~ Das LESEN ist die Möglichkeit, die Realität verblassen, und seinen Geist im Universum und der Zeit wandern zu lassen ... ~~[/CENTER]

  • Vielen Dank Cyber19. Es freut mich immer, sowas zu lesen und umso mehr Leser ich habe, desto mehr Spass macht es auch.
    Es wird im Laufe der Geschichte immer wieder Rückblicke geben. Kapitel 6 habe ich auch so eben fertig bekommen, ich muss die Bilder nur hoch laden, was mich echt nervt, weil bei imagesheck immer nur eines zur Zeit hoch geladen werden kann.. Naja, aber das ist nebensache.
    Ich denke heute gegen 14 h wird es wieder eine FS geben, ansonsten erst heute abend..
    Morgen Abend komme ich gar nicht dazu, weil ich mal wieder unterwegs gehe..;)


    Bis dann,


    eure Baby2oo4


  • "Aber Sussex war weit weg".
    "Deshalb kam ich gar nicht auf den Gedanken, dass ich an diesem Abend jemandem begegnen könnte. Ich spazierte am Wald vorbei zum Weg und blieb am alten Tor der Abtei stehen, unterhalb des Refektoriums. Es begann schon zu dämmern, und alles war so friedlich dort, man konnte sich kaum vorstellen, dass Krieg herrschte. Ich versuchte es, denn die Flugzeuge flogen über einen hinweg, und sie kamen am nächsten Tag nicht alleine zurück ..."
    "Und da hörtest du Schritte?!"





    "Ja, sie kamen vom Haus. Ich drehte mich um und sah einen jungen Mann. Er stand vor der Tür des Refektoriums und blickte zum Himmel hinauf. Er war sehr groß und hatte blonde Haare. Ich glaube, er hat mich erst gar nicht bemerkt und schreckte dann auf. Als er sich mir zuwandte, sah ich, dass er ganz ungewöhnliche Augen hatte - noch nie hatte ich so dunkelblaue Augen gesehen. Wir schauten uns an, und ..."





    "Es war Liebe auf den ersten Blick."
    "Ja, schon möglich", sagt Stella, und ich höre das Lächeln in ihrer Stimme, als ich einschlummere. "Jedenfalls etwas Wunderbares und Magisches. Etwas, das ich noch nie zuvor erlebt hatte - obwohl ich durch meine Bücher natürlich darauf vorbereitet war. Schläfst du, Maisie?"





    Ich höre die Frage noch, kann sie aber nicht mehr beantworten. Während ich in dieser Strömung dahintreibe, höre ich, wie die Tür sachte geschlossen wird. Ich träume von einer Sommernacht während des Krieges. Ich höre Daddys Schritte auf dem Kies, und das ist alles so real, das ich aufstehe, um ihn zu begrüßen. Ich tappe zum Fenster und schiebe die Vorhänge beiseite, denn er muss ja ganz in der Nähe sein. Doch dann verfliegt dieser Traum wie so oft, ich höre Musik und träume von meinen Schwestern: die drei jungen Männer und sie schlafen noch nicht in dieser Sommernacht. Ich träume von Zigarettenglühwürmchen und Wein, der in Gläser fließt. Ich träume von meiner Schwester Finn, die einen Zauberspruch spricht. Sie sagt: Der Strom des Lebens, der Strom des Lebens. Jemand - ist es Dan? - hört den Zauberspruch, steht auf und beginnt zu tanzen. Nach und nach stehen auch die anderen auf und tanzen zu der Musik im Mondlicht. Die drei jungen Männer nehmen meine Schwestern zwischen sich, und deren Kleider schimmern hell wie Silberfäden in einem dunklen Gewebe. Ich rolle mich am Fenster ein. Musik bauchst die Vorhänge auf; das Mondlicht glitzert wie ein Messer.






    Punkt halb Vier wache ich auf. Die Luft ist kühl, der Fußboden kalt, und im Zimmer wimmelt es von Schatten. Der Hof ist leer, die Musik verstummt; ich strecke mich, meine Glieder fühlen sich steif und alt an. Die Schatten im Zimmer sind sehr dunkel, und ich könnte mich vor ihnen fürchten.





    Ich beschließe zu Finn zu gehen, die mich nachts immer zu sich nimmt und beschützt. Die Abtei ächzt und seufzt in der Nacht, aber ich sage mir, dass Schlaflosigkeit auch ihre Vorteile hat: Das ganze Haus ist dunkel und steht einzig und allein mir zur Verfügung. Jetzt ist Nachtwache. Ich kann überall hingehen und alles sehen. Warum soll ich mich vor Geistern fürchten, wenn ich selbst ein Geist bin?
    Ich trete hinaus auf den Korridor. Es gibt sieben Treppen in diesem Haus, eine für jeden Wochentag.
    Unten beten die Nonnen, und eine Uhr tickt.





    Zuerst statte ich Julia einen Besuch ab. Wir drei Schwestern haben unsere Zimmer auf demselben Flur. Ich bin so leise wie ein Mäuschen; nicht eine Diele knarrt. Vorsichtig schiebe ich dir Tür zu Julias Zimmer auf - was für ein Durcheinander hier herrscht! Das Mondlicht erleuchtet den Raum - Julia zieht nie die Vorhänge vor. Sie räumt auch nie ihre Kleider in den Schrank; da liegen sie alle im silbrigen Mondlicht, ihre Blumenkind-Fähnchen, die sie hastig abgestreift und fallen lassen hat wie seidige Haut. Ich rieche ihr Lieblingsparfum, L´heure bleu, aber noch ein anderer Geruch hängt im Zimmer, der mich an Weihrauch erinnert. Es ist ein heimlicher Geruch von etwas, das sie raucht, das sie aus Kalifornien mitgebracht hat. Den Stoff, den sie vor Stella versteckt und über den sie mir nichts erzählen will, hat magische Kräfte: Man kann damit auf Reisen gehen, sagt meine Schwester.





    Ich schleiche mich zu ihrem Frisiertisch und sehe Maisie im Spiegel, was mich erschreckt. Auf dem breiten Bett bewegt sich Julia zwischen ihren zerwühlten Laken.
    Ich schaue sie an. Sie hat die Laken weggeschoben. Sie ist nackt, und im Mondlicht wirkt sie wie eine Marmorstatue. Ich betrachte ihre schön geschwungenen Hüften, ihre runden festen Brüste. Ihr Haar glitzert wie helles Gold. Ihre Mähne ergießt sich über das Kissen, eine Strähne haftet an Julias Hals - ihr Haar ist lang und üppig. Ihr Gesicht wirkt fein und still im Schlaf. Ich würde beinahe alles dafür geben, so auszusehen wie Julia und zu wissen, was sie weiß.


  • Ich ziehe vorsichtig an der rechten Schublade des Frisiertisches. Strümpfe mit Spitze, hauchdünne Unterwäsche - wer bezahlt diese Sachen, die sie sich in letzter Zeit angeschafft hat? Weiße Spitze, schwarze Spitze - darunter, wie beim letzten Mal, als ich nachgesehen habe, ihre Anti-Baby-Pillen. Und die weiße muschelförmige Plastikbox mit ihrem Diaphragma, das sie in einer Spezialklinik in London entstanden hat, weil unser Dorfarzt - Dr. Marlow, Nicks Vater - unverheirateten Frauen keine Verhütungsmittel verschreibt. Julia hat mit diesem Ding angegeben, als sie noch in Cambridge war, aber jetzt braucht sie es nicht mehr. Ich zähle die kleinen Pillen: Montag, Dienstag, Mittwoch. Ja, sie hat keine vergessen, was ich auch nicht erwartet hatte. Julia gibt auf sich Acht. Julia ist eine Göttin - Venus toute entiére, nennt Dan sie, und ich glaube, das ist nicht als Kompliment gemeint -, aber die Göttin ist ein vernünftiges Mädchen.





    Finn ist die Hitzköpfige, Leichtsinnige von uns dreien - was den meisten Leuten nicht auffallen würde, weil sie so verschlossen und zurückhaltend wirkt. Jetzt schleiche ich mich zu Finns Zimmer und öffne die Tür noch behutsamer - im Gegensatz zu Julia hat Finn einen leichten Schlaf. Selbst im Traum ist sie achtsam und nimmt das leiseste Geräusch wahr.





    Dieses Zimmer, vom Mondlicht erhellt, ist tadellos ordentlich und spartanisch eingerichtet; meine Nonnen würden es gut heißen. Ein Läufer auf dem Boden, Bücherregale an den Wänden, ein kleiner Spiegel, ein Frisiertisch, auf dem Nichts steht. Es riecht nach frischer Luft; das Fenster steht weit offen, die Vorhänge wehen im Wind wie Gespenster. Die Laken auf dem Bett sind sorgfältig zurechtgezogen, und das Bett ist leer. Wo ist meine Schwester Finn um Vier Uhr nachts?





    "Wo?", sage ich laut und erschrecke am Klang meiner Stimme. Wo, wo - ich muss sie finden. Ich schleiche zum Ende des Korridors, gehe eine Treppe hinunter und eine andere hinauf, durch einen Vorraum hinaus in den Hof. Großvater hat ein regelrechtes Labyrinth geschaffen, als er das Haus renovierte: Man überquert einen Treppenabsatz und landet in einer anderen Zeit. Ich bin im Mittelalter, dann in der Neuzeit. Die Rohre knacken, die Nonnen eilen lautlos an mir vorüber. In ihrer Zelle sinkt meine Mutter Oberin auf die Knie. Wo ist sie, Maisie? Wo ist deine Schwester?, fragt sie. Ich hole mir einen Stuhl, den ich brauchen werde, weil ich noch nicht groß genug bin zum Spionieren. Ich öffne eine Tür, die aussieht, als gehöre sie zu einem Schrank, und trete in den verborgenen Korridor, die geheime Welt der Abtei.





    Ich rücke den Stuhl zurecht, steige darauf und spähe durch die kleine rechteckige Öffnung. Es ist raffiniert, dieses Hagioskop, ein architektonisches und religiöses Mysterium. Es gibt noch andere ihrer Art, doch man findet sie für gewöhnlich im Querschiff von Kirchen, wo sie den Blick auf den Altar im Längsschiff ermöglichen. Aber in einem Kloster, und in Gegenrichtung zum Alter? Das ist ziemlich sonderbar. Ich weiß nur, dass diese Öffnung im fünfzehnten Jahrhuntert angebracht wurde, als das Kloster schon zweihundert Jahre alt war - und Isabella meint, es bräche ihr das Herz. Aus unbekannten Gründen fand offenbar jemand Gefallen daran, die Nonnen beim Gebet zu beobachten. Der Spion muss jedenfalls groß gewesen sein, denn das Hagioskop befindet sich 1,88m über dem Boden - das weiß ich, weil ich nachgemessen habe.





    Ich spähe vorsichtig durch den Spalt. Zuerst sehe ich nur schwarz. Am Ende des schmalen Schachts erkenne ich die einstige Marienkapelle, die jetzt als Bibliothek genutzt wird. Die Nonnen sind nicht da. Ich sehe die Lampe auf dem indischen Tisch und den Löwenfellläufer. Auf dem Sofa liegt mein Großvater im Tiefschlaf, neben sich eine halbleere Whyskiflasche - die Aussicht auf einen Besuch in seinen einstigen Elternhaus hat wieder einmal ihren Tribut gefordert. Ich hatte gedacht, meine Schwester sei vielleicht bei Großvater und versuche ihn aufzuheitern ... Fehlanzeige. Ich spähe angestrengt in den Schacht, kann Finn aber nirgendwo entdecken.





    In der Küche ist sie nicht, auch nicht im Salon, im Esszimmer, der Spülküche, der Speisekammer oder der Eingangshalle. Ich husche die Hintertreppe hoch zu dem Korridor, in dem Dan´s Zimmer liegt. Die Tür zu seinem Zimmer wage ich nicht zu öffnen, aber ich horche daran. Du bist aber schrecklich neugierig, Maisie, hat Dan einmal gesagt, als er mich beim spionieren ertappt hat. Ich habe mir eine Entgegnung gespart. Ich bin das Mädchen in der Ecke, um das sich alle Sorgen machen und das auch alle übersehen. Mir erzählt keiner etwas. Wenn ich nicht gelegentlich spionieren würde, wüsste ich rein gar nichts. Ich lebe in einem Irrgarten der Ahnungslosigkeit - Maisies Irrgarten - und finde das abscheulich. Ich muss bescheid wissen, was hier geschieht.
    Dan schläft. Ich lausche liebevoll seinen Atemzügen. Er ist allein, und er schläft, daran gibt es keinen Zweifel. Hier ist Finn auch nicht.





    Ich husche wieder nach unten und laufe in die kühle Nacht hinaus. Suche im Kreuzgang und in der Birkenallee. Dann schleiche ich an den Eiben vorbei zum Refektorium hinüber, aber Lucas scheint heute Nacht nicht zu arbeiten, nirgendwo Licht hinter den Läden und keinerlei Geräusch. An den Eiben vorbei haste ich wieder zurück zum Haus. Der Mond ist hinter einer Wolke verschwunden, und die Dunkelheit macht mir Angst.


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    WO mag Finn wohl sein?
    Das erfahrt ihr heute abend auch noch...

  • Habt ihr überhaupt Interesse daran, zu erfahren wo Finn ist? Habt ihr überhaupt Interesse an meiner FS.
    Ich habe extra alles wieder so gut wie möglich aufgebaut und keiner sagt was, bis auf einer..ich find das ganz schön traurig!


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    Verzweiflung lauert in all den Schatten. Sie scheinen mich zu sich zu rufen: Hierher Maisie, rufen sie, komm zu uns. Die Steinplatten im Kreuzgang sind eiskalt an meinen bloßen Füßen, und ich muss an die Toten denken, an all die vielen Toten - die Nonnen aus mehreren Jahrhunderten, die Pächter, die hier lebten, Väter und Töchter, Mütter und Söhne -, all diese Toten, die bis in alle Ewigkeit in der Erde liegen müssen.
    Hierher, Maisie, raunen sie und strecken die Arme nach mir aus. Aber ich werde mich nicht zu ihnen legen. Es muss kalt sein dort unten und dunkel. Niemals mehr die Sonne sehen, niemals mehr atmen. Oder zu Staub verfallen wie Daddy. Die Vorstellung erfüllt mich mit Grauen.
    Ich haste zurück zum Haus, wo ich mich sicherer fühle, und warte dort.





    Isabella leistet mir Gesellschaft. Sie legt mir ihren Umhang über die Schultern und wärmt mir die Hände. Benedicte, raunt sie, spricht ihren Segen für mich. Gegen fünf Uhr geht die Sonne auf und wärmt mich mit ihren Strahlen, und die Vögel beginnen zu zwitschern. Die Nachtigall im Nun Wood singt ihre Lieder. Die Rosen verströmen einen stärkeren Duft. Ein Fuchs bellt. Wenn die Sonne höher am Himmel steht, werden die Knospen der Rosen aufblühen.


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    So, mehr gibt es für heute nicht. In der nächsten FS erfahrt ihr dann wo Finn ist bzw war. Aber erstmal möchte ich mal ein paar Meinungen hören. Ich hab das Gefühl ich schreib nur für mich.

  • Zitat von BaBy2oo4

    Habt ihr überhaupt Interesse daran, zu erfahren wo Finn ist? Habt ihr überhaupt Interesse an meiner FS.
    Ich habe extra alles wieder so gut wie möglich aufgebaut und keiner sagt was, bis auf einer..ich find das ganz schön traurig!


    Trauriger finde ich es allerdings, dass hier viele Leute dermaßen ungeduldig sind und nach ein paar Stunden, in denen noch keiner einen Kommentar abgegeben hat, sofort rumspammt und drängelt! Das ist hier nicht erwünscht und auch total unnötig! Wie viele Leute deine FS lesen kannst du auf der Fotostoryforumsseite in der Spalte "Hits" sehen. Die Qualität richtet sich nicht nach Kommentaren! Und außerdem können wir auf Spams á la "Dein FS ist sooooooooo tollLLL!!!!!!!!!!!!!!!!111" gut verzichten.


    L.G.
    Glouryian

    [center][SIZE=1]*~*Auch wenn mein Herze stirbt, so stirbt doch nie die Liebe zur Musik.*~*[/SIZE]
    [/center]

  • Auch ohne Kommis, hier noch mehr Fortsetzungen!
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    Um sechs Uhr, zur Stunde des Laudes, beginnen die Nonnen mit ihren Morgengebeten. Quicumque vult salvus esse, raunen sie. Um viertel nach Sechs, als sie gerade mit der Eucharistie anfangen wollen, höre ich auf dem Weg zum Refektorium leise verstohlene Schritte. Ich weiche zurück. Ein bleicher Schatten nähert sich. Ich sehe solche Sünder des öfteren, diese Schatten, die zum Morgengebet angeschlichen kommen. Das Phantom bemerkt mich nicht; es verharrt im Kreuzgang und beobachtet das Klostergebäude mit seinen 21 Augen. Es ist eine Frau, und sie ist barfuß, trägt ihre Schuhe in der Hand. Sie blickt sich um, zögert, wandert auf und ab und läuft dann, als habe sie einen Entschluß gefasst, blitzschnell ins Innere. Ich folge ihr und spreche sie in der Halle an. Da sehe ich, dass es sich bei dem Phantom um meine Schwester Finn handelt. Ich habe sie furchtbar erschreckt, und sie ruft aus:"Wer ist da?"





    Sie hat Angst. Sie fährt herum und starrt mich an. Ich starre zurück. Ich habe mir einen vorwurfsvollen Satz zurechtgelegt - aber als ich sie aus der Nähe sehe, behalte ich ihn für mich. Finn sieht erschrocken und verstört aus. Sie ist totenbleich und atmet hastig. Die kleinen roten Blumen auf ihrem Kleid wirken in diesem Licht unwirklich, als sei meine Schwester mit Blutspritzern übersäht. Das schöne Kleid ist zerknittert, der Saum eingerissen. Finns bezaubernes Haar ist zerzaust, und ich sehe an ihrem Hals einen schwarzvioletten Bluterguß, so groß wie ein Daumen. Wir blicken uns schweigend an. Ich will meiner Schwester viele Fragen stellen, doch ich bleibe stumm. Es hat ja doch keinen Sinn, zu fragen. Einige Antworten kann ich ihr sowieso an den Augen ablesen: Sie war bei Lucas - und er hat sie nicht gemalt. Lucas ist ein sonderbarer Mann, der zu vielem im Stande ist, aber auch er kann nicht im Dunkeln malen.





    So viel weiß ich jedenfalls - aber ich kann wenig damit anfangen. Etwas ist geschehen, und ich bleibe davon ausgeschlossen. Selbst wenn Finn es mir erzählen würde - die Worte würden mir nicht viel sagen. Denn sie befindet sich in einem weit entfernten Land, dessen Sprache ich nicht verstehe.
    "O Finn, und wenn Dan es erfährt?" Diesen Satz kann ich nicht für mich behalten, und ich warte auf die Vergeltung, auf Finns Zorn. Sie hasst es, wenn man ihr nachspioniert und sie aushorcht. Das wird sie mir nie verzeihen. Ich weiche zurück, doch zu meinem Erstaunen wird sie nicht wütend. Sie stößt stattdessen einen merkwürdigen Seufzer aus, sinkt auf die Knie und zieht mich an sich. Sie hält mich ganz fest. Dann blickte sie zu mir auf, und ihr bleiches Gesicht wirkt verändert. "O Maisie, ich bin so glücklich", flüstert sie. "Und ich fühle mich elend und habe Angst."





    Ich blicke sie zweifelnd an. Es ist sinnlos, sie um eine Erklärung zu bitten; ich würde sie ja doch nicht verstehen. Sie rappelt sich wieder auf und packt mich am Arm. "Versprich mir, dass du niemandem etwas davon sagst", flüstert sie. "Du mußt es mir hoch und heilig versprechen, Maisie. Gib mir deine Hand drauf." Wir reichen uns die Hand, und ich verspreche es. Ich würde Finn niemals verraten, dass weiß sie. Dennoch gelobe ich ewiges Schweigen.





    Finn umarmt mich und gibt mir einen Kuss. Sie zittert, und ich merke, dass sie unter dem dünnen Kleid nackt ist. Sie wirkt strahlend, und doch stehen ihr Tränen in den Augen. Sie wiegt mich in den Armen wie damals, als wir zum ersten Mal hierher kamen, als ich Daddy so sehr vermisste und die Albträume schlimm waren. Dann läßt sie mich unvermittelt los. Ich warte darauf, dass sie mich weiter tröstet, mich zu sich in ihr Bett nimmt - aber heute Nacht ist sie zusehr mit sich selbst beschäftigt und vergißt mich. Ich bin unsichtbar für meine Schwester; ein einsames Kind. Sie scheint irgendetwas vor ihrem geistigen Auge zu sehen, eine Geste, eine Berührung, und ihre Miene verändert sich. Dann wendet sie sich ab und eilt leichtfüßig und lautlos wie ein Geist die Treppe hinauf.





    Ich stehe in der Halle auf den Fliesen, die aussehen wie ein Schachbrett, neben der alten Standuhr mit den Gewichten und dem Pendel. Ich spüre, dass irgendetwas Gewaltiges geschehen ist. Die Uhr tickt, jede Viertelstunde schlägt sie. In fünf Stunden fahren wir los nach Elde.

  • Kapitel 6:
    Die Stimmen der Ahnen!





    Vor der Abfahrt versammelten wir uns am Esszimmertisch zum alljährlichen Kriegsrat. Ich habe Schmerzen im Unterleib; vor dem Frühstück fingen sie an, und obwohl ich nichts gegessen habe, lassen sie nicht nach. Zuerst fand ich sie vielversprechend, doch ich wurde enttäuscht. Ich war dreimal in meinem Zimmer und habe nachgeschaut. Saubere Unterwäsche, kein Tröpfchen Blut. Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Was ist mit mir los? Wen kann ich fragen?






    Meine Nonnen sind aufgeregt; sie machen sich Sorgen wegen Finn und wegen Elde - eine Seele ist bedroht, Sünde liegt in der Luft. Als ich wieder runtergehe, ist es neun, Zeit für die Terz. Ich höre Psalmen - nicht einmal Julia kann sie überhören, obwohl sie sich darum bemüht. Sie ist gerade erst aufgestanden, viel später als alle anderen. Während sie in der Wanne liegt, hört sie Grateful Dead.





    "Mach, um Himmels Willen, die Tür zu, Maisie, der Krach ist unerträglich", schreit Großvater, als ich ins Esszimmer komme. Er hat wieder seinen Kater, wie jedes Jahr - Großvater sitzt am einen Ende des Tischs, Stella am anderen. Sie trägt das weiße Kleid, das mein Vater ihr kurz vor seinem Tod geschenkt hat. Es ist zwölf Jahre alt. "Das Kleid steht dir gut, Stella", sagt Großvater jedes Mal, wenn sie es trägt. Das stimmt warscheinlich, denn Stella sieht darin nicht wie meine Mutter aus, sondern wie ein hübsches, fröhliches, zuversichtliches Mädchen.





    Ich setze mich an meinen Platz gegenüber von Großvater und Finn. Finn blickt ins Leere. Dieses alljährliche Ritual ist ihr zuwider, und sie hat sich schon ausgeklinkt. Ich versuche das auch. Versenkt das Schiff, Meister Kanonier, reklamiere ich stumm. Versenkt es, schlagt´s entzwei! Lieber Gott als Spanien fallen wir anheim... Es ist ein ergreifendes Gedicht, doch heute hilft es mir nicht. Ich versuche es mit anderen Methoden. Ich versuche mir vorzustellen, wie dieses Kloster aussah, als es erbaut wurde, als Isabella ihren Steinmetzen bei der Arbeit zusah, als das Gebäude noch dem Gebet geweiht war.





    Es wird mir ein Rätsel bleiben, warum Großvater bei der Restauration des Gebäudes so grob und unsinnig vorgegangen ist. Was hat er sich zum Beispiel bei der Gestaltung des Esszimmers gedacht? Er hat die Marienkapelle ruiniert, indem er auf halber Höhe eine Decke einziehen ließ und damit die perfekte Proportion des heiligen Raums zerstörte. Die Decke besteht aus billigen Balken und Gewölbekappen mit dem Wappen der Mortlands. Der ganze Raum ist abscheulich. Auch die leichtenen Fenster der Marienkapelle, eine der Schönheiten der Abtei, sind dieser Maßnahme zum Opfer gefallen, denn man sieht sie durch die eingefügte Decke nur noch zur Hälfte. Man hört ein Rauschen in den Rohren - Julia lässt das Wasser aus der Wanne. Es gluckert in den uralten Bleirohren; einige Tropfen fallen in einer Ecke des Esszimmers in einen bereitstehenden Eimer, denn dort ist der Putz aufgeplatzt.





    Großvater stöhnt. "Seht ihr?", sagt er. "Seht ihr? Wenn wir die Rohre und das Dach nicht bald reparieren lassen, was meint ihr, was dann passiert? Alles wird runterkommen. Hausschwamm, Klopfkäfer - wer weiß, was da oben alles ist. Das werde ich Humphrey klar machen. Und Violet. So kann es nicht weitergehen. Ich werde mich deutlich ausdrücken. Ich verlange ja nur Gerechtigkeit. Ich meine, drei Minuten. Drei Minuten! Ist das gerecht, frage ich euch?"





    So geht es immer los. Der alljährliche Kriegsrat besteht aus zwei Teilen. Erst werden die alten Kümmernisse aufgelistet. Wenn wir dieses vielfach zitierte Ungemach hinter uns haben, können wir endlich die Strategie für dieses Jahr erörtern. Großvaters Kümmernisse sind schon uralt. Sie begannen sozusagen mit seiner Geburt, die am 24. Juli 1895 im blauen Schlafzimmer auf Elde stattfand. Es war eine leichte Geburt für seine Mutter, die nur wenige Stunden dauerte. Genau um 12Uhr Mittags kam ein gesunder prächtiger Junge zur Welt. Zwei Minuten nach 12Uhr, als die Hebamme gerade den Sohn und Erben der Familie mit einer Decke umhüllte, empfand die Mutter widerum sonderbare Schmerzen. Sie hielt sich den Bauch und stöhnte. Große Verblüffung! Das Neugeborene wurde hastig einem Hausmädchen gereicht; die Hebamme beugte sich über die Mutter und stieß einen überraschenden Schrei aus. Eine Minute später, genau drei Minuten nach 12Uhr, erblickte das zweite Baby das Licht der Welt.






    Dieses zweite Baby, auch ein gesunder prächtiger Junge, war mein Großvater. Eineiige Zwillinge, die einander zum verwechseln ähnlich sagen. Es gab nur einen kleinen Unterschied zwischen ihnen, der jedoch dem Augen des Betrachters verborgen blieb. Der erste Junge, Humphrey, erbte Elde, das Anwesen, und das gesamte dazugehörige Vermögen. Der drei Minuten jüngere Sohn, Henry, dagegen hatte die ungewisse Zukunft des zweitgeborenen vor sich.


  • Henry alias Großvater akzeptierte das. Er vergißt in seiner Ballade nie, zu erwähnen, dass er seinem drei Minuten älteren Bruder Humphrey sehr zugetan war, als Kind wie als Mann. Darüber läßt er sich jedesmal ausführlich aus, und ich glaube ihm auch. Großvater ist nicht materialistisch eingestellt. Er ist gütig und großzügig und denkt von keinem Menschen schlecht - mit Ausnahme von Humphreys Frau, Lady Violet, auch genannt >>Die Schlange<<.





    1914, bei Kriegsausbruch, meldeten sich beide Brüder freiwillig. Sie waren damals 19 Jahre und dienten beide als Offiziere beim selben Regiment. Humphrey, der schon immer sein eigenes Wohl im Auge hatte, wurde als Adjutant dem Generalstab zugeteilt und bekam die Front nie zu Gesicht. Großvater dagegen war zuerst in Ypern stationiert, danach an der Sommes. Ich weiß Bescheid über die Kämpfe, aber ich weiß nicht, was Großvater dort widerfahren ist, denn er weigert sich, darüber zu sprechen. Ich weiß nur, dass er ein anderer war, als er 1918 aus dem Krieg heimkehrte. Er kam nach Elde und verbrannte als Erstes seine Uniformen, und zwar öffentlich.






    Er richtete einen stattlichen Scheiterhaufen auf dem großen Rasen vor Elde und übergoss jede einzelne seiner Uniformen mit Kerosin. Sie brannten stundenlang. Die Familie war bereit, sein merkwürdiges Verhalten zu dulden, aber im Dorf hätte man leicht flasche Rückschlüsse ziehen können aus dieser Sache; deshalb bestach man die Dienstboten, damit sie Stillschweigen bewahrten. Die Eltern waren beunruhigt über ihren jüngeren Sohn, und nach einigen Monaten, in denen es immer wieder zu Spannungen gekommen war, musste der Vater feststellen, dass Henry offenbar nicht gut zurechtkam im Leben. Die üblichen Berufswege blieben ihm verschlossen. Die Kirche kam nicht in Frage, denn Großvater weigerte sich, am Morgengebet in der Familienkapelle teilzunehmen. An dieser Haltung hat sich seither nichts verändert: Außer bei Hochzeiten und Beerdigungen hat Großvater seit 1918 keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt. Die Armee kam natürlich nicht in Frage, und auch der öffentliche Dienst, das Außenministerium, eine Stellung in der Kolonialverwaltung, selbst in entlegensten Ecken der Welt, wirkten nicht allzu vielversprechend. Großvater legte keinen Wert darauf, König und Vaterland in irgendeiner Weise zu dienen, und es gab noch ein anderes Problem: "Kein Verstand, wißt ihr", pflegt Großvater an dieser Stelle immer zu betonen. "Humphrey hat alles abbekommen. Ich hab keinen Verstand, kann mir nichts merken und bin ein hoffnungsloser Fall in Prüfungen."





    Zu guter Letzt zeichnete sich eine Lösung ab: Land. Außer Elde befanden sich noch diverse kleinere Anwesen mit schönen Häusern in East Anglia im Besitz der Familie, die für einen Mann seines Standes geeignet waren. Man unterbreitete Großvater diesen Vorschlag, und er fand Gefallen an der Vorstellung, Gutsbesitzer zu sein. Er begann sich damit zu bechäftigen und las Bücher über Fruchtwechselmethoden im 18. Jahrhundert, eigenartige Gemüsesorten, seltene Hühnerarten und Jersey-Kühe.





    Nur die Anwesen, die man ihm anbot, gefielen ihm nicht; er wünschte sich die Abtei in Wykenfield, was bei seinem Vater nachhaltiges Erstaunen und bei seinem Bruder große Erleichterung auslöste. Das Gebäude war halb verfallen, zum Kloster gehörten nur zwei Pachtfarmen und vierhundert Morgen Land - doch Großvater war ganz versessen auf genau dieses Anwesen. Er liebte die Landschaft und fand, dass man dort das Herz Englands schlagen hörte. Der Boden bestand aus Geschiebelehm, doch Großvater war der Überzeugung, dass er ihn mit der richtigen Methode fruchtbar machen konnte. Und was die Abtei anging - an diesem Punkt blickt Großvater immer stolz zu der hässlichen Zwischendecke hinauf -, so sah er im Gegensatz zu seiner Familie genau, was man daraus machen konnte.





    Außerdem hatte es ihn schon zu diesem Ort gezogen, seit er in einem Sommer vor dem Krieg einmal eine Radtour dorthin gemacht hatte. Er schätzte die Tatsache, dass die Abtei Teil der Familiengeschichte war. Die Verbindungen zwischen den Mortlands und Isabella und die Veränderung ihres Familiennamens von >>de Morlaix<< zu >>Mortland<< konnten zwar nie ganz geklärt werden, doch Großvater ist überzeugt, dass Isabella eine seiner Vorfahrinnen ist. Nicht direkt natürlich, da sie ja Nonne war, doch womöglich über ihre Brüder. Und ob sie nun mit ihm verwandt war oder nicht - Großvater hörte jedenfalls ihre Stimme, als er im Frühjahr 1919 das Anwesen besichtigte.





    "Und ich hatte keine meiner Halluzinationen", sagt er immer, wenn er zu dieser dramatischen Stelle der Geschichte kommt. "Ich gebe ja zu, dass das manchmal vorkam - nicht nur bei mir, auch bei anderen Männern -, aber das war etwas anderes. Ich stand auf der Holyspring-Wiese, schaute ins Tal hinunter und hörte Isabellas Stimme. Ich hörte sie ganz deutlich - und sie war wunderschön."
    "Was hat sie gesagt, Großvater?", frage ich hier immer.
    "Sie sagte: Henry Mortland, dies ist der Ort, der für dich bestimmt ist oder so ähnlich. Den genauen Wortlaut habe ich vergessen, aber das war die Aussage ..."
    "Aber woher wußtest du, dass es Isabella war? Hat sie es gesagt? Oder hast du sie gesehen?"
    "Nun ja, nicht direkt. Ich habe sie eher gespürt. Derlei Dinge kann man nicht so genau beschreiben, Maisie."
    "Was hatte sie an? Ihre Nonnentracht? Trug sie einen Schleier? Hast du dich gefürchtet?"
    "Ganz und gar nicht. Ich war die ganze Zeit ruhig und compos mentis. Und merkwürdiger Weise bin ich recht sicher, dass sie ganz in blau gekleidet war."

  • Hi Baby2004,
    normalerweise schreibe ich in FS nicht (für mich) so kurz hintereinander, aber ich mache mal eine Ausnahme :augzu . Bei der Menge an Fortsetzung... WOW erstmal dazu.
    Nachdem Du gelüftet hast wo Finn war, bin ich jetzt noch ein bisschen gespannter, als vorher, wenngleich ich auch das Gefühl habe, dass die Auflösung bzgl. der Kristallkugel noch auf sich warten lassen wird.
    Finn ist mit... Dan zusammen? Bisher dachte ich (fast) die drei Schwestern und die drei jungen Männer ergeben drei Pärchen, es fühlte sich zumindest so an. Oder war das bisher so? Mir ist dabei aufgefallen dass ich, trotz des Detaireichtums aus Maisies Erzählungen, kaum etwas über die nicht-familliären Beziehungen der "Bewohner" weiß :( . Aber vielleicht ändert sich das begleitend zu dem, was "mit Finn ist".
    Der Titel scheint mir inzwischen mehr als doppeldeutig :kopfkratz . Erst ein Geheimnis, dass die Nonnen im Kloster nicht zur Ruhe zu kommen lassen scheint. Dann diese "zufällige Begegnung" mit Stella und Maisies Vater (by the way, Stella ist Maisies Mutter? Sie nennt sie immer beim Namen, in der ersten Folge dachte ich noch sie sei das Kindermädchen, dass mit am Tisch sitzt). Nun noch die Sache mit Finn...

    Auch wenn ich nicht jede Folge kommentiere, die Du schreibst, lesen werde ich sie auf jeden Fall :up . Ich kann mir nur nicht jedes mal die Zeit (und Muße) für einen Kommi nehmen, da meine Frühstückpause (eigendlich) begrenzt ist und ich auch nicht unbedachten "Mist" fabrizieren möchte :rollauge .
    Liebe Grüße, cassio

    [RIGHT][SIZE=1]'...sometimes it's cruel to be kind!'[/SIZE][/RIGHT]

  • Wow, danke Cassio, ja das dachte ich am Anfang auch, also das Stella halt Stella ist, ich habe nicht schlecht geschaut, als ich gelesen hatte, das sie Maisie´s Mutter ist..
    Aber es wird sich noch alles aufklären. Soo, ich glaube ich habe wieder ein riesen problem..kann man eigentlich mehr als 8 Personen auf ein Grundstück wohnen lassen? Mit nem Cheat oder so? Weil...wenn die jetzt zu acht nach Elde fahren, dann kommen wieder 2 Personen mehr dazu..oh oh...





    Wir sind nun an diesem Punkt der Familiengeschichte angelangt, und Großvater blickt mich erwartungsvoll an. Er geht davon aus, dass ich wie üblich meine kindischen Fragen stelle, was ihm immer Spaß gemacht hat. Ich möchte ihn nicht enttäuschen, das tut mir weh, aber ich kann diesmal einfach nicht nach Isabella fragen oder ihrer Stimme oder dem eigenartigen Erlebnis auf der Holyspring-Wiese. Ich bin außerstande dazu, weil ich nicht mehr daran glaube. Inzwischen bin ich nämlich überzeugt davon, dass die Geschichte nicht wahr ist. Isabella spricht zu mir, aber Großvater ist sie nie erschienen. An die ahnungslose Hebamme glaube ich auch nicht, und wenn der aalglatte Humphrey diese Sache mit den drei Minuten Vorsprung nicht bestätigt hätte, würde ich auch das für Humbug halten, für pure Erfindung. Ich bin nämlich nicht die einzige in der Familie, die eine Begabung hat fürs Geschichtenerzählen - die anderen können das auch. Erfundene Geschichten bekommt man vorgesetzt, von früh bis spät.





    Und im Gegensatz zu meinen Geschichten sind die ihren nur Lug und Trug, Augenwischerei. Sie wollen damit die Wahrheit verdecken; ich dagegen will ie offenbaren. Meine Familie will die Risse in der Wand zukleistern, und dabei stellen sich alle auch noch dumm an. Die reine Vergeudung von gutem Material. Wenn ich Lucas von der Stimme auf der Holyspring-Wiese erzähle - und ich beschließe, das möglichst bald zutun -, dann werde ich etwas darauf machen. Ich weiß nämlich genau, wie sich Isabella anhört und welche Kleider sie trägt. Und den Zeitpunkt kann man auch noch verbessern: Die Szene wird sich nicht an einem Nachmittag im Frühling abspielen. Mondlicht wäre viel passender. Oder vielleicht das Zwielicht eines Sommerabends.





    Armer Großvater. Arme Stella. Sie ist als nächstes dran und erzählt noch schlechter als er. Meine Gutenachtgeschichten geraten ihr inzwischen flüssig und spannend, aber dafür mußte ich sie lang trainieren. Sie bringt sonst die Zeiten durcheinander, verheddert sich in Einzelheiten, schweift unentwegt ab; wenn man nicht hartnäckig nachfragt, erfährt man nie, wie die Leute aussehen oder welche Kleider sie tragen - was ich für enorm wichtig halte. Hoffnungslose Fälle, die beiden. Jedenfalls kann man die Mortland-Saga auch in drei Sätzen zusammenfassen, diese wahren Sätze, die zu schmerzhaft sind und deshalb in diesem endlosen Wortgespinst verborgen werden.





    Satz eins: Großvater, ein lieber guter Mensch, ist völlig ahnungslos, was Finanzen betrifft. Was er bei der Renovierung der Gebäude einsparte, weil er billiges Material benutzte, verlor er im Handumdrehen durch die Farmen und an der Börse - seine Investitionen in Amerika waren besonders unsinnig.
    Satz zwei: Mein Vater, der sicher alles ins Lot gebracht hätte, bekam niemals Gelegenheit dazu wegen des Krieges und seiner Tuberkulose, die sich weder durch das Klima von New Mexico noch durch das neueste Wundermedikament, Streptomycin, heilen ließ, auf das Stella und die Klinik große Hoffnungen setzten.
    Satz drei: Stella, tapfere Witwe mit drei Kindern, kann noch schlechter mit Geld umgehen als Großvater und hat überdies keinerlei Menschenkenntnis. Obwohl man seit Jahren das Gegenteil erlebt, ist sie immernoch der Überzeugung, dass Humphrey im Prinzip ein anständiger Mensch ist, der irgendwann Mitleid mit uns haben und uns helfen wird, denn er ist ja ein reicher Mann. Ich blicke auf: Stella ist jetzt an dieser Stelle angelangt.






    Oh, nicht schon wieder, murmelt Julia, die nun in einer Duftwolke hereinschwebt und sich neben der stummen geistesabwesenden Finn niederlässt. Was soll die Träumerei, murrt Julia, und sie hat Recht. Falls Humphrey jemals über Familienverbundenheit, Mitgefühl oder Anstand verfügte, so hat seine Frau, Lady Violet, ihm das alles schon vor Jahren ausgetrieben. Humphrey hat ein gefügiges Gedächtnis: Er hat völlig vergessen, dass er nach dem Tod meines Vaters gelobt hatte, sich um Stella, Julia, Finn und mich zu kümmern. Er hat vergessen, dass Vater immer vorhatte, Großvater zu unterstützen. Die ständige Berieselung mit der Verachtung der Schlange für uns hat derlei Gedanken ertränkt. Nun hat Humphrey die Haltung: Warum Perlen vor die Säue werfen?





    "Ich begreife nicht, weshalb ihr meint, Humphrey soll Geld herausrücken", soll Violet angeblich letztes Jahr gesagt haben. Die Schlange nimmt kein Blatt vor den Mund. "Warum zum Teufel, sollte er wohl? Verkauf das verfluchte Haus, Henry. Weiß der Himmel, weshalb du so verrückt danach bist. Es war dir seit jeher ein Mühlstein am Hals. Und Stella, verzeih bitte, aber denk doch ausnahmsweise einmal praktisch. Such dir einen Job - irgendein wirst du doch wohl finden. Offenbar gibt es da einige Schwierigkeiten, das verstehe ich ja ... aber deine Probleme verschwinden nicht über Nacht, soviel steht fest, und inzwischen kannst du nicht einfach faul herumsitzen und warten, dass Geld von den Bäumen fällt."






    Ich starre auf den Tisch und denke wieder an diese oft zitierte Rede. Mir ist nicht klar, ob die Schlange Recht hatte oder nicht. Und welche Schwierigkeiten meint sie?



  • Die Schlange sprach diese Worte um halb Vier Uhr nachmittags aus, woraufhin die Sitzung ein vorzeitiges Ende nahm. Großvater stand auf und erwiderte: "Violet, ich habe die Hälfte des Landes verkauft, um für Finns und Julias Ausbildung aufzukommen - und etwas für Maisie zurückzulegen, natürlich. Ich habe nur noch das Haus und den Garten. Was würde ich wohl dafür kriegen, wenn ich das morgen verkaufen würde? Eine kümmerliche Rente, mehr nicht. Das werde ich nicht tun. Mein Sohn hat dieses Anwesen geliebt, und seine Kinder werden es erben - mehr kann ich ihnen nicht hinterlassen, aber das sollen sie bekommen. Und im Übrigen ..." Großvater geriet zusehends in Rage. "Im Übrigen solltest du dich schämen wegen deiner Aufforderung an Stella. Stella hat unter schwersten Bedingungen drei Mädchen großgezogen. Sie hat ihnen Liebe, Aufmerksamkeit, Zuwendung gegeben - sie hat den Mädchen ihr Leben geopfert! Sie mußte sparen und sich abrackern. Sie arbeitet immer! Heute morgen, bevor wir aufbrachen, ist Stella um sechs Uhr aufgestanden. Sie hat aufgeräumt, Frühstück gemacht und Geschirr gespült. Sie hat Maisie Englischunterricht gegeben. Sie hat den Hühnerstall sauber gemacht, die Hühner gefüttert, das Gemüse aus dem Garten geholt, den sie selbst angelegt hat, und ein gutes Abendessen zubereitet, das wir bei unserer Rückkehr essen werden ..." Großvater blickte die Schlange erzürnt an. Die Schlange seufzte.





    "Und was hast Du heute Morgen gemacht, Violet?" Mit dieser Frage beschloss Großvater seine Rede mit beißendem Tonfall und vermutlich recht siegesgewiss.
    "Ich habe im Bett gefrühstückt, wie immer, und dann in Ruhe gebadet", antwortete Violet, ohne mit der Wimper zu zucken - wie Julia später anmerkte: Sie hat wirklich keinerlei Schamgefühl. "Dann habe ich mit dem Koch das Mittagessen besprochen und mit dem Gärtner das Problem der Blattläuse auf den Rosen erörtert - wir beschäftigen selbstverständlich auf Elde nur geschultes, gut bezahltes Personal. Danach habe ich mit meinem netten Enkel einen kleinen Spaziergang am See gemacht. Harmlose Tätigkeiten, wie ich finde, Henry. Falls du mir also etwas vorzuhalten hast, dann tu es. Aber wirf doch bitte zuvor einen Blick auf deine eigenen Lebensumstände. Humphrey und ich haben dich ja wiederholt gewarnt, dass deine hartnäckige Weigerung, schmerzhaften Tatsachen ins Auge zu blicken, irgendwann zu einer Tragödie führen wird."





    "Ich weiß, worauf sie hinauswollte", sagt Großvater jetzt, rot vor Wut, und starrt auf den Tisch. "Und ich war nicht bereit, das auf mir sitzen zu lassen. Ich sah sie so wütend an, dass die meisten Frauen unter diesem Blick in die Knie gegangen wären, und sagte: >>Violet, ich begreife einfach nicht, warum Humphrey dich geheiratet hat. Ich werde mir diese bösartigen Vorwürfe und Anspielungen nicht länger anhören. Du bist eine Schlange, Violet, und du hast das Herz dieser Familie vergiftet.<<





    "Enkel? Ich wußte garnicht, dass es auch einen Enkel gibt", sagt eine Stimme an der Tür und unterbricht damit das unbehagliche Schweigen, das nach Großvaters letzten Worten eingetreten ist. Ich drehe mich um und sehe Dan. Er hat ein Notizbuch bei sich und begrüßt alle bis auf Finn. Julia macht er ein Kompliment über ihr Kleid. Er wirft ihr einen unverhohlen bewunderen Blick zu - was sonderbar ist, denn eigentlich kann er Julia nicht ausstehen - und lässt sich auf den Stuhl neben mir nieder, gegenüber von Finn. Er ist der Charme in Person, wie immer dieser Tage, aber ich spüre sofort, dass er wütend ist. Finn blickt nicht auf, sondern starrt auf den Tisch. Ich denke: Er weiß doch wohl nicht, wo Finn letzte Nacht gewesen ist, oder?





    "Ich habe Dan gebeten, diesmal an der Runde teilzunehmen", erklärt Stella rasch, "ich möchte ein paar Vorschläge machen, und ich dachte - wir drehen uns jedes Jahr nur im Kreis, wir machen Pläne, die aber nie umgesetzt werden. Dan gehört ja fast zur Familie, so lange kennen wir uns schon. Er ist fast wie ein Sohn ehrenhalber für mich" - sie lächelt Dan an -, "und es ist sicher hilftreich, auch einmal seinen Standpunkt anzuhören. Er sieht das alles aus einem anderen Blickwinkel ..."





    "Erzähl mir von dem Enkel", sagt der zum Sohn ehrenhalber Ernannte und klappt sein Notizbuch auf. Er kritzelt ein bisschen darin herum und zeichnet dann einen Hasen, der aus einen Zylinder gezogen wird. "Den Rest der Truppe kenn ich schon. Humphrey und die Schlange. Ihr Sohn ist jung gestorben, nicht wahr? Aber der Enkel - ich habe scheinbar vergessen, dass es einen Enkel gab. Der klingt doch vielversprechend. Wie alt ist er?"





    "27", ergreift Julia das Wort. "Und bevor du fragst, Dan, ja er ist verheiratet. Er heißt Edmund, und Humphrey und Violet haben ihn großgezogen. Aber stell dir keinen Mr Darcy vor, sondern einen fetten Idioten mit drei Gehirnzellen - das kommt etwa hin".





    "Julia, bitte", wirft Großvater ein. "Er hat Eton, Christ Church und das Royal Agricultural College im Rücken ... >>Idiot<< ist wohl kaum der richtige Ausdruck für ihn."


  • "Na gut, dann eben Ekelpaket", erwidert Julia. "Ein Ekelpaket, das Oxford nur seinen Verbinungen verdankt und mit Mühe und Not den Abschluss gemacht hat. Ein Ekelpaket, das vor vier Jahren einen Teil seines Erbes antrat und, ohne einen Finger zu rühren, 200.000 pro Jahr einstreicht. Violets Augapfel, der aller Vorraussicht nach Elde erben wird. Bricht einem das Herzen, nicht? Aber wenn du dir nun vorstellst ... was stellst du dir eigentlich vor, Dan?"





    "Fragen wir doch mal Finn", antwortet er mit drohendem Unterton. "Finn, was stelle ich mir vor? Du weisst das doch gewöhnlich."





    "Diesmal nicht", antwortet Finn im selben Tonfall und schaut zum ersten Mal auf. Sie sieht Dan herausfordernd an, doch er weicht ihrem Blick aus.





    "Warscheinlich dachte ich, der Enkel ließe sich erweichen, wenn sich die anderen schon stur stellen", sagt Dan jetzt. "Wäre doch möglich, oder? ER ist jung, er ist ein Mann. Wenn die Bitte von der richtigen Person vorgetragen würde ... welcher Mann könnte schon Julia widerstehen, so wie sie heute aussieht ..."





    Sein Blick ruht auf meiner älteren Schwester. Sie errötet, und ich kann kaum glauben, dass sie auf eine derart durchsichtige Schmeichelei von Dan hereinfällt, den sie angeblich verabscheut. Aber Julia ist eitel, und Dan sieht gut aus, und es hat sie immer schon gewurmt, dass er Finn bevorzugt. Ich merke, dass sie durchaus in Versuchung gerät, aber immernoch vorsichtig ist, denn sie weiß, dass Dan sie womöglich verschaukelt; er kann sehr undurchsichtig sein.





    "Ich rechne mir da keine großen Chancen aus", sagt sie stirnrunzelnd. "Es wäre mir ein Vergnügen, diesem Kerl Geld abzuknöpfen. Aber Edmund ist nicht so leicht weich zu klopfen."






    Ich stehe auf, entschuldige mich murmelnd - was sowieso keinem auffällt, es ist allen egal, ob ich da bin oder nicht, und niemand würde mich je nach meiner Meinung fragen. Für alle unsichtbar, schiebe ich meinen Stuhl zurück und gehe zur Tür.



  • Ich höre Stella sagen: "Dan mag durchaus Recht haben. So dumm ist die Idee gar nicht. Humphrey kann man nichts erklären, weil Violet immer dazwischengeht. Aber wenn Julia mit Edmund reden würde, ihn einfach beiseite nehmen und ihm die Lage darlegen würde ... Wir würden ihn ja nicht um viel bitten, und außerdem habe ich diesmal wirklich ein Geschäft vorzuschlagen ... Ich glaube, dass daraus tatsächlich etwas werden könnte. Folgendes: Kochschulen sind zur Zeit groß in Mode - ist euch das auch schon aufgefallen? Ich dachte mir, dass es doch viel schöner wäre, hier draußen in der Abtei kochen zu lernen als in irgendeinem Kellerraum in London. Überlegt doch mal! Schöne Gärten, frische Zutaten, Eier von meinen Hennen ... ein paar Schlafimmer müssten wir herrichten, um für Unterkunft zu sorgen, aber das kann ja nicht soviel kosten ... Ich habe mir das alles genau überlegt, und ich glaube, dass wir in Kürze schon loslegen könnten - aber wir bräuchten für den Anfang ein bisschen Kapital. Dan hat mit mir eine Kalkulation gemacht, und wir glauben, dass tausend reichen würden. Dan meint zweitausend, weil wir Werbung machen müssten, aber ich glaube, wir könnten günstiger wegkommen. Und es wäre natürlich nur geliehendes Geld, das müsstest du Edmund klar machen, Julia. Ein Kredit, den wir mit Zinsen zurückzahlen würden, sobald wir etwas einnehmen."





    "Stella, das ist die beste Idee, die du je hattest", sagt Großvater und wirft einen raschen Blick in meine Richtung. "Du bist eine hervorragene Köchin. Das könnte - ja, es könnte unsere Probleme wirklich lösen! Wo möchtest du hin, Maisie?" "In die Küche", sage ich. "Ich hab Hunger."





    "Oh, gut", sagt Stella, die mir immer gerne etwas zu essen macht. "Es ist ganz viel Obst da, Schatz, und ich hab gerade Brot gebacken ... aber bleib in der Küche, ja? Wir fahren bald los."






    Schweigen tritt ein. Alle warten mich erwartungsvoll an. "Das ist eine prima Idee, Stella", sagt Großvater schließlich. "Warum hast du sie nicht früher schon vorgebracht?"





    Stella zögert und sieht ihn unsicher an. Ich weiß, warum sie das nicht getan hat: Weil sie genau weiß, dass auch dieser Plan, wie alle vorhergehenden, misslingen wird. Nicht einmal Stella kann immer optimistisch sein. Sie ist tatsächlich eine sehr gute Köchin - aber ein solches Projekt durchziehen kann sie etwa so gut wie unsere Katzen.
    Ich schließe die Tür hinter mir.



    ------------------------


    So, ihr Lieben! Ich bearbeite gerade Kapitel 7 und 8..und da kommt noch einiges auf uns zu..ich war gaaaannzz traurig einerseits als ich in Kapitel 8 was sehr schockierendes gelesen habe und mir standen Tränen in den Augen! Doch als ich weiter las, musste ich grinsen..denn Maisie ist eine sehr kluge und hinterhältige Person :)
    Aber lasst euch mal überraschen..Kapitel 9 ist schon fertig. Denn das Kapitel besteht nur aus Briefen*würg* aber sie sind sehr aufschlusstreich und wichtig für die Geschichte.
    Bis dann eure Baby

  • Kapitel 7:
    Star!




    Ich trete in den Flur hinaus und bewege mich auf dem Schachbrettboden wie eine Figur; manchmal gehe ich indirekt vor wie ein Springer, manchmal diagonal wie ein Läufer, doch heute mache ich nur jeweils einen Schritt nach vorn wie ein Bauer. Ich horche auf meine Nonnen, die im Garten arbeiten, und auf Bella, die oben Staub saugt. Ich lausche den Stimmen aus dem Esszimmer. Und ich bereite mich auf Elde vor.





    Ich weiß jetzt schon genau, wir dort alles ablaufen wird. Auf der Fahrt werden Großvater und Stella versuchen, sich Mut anzureden: Diesmal wird es anders, werden sie sagen.





    Doch ihr Optimismus wird sich in dem Augenblick verflüchtigen, in dem wir durch dieses hohe Tor fahren und das Haus sehen, grau und gebieterisch. Stella wird uns wieder auf den See, die Obelisken und den kleinen Tempel hinweisen, während wir die zufahrt entlangfahren. Sie wird ihre Bewunderung für Capability Brown zum Ausdruck bringen, der den Park entworfen und diese Eichenallee angelegt hat, als die Bäume nur ein paar Meter groß waren. Niemand wird sie daran erinnern, dass sie das jedes Jahr an derselben Stelle sagt. Uns wird zu flau sein im Magen, um zu sprechen, und wenn wir das Haus betreten, sind wir endgültig verstummt. Elde belegt uns mit einer Art Bann.





    Humphrey wird freundlich sein, die Schlange wird wie üblich ihre berühmte Perlenkette tragen. Man wird uns zwanzig Minuten für Sherry und eine Stunde für das Mittagessen gewähren, dann wird uns die ungeduldige Violet in den eisigen Salon zurückscheuchen. Finn wird zornig wirken und sich in Schweigen hüllen, was sie immer tut, wenn sie leidet. Julia wird so trotzig sein, wie sie es wagt, und ich - tja, was werde ich wohl tun?





    Der Rest der Familie wird sich wappnen für den Streit nach dem Essen, diesen Moment, in dem zwölf Monate Waffenstillstand beendet werden und es erneut zu Kämpfen kommt. Die Schlange leitet das Ganze. Sie wird anderthalb Stunden Nahkampf gestatten und die Konditionen des Vertrags diktieren, wenn wir demoralisiert, angeschlagen, entwaffnet und wieder einmal im Rückzug begriffen sind. Der Vertrag ist simpel: bedingungslose Kapitulation unsererseits. Ich möchte mir diesen demütigenden Vorgang nicht ansehen müssen - und darf es auch gar nicht, denn man erachtet mich als zu jung für Familienzwiste. Nicht zu jung zwar, und mir danach und in den nächsten Monaten alles haarklein immer wieder anhören zu müssen, aber zu jung, um dabei zu sein - das hat Großvater verfügt.





    Man wird mich also nach draußen schicken. Ich werde das Haus verlassen und in den Park gehen. Ich werde anderthalb Stunden spazieren gehen. Manchmal mit Begleitung. Fast immer mit Begleitung. Ein - oder zweimal bin ich ausgebüchst und allein herumgelaufen.





    Ich bewege mich langsam vorwärts auf dem Schachbrett, aber dabei muß ich mir das aufgebrachte Gerede aus dem Esszimmer anhören. Deshalb ziehe ich mich in die Küche zurück und mache die Tür zu. Hier hört man das Gezanke nicht mehr. Großvater mit seinem architektonischen Geschick hat die Küche so angelegt, dass sie mehrere hundert Meter vom Esszimmer entfernt ist, wie in Elde.





    Die Küche bleibt verschont von der grässlichen Unordnung, die im Rest des Hauses herrscht. In allen anderen Räumen liegt überall haufenweise Zeug herum, und so sehr sich Stella auch bemüht, aufzuräumen - spätestens nach einem Tag sieht alles aus wie vorher. Briefe, Zeitungen, Zeitschriften, Pullover, Gummistiefel, Tennisschuhe; Großvaters Pfeifen, Julias Kleider, Finns Bücher, Kaffeebecher, Gläser, Gartenhandschuhe, Heckenscheren - alles sammelt sich an, und sobald Stella ein Zimmer aufgeräumt hat, tauchen die Sachen wieder auf.


  • Doch hier in der Küche ist alles ordentlich. Die Küche ist auch blitzsauber, trotz Bellas Bemühen, sie schmutzig zu machen - Stella achtet darauf. Der jahrhundertealte Steinboden glänzt, die Kupferpfannen über dem Ofen schimmern. Kein Stäubchen verunziert das Zinngeschirr auf dem hohen schwarzen Schrank.





    Das alte Radio steht an der selben Stelle, wo es schon stand, als mein Vater noch klein war. Auf dem Küchentisch liegt ein Stapel brauner Umschläge mit Rechnungen, doch er liegt immer da, und sooft Großvater auch das Scheckbuch zückt, bleibt er gleich hoch. Ich finde all das tröstlich; die Ordnung hier beruhigt mich. Ich mag Ordnung; Veränderungen kann ich nicht leiden.





    Auf dem Tisch sehe ich einen Strauß Ringelblumen in einem blauen Krug, Stellas Memo-Notizbuch, Mansfield Park, einen Erntekorb und einen kleinen Spaten. Ich schlage das Buch von Jane Austen auf. Stella ist beim zehnten Kapitel.





    In diesem Raum höre ich meine Nonnen nicht. Ich setze mich an den Tisch. Hunger habe ich nicht, ich habe nie Hunger, aber vielleicht sollte ich etwas essen - vielleicht würden dann die Bauchschmerzen aufhören. Ob ich hier bleiben darf, wenn ich Stella sage, dass ich Bauchweh habe? Nein, es wird nichts nützen; ich habe das schon öfter versucht, ohne Erfolg. Stella sagt, ich bin noch zu klein, um allein zu Hause zu bleiben. Ich reiße eine Seite aus Stellas Notizbuch heraus und male die Pergola auf, die ich bauen will, schreibe die Namen der Rosen dazu, die dort wachsen sollen. Ich habe diese Rosenarten bislang nur in Büchern gesehen, aber ich weiß, wie sie duften und welche Farben sie haben. Ich schreibe auf: The Bride, Wedding Day.





    Dann knülle ich das Papier zusammen und zerreiße es in kleine Fetzen. Ich bin nicht in der richtigen Stimmung. Im Gegensatz zu Lucas kann ich nämlich nicht gut zeichnen, und meine Pergola ist komisch geraten, sieht irgendwie kindisch aus. Irgendwas stimmt nicht mit der Perspektive.





    Ich sehe Stellas Notizbuch durch, finde aber nichts Interessantes, nur seitenweise Zahlenreihen von ihren Berechnungen für die Kochschule. Die Rechnungen in ihrer Schrift sind alle falsch, richtig sind nur die von Dan. Ich betrachte ihre Liste von Sachen, die zu erledigen sind -, und beschließe, ihr einiges davon abzunehmen. Ich kann es nicht mehr ertragen, hier herumzusitzen. Wie lange kann dieser Kriegsrat noch dauern? Worüber reden die nur die ganze Zeit? Noch eine Stunde, dann fahren wir nach Elde. Ich nehme den kleinen Spaten und den Erntekorb vom Tisch, hole mir noch den Eierkorb und gehe in den Küchengarten hinaus.





    Dans Vater, Joe Nunn, der sich für die Arbeiten, die er bei uns erledigt, aus dem Garten versorgen darf, harkt die Bohnen - und Erbsenbeete. Mir ist heiß, und ich bin überllaunig, doch Joe scheint das nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er hilft mir beim Ausgraben der neuen Kartoffeln - sie sind winzig, riechen lecker und habe eine dünne Haut. Wir pflücken auch ein paar dicke Bohnen gemeinsam, und ich schlitze eine Schote mit dem Fingernagel auf. In ihrem weißen samtigen Schoß liegen die Babybohnen, Embryobohnen. Sie sind so zart, das man sie ungekocht essen kann.





    Ich probiere eine, aber sie schmeckt bitter. Als Joe Nunn mir den Rücken zuwendet, spucke ich sie wieder aus. "Jetzt ist noch eines von den Perlhühnern verschwunden", sagt Joe. "Meister Fuchs war wieder da und hat sich Zugang zum Gehege verschafft. Denk daran, es deiner Mutter zu sagen, Maisie. Ich hab den alten Draht rausgeholt und das Loch zugemacht, den Draht einen halben Meter tief in der Erde versenkt. So schnell kann er sich da nicht durchbuddeln. Aber diese Perlhühner sind dumm wie Bohnenstroh. Ich hab deine Mutter gewarnt - die sind noch dümmer als Hennen."