"Das Liebesgeheimnis!" nach einem Roman von Sally Beauman


  • Ich wandere an den hohen Stangenbohnen und Zuckererbsen vorbei. Unter einem Netz hat sich ein Jungvogel verfangen, ein Star, der wie wild mit den Flügeln schlägt. Ich lasse ihn frei, und er fliegt auf einen Baum. Ich gehe weiter.





    Im Obstgarten hole ich die Eier aus dem Hühnerstall. Ich finde acht dunkelbraune gesprenkelte Eier, die noch warm sind, und werfe den Hennen und den Perlhühnern Körner hin. Die Stelle, an der Joe das Gehege ausgebessert hat, ist leicht zu finden, und ich sehe auch die Spuren des Gemetzels - Jessica ist es, die der Fuchs erwischt hat. Das Gras ist blutgesprenkelt, überall liegen Federn von ihr herum. Ich bücke mich und hebe sie auf, wunderschöne Federn, grau und elfenbeinweiß und ebenholzschwarz gemustert - aber Joe hat Recht, Perlhühner sind nicht intelligent. Sie sind schlau genug, nachts auf dem Baum zu brüten, aber wenn es hell wird, fliegen sie herunter, ohne darauf zu achten, was im hohen Gras lauert.





    Ich nehme die Körbe und gehe Richtung Haus. Der Lavendel ist von Bienen umschwärmt. Jetzt muß der Kriegsrat doch vorbei sein, denke ich mir und spreche beim Laufen ein paar Gedichte vor mich hin. Nun schlafen rings die Blumen, weiß und rot, sage ich vor mich hin. Beim dritten Vers, Nun, eine Danae, unter Sternen liegt die Erde - und dein Herz liegt offen mir, nehme ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und entdecke Lucas auf der hinteren Zufahrt.





    Er schiebt ein Fahrrad und hat einen kleinen Matchsack umhängen, seine Version eines Reisekoffers. Er schaut verstohlen zum Haus zurück, als wolle er nicht gesehen werden. Ich trete hinter einem großen Busch hervor, und er erschrickt. Er zögert, dann bleibt er stehen - er hat keine Wahl, denn ich bin ihm in den Weg getreten. Lucas scheint nicht gerade erfreut, mich zu sehen, denn er lächelt nicht und begrüßt mich auch nicht.
    "Das ist Julias Rad", sage ich.
    "Ach ja? Ich hab mir das erstbeste geliehen."
    "Wo willst du hin?" Ich blicke auf den Matchsack. "Du reist doch nicht etwa ab?"





    "Was machst du denn für ein Gesicht an so einem schönen Tag, Maisie! Ich wollte nur einen Ausflug machen."
    "Das glaube ich dir nicht. Du willst abreisen. Wieder mal. Deshalb schleichst du hier hinten herum wie ein Dieb. Wo fährst du hin? Weiß ..." Ich verstumme.
    "Was?"
    "Weiß es Finn? Hast du es ihr gesagt?"
    Lucas blickt mich abschätzend an. "Weiß es Finn?", wiederholt er gedehnt. "Vermutlich nicht - gewiss nicht, weil ich mich erst vor zehn Minuten dafür entschieden habe. Ich wüßte nicht, was das für eine Rolle spielt. Aber da du mir ja nachspionierst, kannst du es ihr sagen, Maisie, nicht wahr?"





    "Stimmt etwas nicht? Versäume ich hier irgendein Problem?"
    Ich antworte nicht. Nach kurzem Schweigen färt Lucas fort: "Du kannst ihr sagen, dass ich mit dem Rad zum Bahnhof fahre. Von dort aus nehme ich den Zug nach Cambridge. Dort wohne ich bei einer Person, die Finn nicht kennt. Kannst du dir das merken?"
    "Bei einer Frau?"





    "Du siehst ja so giftig aus, Maisie", sagt Lucas. "Ich fürchte, ich muß dir sagen, dass dich das einen Dreck angeht. Und Finn ebenso."
    "Wann kommst du wieder? Morgen? Du kannst nicht einfach so verschwinden, nicht nachdem ..." Ich verstumme und sage nichts über Finn, über ihr verstörtes und verzücktes Gesicht gestern Nacht. Lucas wartet; warscheinlich findet er das alles amüsant. "Nachdem - du noch mit mir verabredet bist", weiche ich aus. "Du hast gesagt, du willst mich morgen wieder malen."





    "Hab ich das gesagt? Oh, tut mir Leid, dann müssen wir es auf ein andermal verschieben."
    "Und das Porträt? Du bist noch nicht fertig mit dem Porträt."
    "Das kann warten". Lucas Stimme klingt jetzt eisig. "Vielleicht mache ich es garnicht fertig, wer weiß. Die Atmosphäre hier ..." Er blickt zum Haus zurück und runzelt die Stirn. "Die stimmt einfach nicht. Und mit dir und deinen Schwestern stimmt auch etwas nicht. Irgendwas muss noch passieren, vielleicht muß ich es überdenken ... Doch die Probleme lassen sich bestimmt lösen, ich werde einen Weg finden, wie meistens. Leb wohl, Maisie. Viel Spaß auf Elde."


  • Er steigt aufs Rad und fährt davon. Warum sagt mir nie jemand die Wahrheit? Was das Fahrrad angeht, hat Lucas zweifellos gelogen. Alle anderen Räder stehen in einem Schuppen, und er hätte jedes von ihnen nehmen können. Aber nicht gerade Julias Rad, denn das war angekettet seit ihrem Kalifornien-Aufenthalt. Der Schlüssel zu dem Schloß lag auf Julias Kommode, als ich letzte Nacht in ihrem Zimmer war. Wie sollte sie ihn in der Zwischenzeit Lucas gegeben haben? Sie hat geschlafen, dann lag sie den halben Vormittag in der Wanne und kam anschließend zum Kriegsrat.





    Vielleicht hat Lucas den Schlüssel aus ihrem Zimmer gestohlen, denke ich. Vielleicht wird er gar nicht mehr wiederkommen - und dann kann er Sommer-Maisie nicht zu Ende malen. Eine Herbst- oder Winter-Maisie wird es auch nicht mehr geben - und diese Vorstellung jagt mir Angst ein. Ich renne, so schnell ich kann, zum Haus zurück.





    Als ich am Esszimmer vorbeikomme, sehe ich, dass die Tür nur angelehnt ist. Ich will sie gerade aufschieben, als mir klar wird, dass die Sitzung beendet ist und alle gegangen sind - bis auf Dan und Finn.





    "Das verzeihe ich dir nie ...", sagt Finn. Sie klingt wütend. "Wie konntest du nur Stella in dieser Sache bestätigen und ihr Hoffnung machen? Du weißt doch genau, wie es weitergeht. Diese Sache wird schief gehen wie alle anderen Projekte auch. Von mir aus flirte mit Julia, wenn dir nichts besseres einfällt - das ist mir inzwischen egal -, aber wage nicht, mit Stella und Großvater deine Spielchen zu treiben. Du weißt, wie verzweifelt sie sind. Und das Ganze noch vor Maisie - das ist gefühllos und hinterhältig. Warum willst du mir vorsätzlich wehtun?"





    "Weil du mirn wehtust", antwortet Dan in einem Tonfall, der mir Angst einjagt. "Du tust mir weh. Jede Woche, jeden Tag, jede Stunde. Warum soll ich mich da nicht rächen? Du sollst erfahren, wie sich das anfühlt, Finn. Und bilde dir nicht ein, dass ich damit aufhören werde. Das ist erst der Anfang. Ich werde dir die Hölle auf Erden bereiten. Jedes Mal, wenn du mich betrügst, werde ich dich betrügen. Du willst mein Herz brechen? Das ist leicht. Aber ich werde deines in Stücke schlagen ..."






    "Sag so was nicht. Benutze nicht solche Wörter." Finn klingt Tränenerstickt, was mich wundert, denn sie weint sonst nie. "Warum willst du nicht verstehen? Warum bist du so eifersüchtig? Du weißt doch, dass das nicht nötig ist. Wenn du mir nur zuhören würdest - ich habe doch versucht, es dir zu erklären ..."





    "Er ist mein Freund - versuch mir das mal zu erklären, Finn. Es gab einmal eine Zeit, da brauchten wir keine Erklärungen, du und ich. Ich verabscheue deine Erklärungen und deine Lügen, und ich verabscheue deinen Gesichtsausdruck. Lass bloß die Finger von mir ..."





    Ich höre ein Geräusch, dann einen sonderbaren Laut von Finn. Es hört sich an, als bekäme sie keine Luft mehr, und ich denke: Vielleicht würgt Dan sie, vielleicht erstickt er sie. Er hörte sich so verrückt an.


  • Ich habe Angst, und meine Hände zittern. Es liegt wieder so ein verbrannter Geruch in der Luft. Ich halte immer noch die Körbe mit Eiern und Gemüse in den Händen und habe selbst das Gefühl, zu ersticken. Was soll ich tun: reingehen oder Stella holen? Ich höre jetzt nichts mehr, aber die Stille dadrin ist beunruhigend.





    Vorsichtig schiebe ich die Tür ein Stück auf und schaue ins Zimmer. Dan hat Finn an den Tisch gedrängt. Sein Knie steckt zwischen ihren Beinen, und er biegt ihren Kopf nach hinten. Ihr Kleid ist hochgerutscht, und sie umschlingt ihn, als sei sie am Ertrinken. Mit einer Hand hält er ihren Kopf, und ihr Haar fließt zwischen seinen Fingern hindurch. Seine Hand liegt auf ihrer Brust. Beide haben die Augen geschlossen, und ihre Münder berühren sich. Was macht er mit ihr? Was geschieht in diesem Haus? Ich verstehe das alles nicht.





    Ich schleiche mich davon. In einer halben Stunde müssen wir losfahren. Eine Viertelstunde lang wandere ich ziellos durchs Haus.





    Großvater sitzt in sich zusammengesunken in der Bibliothek.





    Stella sitzt am Küchentisch über ihren Berechnungen und stützt den Kopf in die Hände.





    Ich horche; das Haus ächzt und stöhnt. Mäuse rascheln hinter der Wandtäfelung. Meine Nonnen legen los: All die bleichen Schwestern sind auf die Knie gesunken. Sie wissen, dass eine Krise bevorsteht; sie singen Psalmen, und sie Rosenkränze klappern.






    Ich halte Ausschau nach Isabella. Als ich sie nicht finde, gehe ich in mein Zimmer und ziehe mich um. Ich wähle meine Kleidung mit Bedacht. Ich weiß, welche Sachen ich brauche.






    Ich binde mir eine Schleife ins Haar und stecke ein weißes Tüchlein in die Tasche meines Kleids. Es ist elf Uhr morgens am 21. Juli 1967. Als Stella mich ruft, steht mein Plan fest.




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    Was für einen Plan wird Maisie haben?
    Was genau wird auf Elde passieren, das sie überhaupt einen Plan braucht?
    Und wird Stella ihre Kochschule bekommen?
    Wohin ist Lucas?
    Und was läuft eigentlich zwischen Dan, Lucas, Finn und Julia?


    -Das alles werdet ihr bald erfahren.

  • Teil 3: Der Turm


    Wie kann man Elde schildern? Das heutige Gebäude befindet sich am selben Ort, an dem dereinst Sir Gervase Mortland, Vorfahr meines Gatten, sein Herrenhaus im Tudor-Stil errichten ließ.
    Von diesem mittelalterlichen Anwesen ist leider nichts mehr erhalten. Gervase, ein tapferer Mann, hatte seinem König, Heinrich VIII., treu gedient, doch nach dem Tode des Regenten wurde er ein Opfer von Neid und Intrigen. Während der Herrschaft dieser besessenen Papistin Mary Tudor verurteilte man ihn wegen angeblicher Beteiligung an der Pilgrimage of Grace; er wurde im Tower gefangen gehalten und 1554 hingerichtet. Sein Tod leitet den Niedergang der Mortlands ein; der bescheidene, doch alte Adelstitel wurde angefochten, und das Anwesen in Elde verfiel.
    Aber dieses alte Geschlecht obsiegte. Durch treue Dienste für die Monarchie wurde das Ansehen der Familie zu guter Letzt wiederhergestellt. Zwei Mortlands starben für die Sache der Royalisten im Kampf gegen Cromwell. Andere Mortlands ließen ihr Leben bei der Niederschlagung der Aufstände in Irland und Schottland: Guy (1650-91) am Boyne und Edmund (1670-1735) in Glencoe. Edmund ehelichte 1710 die fünfte Tochter des Duke of Suffolk und plante den Wiederaufbau von Elde, der wegen der schweren tödlichen Erkrankungen seiner Gattin erst von seinem Sohn Henry (1712-1802) in die Tat umgesetzt werden konnte.
    Das heutige prachtvolle Anwesen wurde im Jahre 1770 vollendet. Es wurde von Wyatt entworfen, der sich dabei von Palladio inspirieren ließ. Kritische Stimmen haben es als "protzig" bezeichnet oder fanden, dass es unter dem grauen englischen Himmel "absurd" oder "trist" wirkt. Ich habe für solche Ansichten keinerlei Verständnis. Elde mit seinen 25 Erkern und diesen aufstrebenden korinthischen Säulen wird für mich immer der Inbegriff von England bleiben.


    Mein Gatte brachte mich an dem Tag, an dem er mir einen Heiratsantrag machte, zum ersten Mal hierher. Ich blickte vom Mann zum Haus, vom Haus zum Mann und sann über beider Geschichte nach. Mit der für mich typischen Entschlußkraft sagte ich mir dann:" Violet, dies ist dir angemessen." Und dieser Ansicht bin ich noch heute.


    Ein englisches Leben: Meine Memoiren, von Violet Mortland, 1955

  • Es ist noch immer spannend, und es wird immer mysteriöser, vor allem auch durch diese Zwischenpassagen. Gerade die letzte macht es auf der einen Seite leichter, die Familie einzuordnen, auf der anderen Seite aber auch wieder geheimnisvoller, denn irgendwie ergibt das bis jetzt alles noch keinen Sinn.
    Die Fragen am Ende der vorletzten FS sind gut gewählt, die gleichen hätte ich dir jetzt gestellt, denn ich habe partout keine Antwort darauf.

    Und du bist ausgesprochen fleißig, das muss man dir lassen!

  • Nerychan: Vielen Dank! Ja es ist sehr mysteriös, ich weiß und das alles wird noch lange nicht aufgeklärt, wieso? Das wird im 9. Kapitel klar. Ich schätze mal, das es erst ziemlich am Ende die ganzen Aufklärungen geben wird..
    Und ja, die Fragen habe ich extra gefragt (habe aber nicht groß drüber nachgedacht, war nur am logischten), damit mehr Spannung aufkommt.



    Kapitel 8:
    Auf Elde





    Maisie, wie entzückend du aussiehst, Schätzchen", sagt Lady Violet, beugt sich zu mir runter und gibt mir einen flüchtigen Schlangenkuß neben das Ohr. "Sieht sie nicht niedlich aus, Humphrey, Edmund? Was für ein hübsches Kleid. Es ist ja so erfrischend, einmal ein Mädchen zu sehen, das seinem Alter entsprechend gekleidet ist. Die Mädchen von heute werden ja viel zu schnell erwachsen."





    Wir sind auf Elde, und die alljährliche Demütigung nimmt ihren Lauf. Violet greift bevorzugt zur doppelläufigen Flinte, damit sie zwei Vögel mit einem Schuß erledigen kann. Mich hat sie schon getroffen, Julia und Finn zumindest gestreift, und nun legt sie auf Großvater an. Er steht mit seinem Zwillingsbruder Humphrey vor dem Marmorkamin. In drei Tagen werden sie beide 72, doch man kann sie auch im Alter schwer unterscheiden. An der Wand neben dem Kamin hängt ein Porträt von ihnen als Kinder: zwei identische blonde Jungen, die den Betrachter hochmütig anblicken.





    Neben ihnen sitzen zwei identische schwarze Labradors, im Hintergrund sieht man die kalte symmetrische Fassade von Elde. Sie sitzen im Park. Ich mag dieses Porträt nicht. Ich mag überhaupt keine Porträts. Sie sind irreführend.





    "Nun, welcher ist Henry, welcher ist mein Mann?", fragt Violet lächelnd. Das macht sie ebenfalls jedes Mal, und sie amüsiert sich immer prächtig dabei. Sie küßt Humphrey, dann tut sie, als bemerke sie den Irrtum, und küßt Großvater. Natürlich kann sie die beiden unterscheiden. Im Grunde kann das jeder, denn Humphrey strahlt Selbstgefälligkeit aus, wohingegen Großvater die Hölle gesehen hat, und das merkt man ihm an.





    Was man uns auf Elde anbietet, ist auch Jahr für Jahr gleich. Verschwendung ist der Schlange zu wider, weshalb beim Essen nur winzige Portionen serviert werden; das gilt auch für Getränke. Humphrey bewegt sich auf ein schweres Silbertablett zu, auf dem das Familienwappen eingraviert ist. Unzählige Flaschen und Karaffen sind darauf angeordnet; aber man sollte sich lieber keine Hoffnungen machen, sagt Julia immer. Lauwarmer Sherry wird in fünf Gläser gegossen.





    Die Gläser sind winzig, so klein, dass sie an Fingerhüte erinnern. Man kann kaum daraus trinken, was wohl der Sinn der Sache ist. Finn, Julia und ich bekommen Limonade, ohne das wir vorher gefragt werden. Cousin Edmund bringt mir mein Glas und betrachtet das Kleid, das Violet so gut gefällt. Es ist ein blaues Baumwollkleid von Liberty mit gesmokter Taille und Puffärmeln. Ich habe es von Großvater zu meinem elften Geburtstag bekommen, und ich bin so dünn, dass es mir immer noch passt. Es ist nur etwas zu kurz, der Saum müßte herausgelassen werden. Obwohl es heiß ist, trägt Edmund Cordhosen, ein Hemd und ein raues Wollsakko. Das Muster der Krawatte passt du dem Hemd. Da er auf dem Land ist, trägt er derbe Budapester.
    "Sehr hübsch, Maisie", sagt er. "Und, wie geht´s, wie steht´s?"





    "Sehr gut", antworte ich höflich. "Der Sommer ist wunderbar. Es ist der tollste Sommer, den ich je erlebt habe."
    Edmund sieht verblüfft aus. "Allerhand", sagt er. "Die Nonnen lassen dich also zufrieden?"





    Ich wünschte, Julia hätte ihm nie von meinen Nonnen erzählt. Sie hat sie vor Jahren einmal erwähnt, und Edmund hat sie seither nicht vergessen. Er lächelt onkelhaft zu mir herunter und blinzelt. Stella läßt sich unterdessen auf der anderen Seite des Raums über die geniale Elizabeth Davis aus, und Großvater schildert in allen Einzelheiten die Maläsen des Dachs in der Abtei: Cassoulet, Ermündungsrisse, höre ich.


  • Ich teile Edmund mit, dass die Nonnen sich in letzter Zeit nicht mehr gezeigt haben. Er sieht enttäuscht aus, und wir verfallen in Schweigen.
    Auf Elde hat man genau zwanzig Minuten, um seine vier Tropfen Sherry zu trinken - und zehn davon sind schon vorbei. Julia, die sich dessen bewusst ist, schreitet zur Tat.





    Sie legt einen furiosen Start hin, umrundet zwei gewaltige Chintzsofas und rauscht an einem kostbaren Bonheur du jour vorbei. Die Schlange versucht, ihr zuvorzukommen, aber es gelingt ihr nicht, denn Julia ist schnell, und das Zimmer ist so groß wie zwei Tennisplätze. Julia scheint sich Dans Vorschlag zu Herzen genommen zu haben. "Edmund", ruft sie aus und zieht ihn von mir weg. "Dich habe ich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen! Großartig sieht du aus. Tolle Krawatte."





    Jeden anderen Mann hätte Julia zurückhaltender angesprochen, aber sie hält Edmund für ausnehmend blöde und trägt deshalb besonders dick auf. Zwei goldene Arme legen sich um Edmunds Hals. Zwei saphierblaue Augen funkeln erfreut. Zwei rosarote Lippen berühren seine Wange. Edmund weicht zurück.





    "Ich denke, wir sollten rübergehen, Humphrey", verkündet die Schlange umgehend. "Klingelst du bitte? Stella, meine Liebe, ich fürchte, du wirst das Mittagessen schrecklich langweilig finden. Aber Humphrey mag keine ausländischen Speisen. Und ich auch nicht."





    "Ach herrje, mir ist gerade etwas eingefallen", sagt Stella. "Verzeih mir bitte, Violet, ich hätte es dir am Telefon sagen sollen. Maisie ist jetzt Vegetarierin."
    "Ach ja? Wie außergewöhnlich. Nun, es gibt kalte Consommé und gedünsteten Lachs, was dann gewiss kein Problem ist, aber Mrs. Hunt kann bestimmt etwas zurechtmachen, auch so kurzfristig. Ich lasse ihr Bescheid sagen. Sag, Maisie, meine Liebe, trägst du Lederschuhe? Wie ich sehe, ja. Ich finde, du solltest dann konsequenter sein ..." Wir wandern inzwischen Richtung Esszimmer.





    "So, Henry, du sitzt natürlich neben mir. Stella bitte neben Humphrey, damit ihr euch aussprechen könnt, wie jedes Jahr. Finn hier bitte und Julia - nein, nicht auf dieser Seite, meine Liebe, du sitzt neben deine Schwester. Ihr seid ja beide so schick angezogen. Sind das die Miniröcke, von denen man jetzt immer hört? Äußerst originell. Und du, Maisie, sitzt hier neben Edmund - ja, ja, genau dort, Herzchen ..."





    Und da sitzen wir nun alle wie immer an diesem endlos langen Tisch. Die Kristallgläser funkeln, die Messer schimmern. Ein Diener huscht hin und her; wie alle Hausangestellen auf Elde benimmt er sich, als sei er taub, blind und stumm. Ich starre auf die berühmten Stuckarbeiten von Adam. Über den geschnitzten Türrahmen prangen farblose Früchte - eine weiße Ananas, ein weißer Apfel, weiße Trauben, weiße Birnen. Über dem Kamin hängt ein vergoldeter Spiegel, auch von Adam, in einem Beruhigendem Winkel, als könne er jeden Moment herunterfallen und zerspringen. Ich sehe uns alle darin, auf Violets Geheiß am Tisch angeordnet, die gefährlichen Töchter in größtmöglicher Entfernung vom heißgeliebten Enkel und Erben.





    Ich beobachte die kleine Maisie in ihrem Alice-im-Wunderland-Kleidchen. Sie ißt das Spezialgericht, das ihr schließlich serviert wird - einen Teil davon jedenfalls, zwei dünne Stückchen Käse und ein Salatblatt. Sie kaut daran herum, während alle anderen gelierte Knochen und tote Fische zu sich nehmen. Maisie probiert einen Löffel, als gerade niemand hersieht. Humphrey liebt Kinderspeisen und Edmund offenbar auch. Er nimmt sich zweimal nach und tätschelt seinen dicken Bauch. "Können wir dich nicht mehr in Versuchung führen, Schatz?", fragt ihn seine Großmutter.

  • Hallo Baby,

    ich lese jetzt schon des längeren an deiner FS und muss dir mal ein dickes Lob aussprechen:applaus :applaus Tolle Bilder und soviele Fortsetzungen - da muss man nie lange warten:applaus . Die Geschichte selbst ist teilweise noch verwirrend, aber wie du selbst schon geschrieben hast, wird sich das ganze sicher in den nächsten Kapiteln alles besser aufklären. Bin schon gespannt wie sich das alles entwickelt und was die Nonnen noch so alles mit Maise vorhaben

  • Danke Gotti :D

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    Als er den Kopf schüttelt, lächelt die Schlange. Julia hat über ihre Zeit in Kalifornien gesprochen, und ihre Versuche Edmund über mehrere Meter poliertes Mahagoni hinweg in ein Gespräch zu verwickeln, sind nicht unbemerkt geblieben.





    "Der Sommer der Liebe?", äußert Violet mit hochgezogenen Augenbrauen. "Sehr interessant, Julia. Bei dir hört sich das ja ganz anders an als in den Zeitungsberichten. Faszinierend, einen Bericht aus erster Hand zu bekommen. Ich frage mich bloß, weshalb nur der Sommer? Wenn diese Entwicklungen so radikal sind, wie du sagst, sollte man doch meinen, dass sie von größerer Dauer sind ... was wird denn dann wohl im Herbst daraus, meine Liebe? Doch da wir gerade beim Thema Liebe sind ... Edmund hat wundervolle Neuigkeiten für uns - nicht wahr, Edmund, mein Bester?"





    Edmund wirft einen Blick auf mich; er scheint nicht besonders erpicht darauf zu sein, diese Neuigkeiten zu verbreiten. Violet dagegen zögert keine Sekunde. "Edmund ist verlobt und wird bald heiraten", verkündet sie. "Er hat ein ganz bezauberndes Mädchen gefunden, Lettice Rutlands Enkelin. Lettice und ich sind gleich alt, und wir hatten insgeheim immer gehofft ... nun ja, ein-, zweimal haben wir schon die Köpfe zusammengesteckt. Junge Männer sind ja immer etwas langsam, und Edmund wollte sich nie drängen lassen, was angesichts der Umstände aber auch vernünftig war. Zum Glück hat er immer gleich gewittert, wenn er dabei war, einem falschen Mädchen auf den Leim zu gehen ..."





    Sie lässt den Satz unvollendet. Julia läuft rot an vor Ärger. Finn befindet sich auf einen anderen Planeten, der Venus oder dem Mars vielleicht. Sie starrt zum Fenster hinaus auf die Rasenfläche, auf der Großvater 1918 seine Uniformen verbrannt hat. Den daumengroßen Bluterguß an ihrem Hals hat sie mit einem Tuch verdeckt, und beim Essen war sie einsilbig. "Ich gehe ein bisschen spazieren", sagt sie, als wir in den Salon gebeten werden und der Kaffee eingeschenkt wird.





    Sie wartet nicht ab, ob Violet ihr das genehmigt, sondern ist schon im nächsten Moment verschwunden. Ich trete an die Verandatür. Finn läuft mit gebeugtem Kopf und schnellen Schrittes an den berühmten Staudenrabatten der Schlange entlang, ohne nach links oder rechts zu blicken. Dann verschwindet sie hinter den makellos geschnittenen Eibenhecken. "Wie heißt denn deine zukünftige Frau?", frage ich Edmund, der neben mir aufgetaucht ist, um Konversation zu machen.





    "Veronica", sagt er. Seine Stimme klingt dumpf und uninteressiert. Nach kurzem Schweigen sagt er: "Möchtest du ein bisschen spazieren gehen, Maisie? Ich entsinne mich, dass du etwas übrig hast für Gärten."





    "Ich werde Gartenarchitektin", antworte ich. Und Violet, dankbar für die Gelegenheit, ihren Enkel der bedrohlichen Julia entziehen zu können, bestärkt ihn in seinem Plan - wie sie es jedes Jahr tut. Wir treten aus dem kalten Raum in die warme Sonne hinaus und gehen zwischen den Rabatten entlang. Irgendwann nimmt Edmund mich an die Hand.

  • Nun muss ich mich auch mal wieder melden. Wie immer schaue ich jeden Tag, ob es schon eine neue Fortsetzung gibt und zum Glück finde ich auch fast jeden Tag eine neue FS .. Find ich klasse !!


    Aber nun zur Story .. Bei dieser Familie kann ich verstehen, dass Maise oft nicht mehr weiß, was überhaupt Sache ist .. Es ist schon ziemlich kompliziert hier hinter die Fassade zu schauen und heraus zu finden, warum wer etwas macht .. Ich finde aber, dass du die Geschichte sehr interessant und spannend erzählst.


    Von daher hoffe ich, dass du nicht die Lust am Schreiben verlierst und noch lange weiter machst !!

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    ~~ Das LESEN ist die Möglichkeit, die Realität verblassen, und seinen Geist im Universum und der Zeit wandern zu lassen ... ~~[/CENTER]

  • Cyber: Danke, Danke! Aber es wird erstmal noch verwirrender..ich werd nix verraten, aber nach dem 8. Kapitel wird sich erstmal alles ändern..


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    Wir bleiben eine halbe Stunde bei den Rabatten und machen ein Spiel. Edmund sagt, ich bekomme einen Shilling für jede Pflanze, die ich richtig beim Namen nennen kann. Ich erkenne Lavendula spica, Geranium endressii, Delphinium "Black Knight", Aconitum niger (giftig), Lilium regale und drei verblühende Teehybriden, die nach Königinnen benannt sind. Die Lilien sind eigentlich Madonnenlilien, keine regale, aber ich weiß, dass Edmund das nicht beurteilen kann, und außerdem wird mir langweilig.





    "NOch zwei, dann kriegst du einen Fünfzig-Shilling-Schein", sagt Edmund. Ich werfe ihm einen erbosten Blick zu. Diese Rabatte sind hübsch, aber einfallslos. Ich präge mir pro Tag die lateinischen Namen von fünf Pflanzen, Vögeln und Säugetieren ein, und das schon seit Jahren. Ich kann jede Pflanze in diesen Rabatten benennen, von denen es teilweise bis zu 300 Arten gibt. Ich erkenne zwei eher seltene Clematis-Arten, und Edmund ist beeindruckt. Er sagt, ich sei wahrhaftig ein schlaues Mädchen - wie es mir denn gelänge, mir all diese Namen einzuprägen?





    "Ich schreibe mir sie auf und ordne sie", antworte ich und blicke zu Boden. Edmund reicht mir einen braunen Geldschein und geht auf und ab.





    Er erkundigt sich, ob ich im Unterricht Fortschritte mache. Ich berichte ihm, dass der Pfarrer immer noch donnerstags kommt und wir Hume lesen und dass Mrs. Marlow mir zweimal die Woche Unterricht in Geschichte und Erdkunde gibt.





    Ich erzähle ihm, wie viele Aristokraten in den ersten Wochen der Französischen Revolution der Kopf abgehackt wurde und wie lang der Nil ist, der längste Fluß der Welt. Vom Ursprung im Victoriasee bis zu der Stelle, wo er ins Meer mündet, ist er genau 6671 Kilometer lang. Von Isabella, den Nonnen und dem Unterricht, den sie mir erteilen, erzähle ich nichts.





    Aber ich berichte, dass ich noch immer drei Gedichte pro Woche auswendig lerne und das ich mich zurzeit mit Querbezügen von Milton zur Bibel beschäftige, was ich sehr interessant finde. Es ist angenehm, dass mir jemand zuhört, weshalb ich beschließe, Edmund für seine Geduld zu belohnen. Ich offenbare ihm, dass ich begonnen habe, mich für griechische Mythologie und Astronomie zu interessieren; ich mache ihm Geschenke, in dem ich von Iphigenie in Aulis erzähle und ihm die einzelnen Sterne der Plejaden aufzähle.





    Edmund weicht zurück und betrachtet den Horizont. "Und im September gehst du vielleicht wieder zur Schule?", fragt er. Ich gebe keine Antwort, und Schweigen tritt ein. Dann stellt er mir noch ein paar Standartfragen, und ich bestätige, dass Finn noch zwei Jahre in Cambridge englische Literatur studieren wird und sich bisher für keine Berufslaufbahn entschieden hat. Edmund findet es sowieso abartig, wenn Frauen einen Beruf ausüben, und runzelt die Stirn.





    Dann berichte ich ihm, dass Julia im September in London bei einer Zeitung anfangen wird. "Journalistin?", fragt Edmund und betrachtet eingehend den blauen Himmel. "Worüber will sie denn schreiben? Über Kleider und diesen ganzen Modequatsch? In der Politik sehe ich sie nicht, mit dem Kleidungsstil."


  • Das soll wohl als Witz gemeint sein, denn er lacht gekünselt. Dann wandert er wieder auf und ab, reißt eine Lavendelblüte ab und reibt sie zwischen den Händen, betrachtet eine kleine Wolke, die reglos am Himmel steht. Schließlich sagt er:"Gut, Maisie. Wo gehen wir jetzt hin?"
    "Wir könnten wieder in die Wildnis gehen."





    "Könnten wir." Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. "Ist ein ziemlich weiter Weg. Haben wir noch genug Zeit?" Er beschließt, dass uns noch genug Zeit bleibt, und wir marschieren los, den Lindenweg entlang, am Rosengarten und dem Kräuterparterre vorbei. Der Kies strahlt Hitze ab, und der Duft von Majoran und Thymian liegt in der Luft. Ich höre die Stimmen von Gärtnern in der Ferne, und Edmund hört sie auch. "Gehen wir hier entlang, das ist kürzer", sagt er. "Und kühler. Es hat ja bestimmt fast 30 Grad hier draußen."





    Wir biegen ab ins Birkenwäldchen, wo es so kühl ist, das ich Gänsehaut bekomme und schaudere. Zur Wildnis kommt man durch ein hohes schmiedeeisernes Tor mit den Wappen der Mortlands. Es ist abgeschlossen, doch Edmund hat den Schlüssel bei sich. Wir treten durch das Tor, Edmund schließt hinter uns ab. Nun sind wir im geheimen Reich von Elde.





    Hier bleibt das Gras ungeschnitten; es streift meine Schenkel und duftet in der Hitze. "Hab ich dir schon gesagt, wie schön ich dein Kleid finde?", fragt Edmund, als wir auf den See zugehen. Am Ufer steht eine Bank.





    Es gibt dort auch einen kleinen Artmenis-Tempel auf einer Anhöhe. In einem Jahr waren wir dort, doch diesmal soll es der See sein. Wir setzen uns nebeneinander auf die schmiedeeiserne Bank, die mich am Hintern drückt. Man sitzt nicht gut dort, aber die Aussicht ist friedlich, und es ist ein verborgener, stiller Flecken. Nachdem wir ein paar Minuten auf der Bank gesessen haben, wischt Edmund sich die Stirn. Dann gleitet seine linke Hand unter mein Kleid. Ich sitze ganz still, während sie aufwärts gleitet. Er schaut mich flehend an, weshalb ich die Sätze spreche, die er mir beigebracht hat: "Ich habe heute Morgen ein sauberes Höschen angezogen", sage ich. "Ein weißes Höschen. Ich trage gerne weiße Unterwäsche. Ich mag es, wenn ich sauber bin."





    Ich schaue ihn nicht an, während ich rede, sondern blicke auf den See, auf die Pflanzen am Ufer, die Vögel. Iris wachsen dort und Gunnera Maculata, mit Blättern so groß wie Regenschirme und roten Haaren an den Stängeln.





    Edmund rührt sich nicht. Seine Hand fühlt sich heiß an. Ich frage mich, ob er möchte, dass ich mich wehre, wie beim ersten Mal, aber es hat nicht den Anschein. Ich beobachte ein Teichhuhn, das geschäftig übers Wasser paddelt, einen Schwarm Küken im Gefolge. Ich zähle stumm die Küken, ein, zwei, fünf, neun. Edmund steht unvermittelt auf und tritt hinter die Bank. Ich weiß, dass ich mich erst umdrehen darf, wenn er es sagt, und betrachte weiter den See. Das Teichhuhn, neun Küken, zwei Enten und ein Erpel. Und ein Schwan gleitet übers Wasser.





    Jetzt höre ich Laute hinter mir, die mich an die Geräusche erinnern, die ich heute Morgen im Esszimmer gehört habe. Sie klingen dringlich, irgendwie verzweifelt. "Schau mich an", sagt Edmund mit erstickter Stimme. "Schau mich an. Dreh dich um." Ich drehe mich um. Er steht direckt hinter mir, keinen halben Meter entfernt. Sein Gesicht ist rot angelaufen, sein Mund steht offen, die Augen sind weit aufgerissen, und er hält dieses Ding in der Hand, das wie ein dicker Rhabarberstängel aussieht, nur lebendiger. Er reibt es und richtet es auf mich. Ein, zwei Minuten lang tue ich so, als schaue ich zu, dann ziehe ich das weiße Taschentuch hervor und reiche es ihm. Das habe ich noch nie getan. Er kommt einen Moment ins Stocken, reibt dann weiter, schneller noch als vorher. Das hatte ich erhofft, ich will die Sache beschleunigen. Letztes Jahr dauerte es drei Minuten und zehn Sekunden, und Edmund wollte, dass ich es anfasse. Das will ich nicht. Ich hasse glitschige Sachen.


  • Die Szene verschwimmt vor meinen Augen, ich sehe nur weiß, rot, weiß. Wie ich gehofft hatte, dauert es nicht mehr lange. Er schaudert, krümmt sich, als habe er Bauchschmerzen, und stöhnt. Die Hose wird zugemacht, ich stehe auf. Als wir wieder in dem schattigen Birkenhain sind, zögere ich. Ich hatte vorgehabt, unsere Situation und Stellas Pläne zu erläutern, aber plötzlich will ich nicht mehr. Ich bleibe einfach stehen und sage: " Edmund, das kostet zweitausend Pfund."





    Zuerst meinte er, sich verhört zu haben. Dann glaubte er, ich mache Witze. Schließlich starrt er mich mit gekränktem Gesichtsausdruck an und versucht, mich durch Bitten und Schmeicheln umzustimmen. Als er merkt, dass das nichts nützt, verliert er die Nerven. Er flucht, verunglimpft mich und meine Familie. Wer soll mir schon glauben, behauptet er dann, er wird alles ableugnen ... ich merke mir seine Äußerungen.





    "Mein Wort gegen deines", sagt er. "Schlechte Karten, wie? Alles glauben doch, dass du nicht ganz richtig bist im Kopf - die kleine Maisie, die schlafwandelt und mit toten Nonnen redet, das Mädchen, das nicht isst, nicht wächst, keine Freunde hat, nicht zur Schule gehen kann. Nimmst du immernoch die Medikamente, Maisie? Nützen sie endlich was? Humphrey meint, du seist mit Drogen vollgestopft und die meiste Zeit halb weggetreten. Violet meint das nicht, aber die hält dich für zurückgeblieben. Sogar deine Mutter glaubt, das irgendwas mit dir nicht stimmt. Sie fürchten alle, dass du so wirst wie dein Vater. Weißt du nicht, dass sie nur wegen dir so versessen sind auf Geld? Wer wird sich um Maisie kümmern, was soll aus Maisie werden - darüber reden sie gerade da drin. Gott!





    Wenn die wüßten. Du benimmst dich wie ein normaler Mensch, aber gerissen bist du trotzdem, das merke ich jetzt. Du bist eine Lügnerin, eine dreckige Lügnerin, Maisie. Und zum Glück wissen das auch alle. Wer soll also wohl dir Glauben schenken?"





    "Ich sehe da keinerlei Schwierigkeiten", antworte ich höflich und bringe das zerknüllte feuchte Taschentuch zum Vorschein. Es riecht sauer. Ich werfe es in die Luft. Er stößt einen Wutschrei aus und versucht, es zu fangen, aber ich bin schneller. Ich fange das Taschentuch auf und renne los.


    ------------------------


    Jetzt habe ich erstmal keine Lust mehr..
    Aber seid ihr nicht genauso geschockt wie ich?? :misstrau

  • Asche auf mein Haupt, welch Schande, die 2 zu verwechseln :noe !
    Bitte sei mir nicht böse, irgendwie... keine Ahnung.

    Aber ich bin auch sehr geschockt über das Kapitel, auch wenn ich mir da doch beim Lesen einen verd.... großen Fehler erlaubt habe. So gibt das ganze auch deutlich mehr Sinn (ich Dummchen).
    Maisies Plan ist ja jetzt ziemlich deutlich geworden, auch wenn ich anfangs schon mehr Bedenken hatte, bei dem Satz "...wehrte, wie beim ersten mal...", aber das hätte er wohl kaum vertuschen können. Kein Wunder, dass Maisie nicht gern nach Elde geht.
    Ob Stella jetzt überraschenderweise doch "großzügig unterstützt wird"?
    Hoffentlich kann Maisie überhaupt erstmal entkommen, ich fürchte das ganze wird noch ein Nachspiel für sie haben. Ich glaube kaum dass ihr Edmund das so durchgehen lässt, auf Dauer?
    Liebe Grüße, cassio
    PS: ich bin so :wut , nicht böse sein bitte.

    [RIGHT][SIZE=1]'...sometimes it's cruel to be kind!'[/SIZE][/RIGHT]

  • cassio: Ja hm, dazu kann ich nicht wirklich was sagen, ob sie damit durch kommt, denn die Auflösung kommt ja jetzt schon in der Fortsetzung und ich denke auf Dauer... hmmm... wird das wohl nicht gehen, da sich ab Kapitel 9 alles ändert, aber ich will nix verraten. Also einfach weiterlesen *fg*


    Nikita: Danke für dein kleinen Kommi *g*





    Er kann mich nicht einholen, er ist viel zu schwerfällig. Ich bleibe erst bei den Madonnenlilien zehn Meter vor der Vernadatür stehen; da bin ich in Sicherheit. Als er schließlich angekeucht kommt, blicke ich gelassen in die Luft.





    "Bitte, Maisie", sagt Edmund atemlos. "Hör mich an. Ich dachte - ich dachte, wir seien Freunde. Verzeih mir, ich habe das nicht so gemeint, was ich gerade gesagt habe, ich habe die Nerven verloren. Du kannst ja nichts dafür, wie du bist. Du bist schlau und pfiffig und ganz speziell. Ich spreche gerne mit dir - das war schon immer so, und das weißt du auch. Du weißt doch, wie ich hier leben muß mit Violet, die mir vorschreibt, wen ich heiraten soll. Ich habe keine andere Wahl - verstehst du das nicht? Ich mag dich wirklich gerne, Maisie, das weißt du doch. Ich wollte dir nie etwas zuleide tun. Wenn ich dürfte, wie ich wollte - ich hatte immer vor ..."





    Schweiß rinnt ihm über die Stirn. Er klingt, als würge ihn jemand. Ich kann mir das nicht länger anhören, dieses erbärmliche Gerede. In einem anderen Universum hätte ich vielleicht Mitgefühl mit Edmund, weil ich Außenseiter verstehen kann. Aber in diesem Universum befinde ich mich nicht. "Schreib den Scheck auf Stella aus, bitte. Und gib ihn mir, bevor wir aufbrechen", sage ich. "Du weißt, was ich tun werde, falls er platzen sollte."





    Und zu meinem Erstaunen - denn ich war nicht sicher, ob mei Plan gelingen würde - fügt er sich. Als wir später in Großvaters Wolseley steigen, nähert sich Edmund und drückt mir einen Umschlag in die Hand. Ich sehe dir Angst in seinen Augen. Ich nicke, damit er weiß, dass ich Wort halten werde, und steige ein.





    Die Fahrt ist lang. Ich schlafe ein und träume, dass alles ein Gutes Ende nimmt: Das Dach wird ausgebessert, Stella hat Erfolg mit ihrer Kochschule, Finn und Dan sind wieder zusammen. Niemand sieht mich mehr eigenartig an oder flüstert hinter meinem Rücken. Lucas hat das Porträt vollendet, und ich betrachte mit meinem Vater das Bild Die Schwestern Mortland. Dies ist ein guter Traum. Daddy ist nach Hause gekommen, und zu guter Letzt sind wir alle vereint.





    Wir stehen lange Hand in Hand im Refektorium und betrachten das Gemälde. Daddy muß direkt vom Flugplatz in Sussex gekommen sein, während des Krieges, denn er trägt noch seine Fliegerjacke und wirkt sehr jung; jünger als meine Schwestern und als Dan. Seine Augen sind leuchtend blau, und er sieht kühn und furchtlos aus. Ich frage ihn, was Edmund meinte - warum sollte jemand Angst davor haben, dass ich ihm ähnlich werde?





    Ich frage ihn, wie viele Einsätze er geflogen hat und wie viele feindliche Flugzeuge er heute abgeschossen hat. Nie zuvor in der Geschichte verdankten so viele so wenigen so vieles, sage ich zu ihm. Ich bin sicher, dass er das hören kann, aber ich nehme nur das Echo meiner Stimme wahr, und Daddy gibt keine Antwort.





    Es ist ein wunderschöner Sommerabend; in der Luft liegt der Duft von frisch gemähten Wiesen, und die Schwalben sausen umher. Ich kann wieder alles hören, wie damals bei Bella. Ich höre, wie der Weizen heranreift. Wir sehen uns Die Schwestern Mortland sehr lange an, mein Vater und ich.
    Ich glaube, Daddy findet Lucas´Werk anrührend und eindrucksvoll. Er seufzt. Meine geliebten Töchter, sagt er, so leise, dass ich ihn kaum hören kann. Das Porträt kommt der Wirklichkeit sehr nahe, und ich sehe Tränen in seinen Augen.
    Dann zeige ich ihm noch die vier Zeichnungen, die Lucas von mir gemacht hat: Maisie im Frühling, Sommer, Herbst und Winter - und verändert. Ich sehe erwachsen aus auf den Bildern, hochgewachsen und elegant, nicht abnorm oder sonderbar. Daddy betrachtet die Zeichnungen eingehend, dann schließt er mich in die Arme und sagt: Ah, Maisie. Weine doch nicht. Ich verstehe. Ich verstehe.

  • Ps: Als kleiner Tipp um alles besser zu verstehen, hoffe ich, das ihr euch die Überschrift des 1. Kapitels gut eingeprägt habt und das ihr hier gut auf die Zeit (Jahres/Monat/Tag) Angaben schaut.




    Teil 4: Retrospektive!
    Kapitel 9: Korrespondenz!

    5. August 1989, 2:15Uhr, Fax von: Daniel Nunn, The Oriental Hotel, Bangkok, an: Jonathan Aske, The Royal Academy, London
    Jonathan - natürlich erinnere ich mich noch an dich aus der College-Zeit. Es ist zwanzig Jahre her, doch die Erinnerung ist unauslöslich. Tut mir Leid, das du viermal schreiben musstest, und das auch noch ausführlich - ich bin ständig woanders, arbeite an mehreren Kampagnen gleichzeitig. Ich weiß, das du auf Antwort wartest, deshalb schicke ich dir diesen Brief per Fax.
    Um wenigstens einige deiner Fragen zu beantworten: Ja, Lucas hat mir von der Retrospektive erzählt, aber ich wußte nicht, dass sie von dir organisiert wird. Und mir war auch nicht bewußt, dass so viele frühere Werke von ihm ausgestellt werden sollen. Das Die Schwestern Mortland Teil der Ausstellung sein muss, leuchtet mir ein. Über dieses Bild ist soviel gestritten und spekuliert worden, das ist Pflichtprogramm. Aber ich verstehe nicht, dass Lucas eingewilligt hat, die Zeichnungen zu zeigen, die er 1967 von Maisie, Julia und Finn gemacht hat.
    Steht das wirklich fest? Er hat noch nie zugelassen, dass diese Zeichnungen ausgestellt werden.
    Du sagst, du betrachtest das als >>Riesenerfolg<<. Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschließen. Jener Sommer in der Abtei nahm ein schlimmes Ende, und ich ziehe es vor, nicht mehr daran erinnert zu werden. Ich möchte die Mortlands nicht aufstören in ihrer Trauer, und es spielt auch keine Rolle, ob das alles vor zwanzig oder vor zweihundert Jahren passiert ist. Ich werde also keine Hintergrundinformationen liefern und auch deine Fragen nicht beantworten. Wenn Lucas die Absicht hat, diese Zeichungen auszustellen, so will ich jedenfalls nichts damit zutun haben.
    Was Trinity Daniel betrifft: Ja, es handelt sich dabei um Kohle - und Bleistiftzeichungen, drei Porträts von mir - eine Art Triptychon, wie Lucas sagte. Es entstand 1967 nach unserem Abschluß innerhalb mehrerer Stunden, an dem Tag, bevor wir in die Abtei fuhren, und zwar in meinem Zimmer im Whewell`s Court am TrinityCollege. Einzig aus diesem Grunde trägt es diesen Titel. Ich wüßte nicht, was es sonst noch für Gründe für diesen Titel geben sollte. Wer denkt das und weshalb?
    Und, ja, es gehört mir: Lucas hat es mir geschenkt. Da ich umziehe, befindet es sich zur Zeit in einem Lager, und da wird es vorerst wohl auch bleiben, denn ich habe keine Ahnung, wann ich Zeit für den Umzug haben werde. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich es überhaupt ausgestellt sehen möchte.


    Ich verlasse Thailand morgen und bin nicht mehr zu erreichen. Ich werde erst in mehreren Monaten nach England zurückkehren.
    An deiner Stelle würde ich mir gut überlegen, ob ich diese Zeichnungen ausstelle.
    Daniel Nunn







    5. August 1989, Brief von Daniel Nunn, The Oriental Hotel, Bangkok, an Lucas Field, Notting Hill, London
    Lieber Lucas,
    du Dreckskerl - was hat es mit dieser Retrospektive auf sich?
    Du hast mir kein Wort davon gesagt. Irgendein Kurator namens Jonathan Aske oder Arschi verfolgt mich - hast du den auf mich gehetzt? Er behauptet, er sei mit uns in Cambridge gewesen. Ich erinnere mich nicht im geringsten an ihn, und er ist ein echtes *********, ein Blutsauger und aufgeblasener bösartiger Mensch. Er hat mir sechs Briefe geschrieben, von denen ich die ersten beiden verloren und die restlichen vier nicht beachtet habe, aber er kapiert es einfach nicht. Er hat meine Assistentin in London letzte Woche achtmal angerufen. Jetzt ist er an die Nummer des Hotels hier gekommen und hat schon zweimal hier angerufen - ich war zum Glück an beiden Tagen am Set und bin ihm entgangen.
    Ich habe ihm gerade ein Fax geschickt und ihm mitgeteilt, er soll sich verpissen.
    Er wollte wissen, on ich ihm Trinity Daniel für die Ausstellung zur Verfügung stellen würde - zumindest hat er das vorgeschoben. Danach hat er nämlich x Fragen gestellt zu dem Sommer in der Abtei, schleimig umschrieben als "die Tragischen Ereignisse". Ich habe keine davon beantwortet. Ich will nicht mehr an diese Zeit erinnert werden. Es war ein so außergewöhnlicher Sommer: Alles schien möglich, wir hielten die Zukunft in den Händen, und dann plötzlich - es war wie in Liebes Leid und Lust: Auftritt des Mercade, des Todesboten. Ich habe das nicht geahnt, obwohl ich es wohl hätte ahnen sollen. Vielleicht hast du es vorhersehen können.
    Tut mir Leid, Lucas, es ist drei Uhr morgens, und ich kann nicht schlafen. Es ist eine dieser Nächte, in denen ich von der Vergangenheit eingeholt werde. Ich mußte meinen wöchentlichen Anruf bei meinen Vater machen - dem es nicht gut geht -, und das ist immer schwierig für mich. Dann mußte ich zusehen, dass ich diesen Aske loswerde. Ich weiß, das es sinnlos ist, dich anzurufen, man kriegt ja doch nur diesen verfluchten Anrufbeantworter zu hören. Deshalb schreibe ich. Ich wünschte, ich könnte mit dir reden. Aske schreibt, du hättest eingewilligt, die Zeichnungen von Finn, Maisie und Julia in die Ausstellung aufzunehmen - ich mag einfach nicht glauben, dass das stimmt.
    Gott, bin ich deprimiert. Ich hasse Bangkok - ein übler Ort, an dem es nur so wimmelt von fetten Kinderschändern und Sextouristen. Luftfeuchtigkeit hundert Prozent, und das bei 33 Grad. Ich brenne dieses Rauchkreuz gegen die Moskitos ab, was völlig sinnlos ist - ich kann kaum atmen wegen dem Gestank und werde trotzdem gestochen. Ich bin total geladen und habe sechs fünfzehn-Stunden-Arbeitstage hinter mir. Dieser neue Star-Regisseur ist eine Plage, er überzieht das Budget endlos - der Spot läuft aus dem Ruder, und ich kriege es nicht in den Griff. Das Ganze ist wie ein schlechter Trip. Morgen haben wir an die tausend Statisten, aber heute hatten wir eine ganz simple Sache, nur eine Orientierungseinstellung von der TAA-Maschine auf dem Rollfeld. Wunderkind hat den gesamten Vormittag dafür gebraucht, am Licht rumgefummelt, die Kamera umgestellt. Man hätte es in einer Stunde schaffen können, aber Ingmar brauchte wahrhaftig 35 Takes.
    Vor zwanzig Jahren hätte ich meine Seele verkauft, um eine so große Kampagne an Land zu ziehen; warscheinlich habe ich es auch getan vor zwanzig Jahren. Jetzt sind zuviele Leute hinter mir her. Zu viele Flugzeuge, Hotelzimmer, aufgeblasene Egos und gottverfluchte ätzende Blödheit - du kannst es dir vorstellen. Und vermutlich auch zuviel Brandy. Das Thai-Zeug hier schmeckt eklig, aber es hilft mir wenigstens beim Einschlafen.
    Schick mir eine deiner Postkarten, Lucas, das würde mich aufheitern. Schick sie ans Lutetia in Paris, dort bin ich nächste Woche. Sag mir, das es diese Retrospektive nicht geben wird. Sag mir, dass du diese Zeichnungen bei dir zu Hause an der Wand hängen läßt. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass sie der Neugierde dieser sensationslüsternen Horden ausgesetzt werden. Sag mir - ach, ich weiß nicht -, das wir nichts tun konnten, dass wir es nicht ahnen konnten, dass es nicht unsere Schuld war.
    Sag mir, dass du lebst - das erinnert mich vielleicht daran, dass ich auch lebe.
    Dan










    10.8.1989, Postkarte von Lucas Field, London, an Daniel Nunn, Hotel Lutetia, Paris
    Lieber Dan, was ist los mit dir?
    1.) Du erinnerst dich sehr genau an Jonathan Aske. Er spielte den Leartes in deiner Brecht´schen Hamlet-Inszenierung im ADC Theatre in Cambridge. Ich weiß nicht, ob er ein Blutsauger ist, und es ist mir auch einerlei. Er ist nützlich, damit hat es sich.
    2.) Die Retrospektive ist von mir abgesegnet. Ich stelle Die Schwester Mortlands und sämtliche vollständigen Zeichnungen von Maisie, Julia und Finn aus. Trinity Daniel will ich auch dabeihaben, sei also bitte nicht so kompliziert.
    3.) Was in diesem Sommer geschah ist gegenwärtig nicht mehr wichtig. Meine Arbeit schon.
    4.) Ich habe nichts vorhergesehen, so wenig wie du. Wie sollten wir auch? Wenn man Unfälle vorhersehen könnte, wären sie keine Unfälle, n´est-ce pas?
    5.) Ich lebe - ganz und gar. Du auch. Du solltest dir nur einen anderen Beruf suchen. Wie können Werbeagenturen alles Ernstes Wörter wie "kreativ" für sich in Anspruch nehmen? Das ist schädlich. Und ich hatte dich gewarnt.
    Lucas









    12. August 1989, Postkarte von Daniel Nunn, Paris, an Lucas Field, London

    Tut mir Leid, Lucas. Keine Sorge - ich habe nur gerudert, ich ertrinke nicht. Wenn ich Trintiy Daniel finden sollte, stelle ich es dir vielleicht zur Verfügung. Sag bloß diesem Aske, er soll mich in Ruhe lassen. Morgen bin ich in New York, dann in L.A. und Tokio. Melde mich, wenn ich wieder da bin. Das "nicht mehr wichtig" war unmenschlich, aber ich denke, das weißt du.
    Dan








    27. Dezember 1989, Postkarte von Lucas Field an Daniel Nunn, Highbury Fields, London N5
    Dan - wo steckt du? Seit Monaten hat niemand von dir gehört. Diese TAA-Spots müssen doch inzwischen im Kasten sein? Ich habe es bei dir zu Hause versucht, aber da war keiner. Letzte Woche meinte eine Frau auf einer Party, du seist in Tokio; jemand anderer sagte, in New York. Ich habe deine Agentur angerufen, aber die sind verstockt und rücken keine Adresse raus. Hör zu, Weihnachten ist vorbei; willst du nicht mal reinschauen und mit mir auf das neue Jahrzehnt anstoßen? Ruf mich doch an, wenn du in London bist. Nur wir zwei - keine Exfrauen, ich versprech´s.
    Lucas
    Ps: Du bist nicht sauer auf mich, oder? Wäre schade. Wir sind doch schon so lange Freunde.









    1. Januar 1990, Brief von Joe Nunn, 29 The Street, Wykenfield, Suffolk, an Daniel Nunn, Highbury-Fields, London N5
    Mein lieber Sohn,
    hat mir gut getan, gestern Abend mit dir zu sprechen. Hab mich gefreut zu hören, dass du bald heimkommst und an Silvester an deinen alten Paps denkst. Mach dir bloß keine Sorgen wegen mir, ich bin putzmunter. Sitze am Kamin mit meinen neuen Pantoffeln. Sie passen wir angegossen. Hector McIver war heute Mittag hier, wird seinen Vater Angus immer ähnlicher und hat ein Händchen für die Elektrik, jedenfalls ist der neue Fernseher jetzt angeschlossen. Hector meint, so einen großen Bildschirm hätte er noch nie gesehen - hat für Aufsehen gesorgt im Dorf, das kann ich dir sagen. Wie du es geschafft hast, den und die Pantoffeln von der anderen Seite des Erdballs zu schicken, ist mir ein Rätsel. Und deine Stimme so klar und deutlich gestern Abend, du hättest nebenan sein können und nicht in einem Hotel in Tokio, ich kann es kaum glauben. Ich wünschte, deine Großmutter wäre noch da und könnte das erleben. Dein Weihnachtsgeschenk ist verpackt, Hector hat gesagt, wir sollen es lieber nicht schicken. Ich hab mich aufgeregt deswegen, aber er meint, du seist so viel unterwegs, ich soll es lieber hier in Wykenfield lassen, bis du wieder herkommst. was hoffentlich bald ist, Danny. Ist immer ein großer Tag für mich, wenn ich meinen prima Jungen zu Gesicht kriege, das weißt du ja.


    Hier gibt es nicht viel zu berichten. Alles ruhig - im Osten nicht Neues, wie du immer gesagt hast, das weißt du bestimmt noch. Hector denkt daran, auf Acre Fields Raps anzupflanzen, dann wäre auch noch die letzte Wiese verschwunden, aber er hat sich noch nicht endgültig entschieden. An dem Gerücht, dass die Abtei verkauft worden sei, ist nichts dran. Das Haus ist immernoch verschlossen und verriegelt und verfällt, genauso wie mein guter alter Gemüsegarten, in dem jetzt nur noch Ampfer wächst und Nesseln. Ich war nicht viel draußen, weil das Wetter schlecht ist und es schneien soll. Gibt nicht viel zu sagen, außer das hier alles läuft, ich kann nicht klagen und hab viel Spaß mit dem neuen Fernseher. Ich hab nach der Werbung geguckt, wie du gesagt hattest. Nach den Nachrichten kam sie schließlich. War ein bisschen spät für mich, aber hat sich gelohnt und ich hab ordentlich gelacht. Du konnest schon immer gut Witze machen, und ich war mächtig stolz auf meinen Sohn. Wie deine Großmutter zu sagen pflegte: Weiß gar nicht, wo du all die Schlauheit her hast, Danny.


    Ich bete, dass du ein schönes neues Jahr erlebst, das dir alle deine Wünsche erfüllt. Ein neues Jahrzehnt beginnt auch, und bald ein neues Jahrhundert und ein neues Jahrtausend, das ist allerhand, nicht wahr. Grüß deinen alten Freund Nick Marlow, wenn du ihn siehst. Er hat mir eine Weihnachtskarte geschickt. Ich denke oft an ihn, er war immer ein guter Freund für dich.


    Alles Liebe für dich, mein lieber Sohn. Sag mir doch Bescheid, ob du bald mal kommen kannst, aber nur keine Hast, ich weiß ja, wie viel du zutun hast. Sollte jetzt mal ins Bett, ich schick den Brief morgen ab.
    In Liebe dein Paps








    30.Mai 1990, Brief von Jonathan Aske, The Royal Academy, London, an Daniel Nunn, Highbury-Fields, London N5
    Lieber Daniel,
    gestern erhielt ich ein Paketm das zu meinem Erstaunen Lucas´Triptychon-Bild von dir im Trinity College enthielt. Ein Anschreiben lag nicht bei - vielleicht hattest du es vergessen beizufügen, aber ich gehe doch davon aus, dass du der Absender bist. Kann ich auch davon ausgehen, dass du damit deine Zustimmung zur Ausstellung des Werks gibst? Das wäre wunderbar, aber ich brauche noch deine Schriftliche Zusage. Ich weiß, dass du solchen Papierkrieg hasst, deshalb habe ich dir die notwendigen Formulare beigelegt. Schicke sie bitte so schnell wie möglich an mich zurück. Die Ausstellung wird erst in einige Monaten stattfinden, aber wir müssen vorher noch soviel erledigen - die Tücken der Bürokratie, so ist das leider.


    Ich hoffe sehr, dass du uns die Genehmigung erteilst, denn dieses Werk gehört zu den besten frühen Zeichnungen von Lucas und ist äußerst faszinierend als Ergänzung zu den Arbeiten von den Schwester Mortland. Es ist spannend, zu sehen, wie es ihm gelungen ist, unterschiedliche Aspekte deiner Persönlichkeit abzubilden, und er ist natürlich auch ein excellenter Zeichner. Ich fühlte mich sofort wieder in die 60er in Cambridge zurückversetzt. Was warst du doch für ein schmucker Rebell - der Bilderstürmer des ADC Theatre und der Film-Society! Diese Anti-Vietnam-Demonstrationen, die du organisiert hast - eine aufregende Zeit!
    Doch 1967 war wohl ein tragisches Jahr für dich. Ich möchte dich wirklich nicht bedrängen, aber es wäre enorm hilfreich für mich, mehr über diesen Sommer in der Abtei zu erfahren; das schrieb ich dir, glaube ich, auch schon in einen früheren Brief. Ich bin gerade dabei, meinen Einführungstext für den Ausstellungskatalog fertig zu schreiben, und finde, dass er vorallem im biographischen Teil noch große Lücken aufweist. Du weißt bestimmt, das Lucas niemals Interviews gegeben oder öffentlich über seine Arbeit gesprochen hat. Seine Vergangenheit bleibt ein Buch mit sieben Siegeln - und ich akzeptiere das selbstverständlich. Er hat mir allerdings nicht untersagt, meine eigenen Recherchen anzustellen und mit anderen darüber zu sprechen, und auf diesem Wege ist es mir gelungen, interessantes Material über die Zeit nach den 70ern zu erschließen. Zwei seiner Exfrauen haben mir - zu meinem eigenen Erstaunen - erhellende Informationen über ihre Porträts gegeben.
    Aber wenn ich versuche, an Hintergrundinformationen über die Schwestern Mortland zu kommen, ziehe ich immer wieder Nieten, was ich enorm frustierend finde. Das Bild ist ein Schlüsselwerk in Lucas´Opus, er ist damit berühmt geworden, und es hat die Betrachter immer sehr gefesselt und beschäftigt. Wie du sicher weißt, hat sich auch die akademische Welt eingehend damit befasst. Das Bild ist auf vielerlei Weise interpretiert worden, doch meiner Ansicht nach ist noch nirgendwo die eigenartige Ausstrahlung und die starke Kraft des Bildes ausreichend erklärt worden. Es wurde auch Objekt von spekulationen der niedrigsten Art. Unter den gegebenen Umständen ließ sich solcher Klatsch nicht vermeiden. Ich brauche wohl nicht extra zu erwähnen, dass ich mich von dieser Art von Erwägungen selbstverständlich fern halte.


    Ich habe mit den anderen Leuten gesprochen, die sich in jedem Sommer in der Abtei aufhielten (Lucas ist übrigens im Bilder darüber). Der Großvater weilt nicht mehr unter den Lebenden - was bedauerlich ist, denn er scheint ein vergnüglicher alter Knarbe gewesen zu sein, wenn auch vielleicht nicht gerade der Hellste. Stella Mortland hätte mir gerne geholfen, doch sie mochte nicht über die Zeit damals sprechen, die nach wie vor zu schmerzhaft für sie ist. Ich habe sie kurz getroffen und fand sie sehr schwer einschätzbar; sie machte einen gehetzten, verschlossenen Eindruck auf mich - von diesem Schicksalsschlag wird sie sich wohl niemehr erholen, fürchte ich. Doch es war recht unfreundlich, dass ich bis nach Cornwell (sie lebt mit einem Maler bei St.Ives) fuhr, um dort höflich abgewiesen zu werden. Das hätte sie mir auch am Telefon sagen können, und sie hätte mir auch unbedingt den Anblick der grässlichen Klecksereien ihres Liebsten ersparen können. Sie war rührend bemüht darum, sie mir zu zeigen, und ich fürchte, sie gab sich der Vorstellung hin, ich könnte "etwas für ihn tun". Wie du dir sicher denken kannst, flüchtete ich so rasch wie möglich.


    Mit Nickolas Marlow habe ich auch gesprochen. Er ist ja ein sehr angesehener Arzt, und seine professionelle Einschätzung der Ereignisse damals wäre mir sehr wertvoll gewesen. Doch er meint leider, das man daran nicht mehr rühren soll, und er hatte aufgrund seiner vielen Verpflichtungen auch keine Zeit für ein Treffen.


    Julia Mortland (diese Frau ist eine force de nature!) hat mich unterstützt, allerdings bin ich mir nicht sicher, wie verlässlich sie ist. Ihre Schwester - nun, sagen wir einfach, ihre Schwester war nicht gesprächsbereit.
    Damit bleibst mir nur du. Du hast eine besondere Stellung inne, da du alle drei Schwestern von Kindesbeinen an kanntest. Du standest Lucas nahe und warst in der Abtei sowohl ein In - als auch ein Outsider - du gehörtest dazu, hattest aber auch Abstand zum Geschehen. Deshalb war ich schon immer der Überzeugung, dass deine Einschätzung treffender sein würde als die aller anderen. Ich würde dich gerne zum Mittag - oder Abendessen treffen, um darüber zu sprechen. Du könntest dich auch darauf verlassen, das ich nichts Indiskretes veröffentlichen würde, du könntest darüber selbst bestimmen. Mir geht es einzig und allein darum, Hintergrundinformationen zu diesen außergwöhnlichen Zeichnungen und zu Die Schwestern Mortland zu erarbeiten, was ich für eine von Lucas´herausragendsten Arbeiten erachte.
    Mir liegt nichts daran, weiter darüber zu spekulieren, ob der Sturz ein Unfall oder Vorsatz war. Ich habe auch kein Interesse daran, mich mit den Liebesangelegenheiten zu befassen. Darüber ist schon genug geklatscht worden. Die Leute sind offenbar höchst fasziniert von der Beziehung von Lucas zu den Schwestern, doch ich bin der Überzeugung, dass mich das nichts angeht. (Obwohl ich gestehen muß, das ich mich der Faszination nicht ganz entziehen kann - sie sind besondere Wesen, nicht wahr?)


    Nein, was ich bräuchte, wären deine Eindrücke von der Abtei, von Luca´s Arbeitsweise, von den Mortlands und so fort. Wenn du mir einen Einblick verschaffen könntest in das, was ich als "Gruppendynamik" bezeichne, wäre das enorm wertvoll für mich. Hilfreich wäre auch eine präzisere Zeitzuordnung. Wenn ich das Recht verstanden habe, begann Lucas mit der Arbeit an den Zeichnungen und an dem Porträt Mitte Juni, als du mit ihm in der Abtei ankamst. Im Juli stellte er die Zeichnungen fertig und fuhr am 21. für ein paar Tage nach Cambridge. Bei seiner Rückkehr arbeitete er konzentriert an dem Porträt, das er dann Anfang August vollendete und der Familie zeigte, eine Woche vor der Tragödie.


    Diese Zeitablauf war wasser auf die Mühlen der feministischen Kritik; diese Frauen sind wirklich eine Plage. Da wurde behauptet, das Porträt habe wie ein Katalysator gewirkt und die traurigen Ereignisse dieses Sommers erst ausglöst - derlei Idiotien, versteht sich, vom radikaleren Flügel der Schwesternschaft. Ich habe keinerlei Verständnis für solche Argumentationen. Allein die Formulierung "der männliche Blick" ist für mich schiere Heuchelei. Dennoch muß man damit rechnen, dass die Ausstellung erneut derartige Kontroversen auslösen wird, weshalb ich froh wäre, diese Spekulationen ein für allemal aus der Welt schaffen zu können. Ein besseres Verständnis der zeitlichen Abfolge der Geschehnisse wäre dabei äußerst hilfreich.
    Wenn ich Lucas nach exakten Daten frage, weicht er aus, wie es eben so seine Art ist, weshalb jede Bestätigung oder Ergänzung von dir unschätzbar wertvoll für mich wäre. Ich frage mich, ob du vielleicht zufällig Tagebuch geführt hast?
    Oder von jemanden weißt, der eines hatte?
    Verzeih mir all diese Fragen. Ich will deine Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Doch es war sehr aufregend für mich, diese Zeichnung von Lucas in Händen zu halten, und ich bin seither auch noch entschlossener, all diese Rätsel zu lösen.
    Bitte melde dich. Es sind nun neun Monate vergangen, seit ich zuletzt von dir gehört habe, und es erweist sich als nahezu unmöglich, dich aufzuspüren. Ich hoffe zuversichtlich, dass es dir gut geht.
    Herzliche Grüße
    Jonathan








    18. Dezember 1990, Brief von Nickolas Marlow, Duncan Terrace, London N1, an Daniel Nunn, 29 The Street, Wykenfield, Suffolk
    Lieber Dan,
    gerade habe ich vom Tod deines Vaters gehört - das war ein schwerer Schock für mich, und ich bin sehr traurig. Er war ein wunderbarer und gütiger Mann, einer der Säulen meiner Kindheit, und ich habe ihn immer tief verehrt und bewundert. Ich wußte nicht einmal von seiner Krankheit. Ich hatte letzte Weihnachten von ihm gehört - wir schrieben uns immer Weihnachtskarten -, und als ich zum letzten Mal in Suffolk war, habe ich ihn besucht, aber das ist schon Jahre her. Es fällt mir schwer, dorthin zu fahren - zu viele Erinnerungen. Nun wünschte ich, ich hätte ihn nocheinmal besucht. Er war so stolz auf dich, Dan, er war ein Bindeglied zu unserer Vergangenheit und so ein großartiger Mensch. Wykenfield ohne ihn mag ich mir gar nicht vorstellen.


    Ich habe es folgenermaßen erfahren: Meine Eltern haben das alte Pfarrhaus verkauft, als mein Vater in den Ruhestand ging, erinnerst du dich? Sie leben noch immer in dem Haus, das sie sich in Irland gekauft haben, aber meine Mutter hält Kontakt zu einigen ihrer alten Freunde in Wykenfield. Sie hat von Angus McIvers Witwe Flora vom Tod deines Vater gehört und mich sofort angerufen. Sie sagte, du seist seit Mai in Wykenfield und hättest in den vergangenen sechs Monaten deinen Vater gepflegt.
    Dan, ich wünschte inständig, du hättest mir Bescheid gesagt - warum hast du das nicht getan? Lucas und ich und all unsere Freunde in London machen uns nun seit einem Jahr Sorgen um dich. Im einen Monat warst du in Tokio, im nächsten warst du wie vom Erdboden verschluckt. Und nun erfahre ich, dass du gar nicht im Ausland warst, wie alle glaubten, sondern in Wykenfield - wo dich keiner vermutet hätte.
    Du hast gewiss eine schlimme Zeit hinter dir. Flora McIver sagte, dein Vater habe Krebs gehabt - mehr weiß ich nicht. Warum hast du mich nicht angerufen, Dan? Du weißt, das ich spezialisiert bin auf Krebserkrankungen. Ich hätte ihm auch helfen können, wenn keine Behandlung mehr möglich gewesen wäre, und das hätte ich sofort getan, das kannst du doch wohl nicht bezweifelt haben? Ich hätte auch zur Beerdigung kommen wollen. Das ich nicht da war, schmerzt mich mehr, als ich sagen kann - Finn geht es genauso. Sie hat heute zufällig angerufen, und ich habe mit ihr darüber gesprochen. Ich dachte, sie wüßte Bescheid - ich war sicher, dass du sie angerufen hättest, aber sie ist wohl sehr schwer zu erreichen, weil sie so viel unterwegs ist. Sie war sehr vertsört und läßt dir liebe Grüße ausrichten. Wie ich verehrte sie Joe und fand die Vorstellung furchtbar, dass du das alles allein durchstehen mußtest.
    Dan, irgendwas läuft schrecklich schief, nicht wahr? Und auch schon vor Beginn der Krankheit deines Vaters, oder? Mir sind diverse Gerüchte zu Ohren gekommen, die Julia in den Fernsehsendern aufgeschnappt hat. Es heißt, es hätte eine Art Umsturz in deiner Agentur gegeben. Es heißt, du seist krank gewesen oder hättest eine Art Zusammenbruch gehabt. Sie reden viel Blödsinn, den ich nicht beachte. Du bist mein bester und ältester Freund. Ich möchte, dass du selbst mir erzählst, was los ist und wie ich dir helfen kann, falls du Hilfe brauchst.


    Lucas behauptet, deine Probleme fingen an, als es zum ersten Mal um diese verfluchte Retrospektive ging. Er meint, das hätte Erinnerungen an den Sommer in der Abtei ausgelöst. Er glaubt, dass du dir immer noch die Schuld an dem gibst, was Maisie zugestoßen ist. Ich weiß nicht, wie du auf so eine Idee kommen kannst. Du hattest keinerlei Schuld daran, keiner von uns - wir haben nur einen Fehler gemacht: den gefährdeten Zustand eines Menschen nicht zu bemerken.
    Nun, das wird mir kein zweites Mal passieren. Du hast drei Tage, um diesen Brief zu beantworten. Wenn ich bis dahin keine Antwort von dir habe, komme ich nach Wykenfield und suche dich.
    Ein letzter Gedanke - ich will noch zum Briefkasten. Als ich dich zum letzten mal getroffen habe, hast du morgens Pillen zum wachwerden und abends Pillen zum einschlafen genommen. Ich habe dich damals schon davor gewarnt. Wenn du die immer noch schluckst, dann hör jetzt damit auf. Und auch mit anderen Sachen, die du womöglich außerdem nimmst.
    Wenn du das nicht hinkriegst, helfe ich dir dabei.
    Nick








    19. Dezember 1990, Brief von Daniel Nunn, 29 The Street, Wykenfield, an Nickolas Marlow, London N1
    Das war ein guter Brief, Nick, und ich weiß ihn zu schätzen. Früher fand ich das Wort "schätzen" blöde - hörte sich so nach Geldwaage an. Aber in den letzten Monaten habe ich die Bedeutung dieses Wortes erst richtig verstanden. Jetzt weiß ich alles zu schätzen - und es ist zu spät dafür. Ich habe meinen Vater jeden Sonntagabend angerufen, aus allen Ecken der Welt. Ich habe ihn gefragt, wie es ihm geht, und er sagte immer, >>ich kann nicht klagen<<. Geklagt hat er auch nie, über nichts - nicht über den Tod meiner Mutter, nicht über die fünf Jahre, die er sich um Bella kümmerte, nachdem sie Alzheimer bekam, die ganze Schufterei für einen Hungerlohn, die Bruchbude, in der er sein Leben zubringen mußte und die ihm nicht einmal gehörte, nachdem er fünfzig Jahre lang Miete dafür bezahlt hatte. Er hat auch nicht geklagt über den Sohn, der sich seiner schämte und nur darauf gewartet hatte, abzuhauen von zu Hause. Und er klagte auch nicht übers Sterben.
    Er hielt es einfach aus. Das macht mich wirklich fertig. Ich breche in den sonderbarsten Momenten in Tränen aus. Beim Begräbnis habe ich nicht geweint, aber angesichts einer Cornflakes-Packung im Supermarkt in Deepden am nächsten Tag - wieso? Es ist schwierig für mich, das zu begreifen, aber ich trauere um Joe. Ich beweine meine Fehler. Und - ja, du hast Recht - ich trauere auch um Maisie. Ich weiß nicht einmal genau, warum, ich schaue einfach zurück in diese scheiß Vergangenheit. Das ist letztlich unsinnig, ich weiß, aber ich bin zur Zeit in keiner guten Verfassung, deshalb möchte ich dich bitten, mich jetzt nicht zu besuchen.
    Ich muß eine Weile allein sein. Bitte erlaube mir das. Die McIvers - Flora und ihr ältester Sohn, Hector, du erinnerst dich sicher an ihn - haben sich rührend um Dad gekümmert und nehmen sich derzeit auch meiner an. Sie sagen, ich brauche das Haus noch nicht auszuräumen und kann gerne noch eine Weile hier bleiben. Im Moment kann ich die Vorstellung nicht ertragen, Dads und Bellas Sachen durchzusehen. Ich habe immer wieder versucht, Dad zum Umziehen zu bewegen - ich wollte ihm ein Cottage im Dorf kaufen, und vor ein paar Jahren hätte sich die Gelegenheit ergeben -, doch er wollte nichts davon hören. Hier hat sich also nichts verändert, alles ist noch genauso, wie du es erlebt hast: die Fotos von Ocean, die Tarot-Karten, Joes Urkunden vom Pflügen - im Küchenregal stehen sogar noch neun Kristallkugeln. Wenn ich die anschaue, weiß ich nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Ich bin offenbar unbeleckt geblieben von der Hellsichtigkeit: ich bin scheiß blind durch mein Leben getaumelt. Es ist nicht leicht, sich hier zwischen diesem ganzen Nippes und Krimskrams aufzuhalten, der für anderen Menschen bedeutungslos ist - nur für mich nicht.


    Ich bleibe also vielleicht vorerst hier und nehme das in Angriff, oder ich komme für eine Weile nach London und gehe dann hierher zurück - ich weiß es im Moment noch nicht. Aber ich nehme mir deinen Rat zu Herzen: Ich habe die ganzen Muntermacher weggeschmissen. Ich gebe dir mein Wort, ich hab den ganzen Plunder in den Mülleimer gefeuert, und es war tatsächlich nicht mal so schwer, weil ich schon seit Monaten versucht habe, davon runterzukommen.
    Ich komme dich bald besuchen. Ich werde mich melden. Es tut mir Leid, dass ich nichts habe hören lassen, aber auch du hättest nichts ändern können. Keiner hätte etwas ändern können - die Krankheit war zu weit fortgeschritten. Es war nur noch eine Frage der Schmerzbekämpfung. Es würde mir gut tun, dich zu sehen, Nick, und mit dir zu reden, wie früher. Ich möchte über Dad sprechen - ich möchte über Maisie sprechen, wie es passiert ist, warum sie es getan hat. Ich möchte über den Sommer sprechen, in dem alles kaputtging. Ich habe das Gefühl, dass noch irgendwo eine Wahrheit zu finden ist, die wir alle übersehen haben. Und du könntest mir vielleicht dabei helfen, sie zu finden. Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir Blutsbrüder geworden sind? Ich war etwa sechs Jahre alt, und du mußt acht oder neun gewesen sein, und wir hatten im Teich bei der Abtei geangelt. Du wolltest Barsche fangen - es gab viele Barsche dort. Ich hoffte auf einen Hai. Plus ca change ...
    denke ich manchmal.
    Sag Finn liebe Grüße, wenn sie mal wieder anruft, ja? Und grüß deine Familie - Fanny, die bestimmt jetzt schon erwachsen ist, und den kleinen Tom - erinnert er sich noch an mich? Ich denke oft an euch, an dich.
    Alles Liebe für dich, Nick,
    von deinem wahrhaft dankbaren Blutsbruder
    Dan


  • Also, jetzt schreib ich dir ersmal auch ein kommi. Ich verfolge deine Fs schon länger und find sie wirklich echt toll! Großes Lob!Ach die Bilder sind immer klasse.:applaus
    Nun zu dem text: Also nach den Briefen(die ja 20?:misstrau Jahre danach entstanden) ist Maisi also tot. So wie ich es verstanden habe hat sie sich umgebracht?! :confused:Ist das richtig? Weil an einer anderen Stelle wird gesagt es sei ein Unfall gewesen.... Naja, cih hoffe wir bekommen bald ein paar Antworten^^
    Du musst wissen das ich deine Story weiterlese, aber nicht immer ein Kommi schreibe. Ich bin eher ein stiller Leser und denke mir meinen Teil dazu.;)

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    Du kannst dem Leben nicht mehr Tage geben, aber dem Tag mehr Leben:)!
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  • Followingini: Ja, das hast du richtig erfasst. Meine kleine süsse Maisie ist tot, ob Selbstmord oder nicht, wird aber noch nicht verraten!


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    Teil 5!
    Der Gehängte



    Diese Woche nimmt Hotline sich den angesagten Kreativdirektor Dan Nunn vor. Er kommt gerade aus der Concorde und könnte eine Rasur gebrauchen, aber so sieht´s aus auf der Überholspur im Werbebusiness.


    HL: Was ist das Geheimnis von erfolgreichen Werbetexten, Dan?
    DN: Kürze. Zehn Wörter maximum. Oh, und Bilder mit Titeln dazu.


    HL: Hey, nicht sarkastisch werden! Wie stellen Sie sich auf ihre Zielgruppe ein?
    DN: Biblisch denken. Begierde, Gefräßigkeit, Neid, Angst auslösen. Haut immer hin.


    HL: Schwerer Stoff! Was befriedigt Sie am meisten am Ihrem Job?
    DN: Zufriedenheit läßt sich nicht dosieren. Entweder man ist es oder nicht.


    HL: Hey, das ist pedantisch! Nicht so negativ! Worum geht es in Ihrem Job?
    DN: Kapitalismus. Die Werbung kann noch so toll sein, wenn nicht verkauft wird, taugt sie nichts.


    HL: So sieht´s aus. Zukunftspläne?
    DN: Schlafen. Ich hab seit vier Tagen keinen Schlaf gekriegt. Schlaf wär jetzt klasse.


    Hotline, Media Today, Metro Radio, Mai 1988



    Der Superstar der Werbeszene und Sixties-Wegbereiter Dan Nunn hat sich von seiner Agentur Nunn Löwe Ridley Fletscher Wally getrennt, die er 1986 gegründet hat. Seit Monaten hieß es, im Sitzungssaal flögen die Fetzen. Nunn, der eine rekordverdächtige Anzahl von Preisen gewonnen hat, steht Highlight wie den Nicey-Spicey-Spots, mit denen der Absatz in sechs Monaten um 250 Prozent gesteigert wurde. Aus seiner Feder stammt die berühmte "So oder so" Kampagne, und mit der aufrüttelnden Tv/Kino/Plakatwand-Attacke "Eine Hand voll Erde" hat er sich 1988 den D&AD President´s Award geholt. Nunn gibt keinen Kommentar ab und hält sich derzeit angeblich in Tokio auf, wo er die TAA-Kampagne, ein 10,5-Millionen-Projekt, abdreht. "Die Trennung erfolgt in beiderseitigem Einvernehmen", verlautet aus anonymer Quelle bei Löwe Ridley Fletcher Wally. Im Auge behalten!
    Inside Track: Campaign, 1. Mai 1990




    Todesanzeigen:
    Am 1. Dezember 1990 verstarb Joseph John Nunn aus Wykenfield, Suffolk, nach langer schwerer Krankheit. Beisetzung: 5. Dezember, 11:00 Uhr, St. Etheldreda´s, Wykenfield. Blumenspenden bitte an den Paternoster & Gladhall Bestattungen, 5 The Street, Deepden; Geldspenden an die Krebshilfe.
    West Suffolk Clarion, 20. November 1990

  • Maisie... tot? Einfach so... tot?
    Ach verd*mmt, dabei ist gerade sie mir am sypatischsten, besonders mit ihrer Gabe bzgl. der Nonnen und ihrer heiteren Art. Hoffentlich wird klar was und warum, und hoffentlich war es wirklich "nur" ein Unfall, und nicht Selbst?mord.
    Das die anderen jetzt so im Geld zu schwimmen scheinen ist schon ein ziemlicher Wandel, damit hätte ich nicht gerechnet.
    Und so warte ich, da Du so herrlich ausdauernd und regelmäßig schreibst bestimmt nicht allzu lang, ab, was da noch kommen mag.
    :( Ich mag Maisie wirklich. Schade, schade...
    Liebe Grüße, cassio
    PS: der Titel von Teil 5 wird sich wohl noch erklären...

    [RIGHT][SIZE=1]'...sometimes it's cruel to be kind!'[/SIZE][/RIGHT]