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Und dann hörte sie doch etwas, ein Geräusch, dass sie zusammenfahren ließ. Denn es kam
nicht von draußen. Etwas...war...in diesem Raum. Ganz in ihrer Nähe. Am ganzen Leibe
zitternd, drehte sie sich um. Inzwischen hatten ihre Augen sich an das Dunkel soweit
gewöhnt, dass sie schemenhafte Umrisse um sich herum erkennen konnte. Und nun, da sich
ihre Sinne ganz auf ihre Umgebung konzentrierten, merkte sie auch, dass die Luft nicht
einfach nur dumpf war. Nein, ein schwacher, seltsam süßlicher Geruch lag über dem Raum,
der ihr Übelkeit verursachte. Am liebsten hätte sie sich einfach an die Wand gedrückt, doch
irgendetwas brauchte sie dazu, weiterzugehen.
Ihr Herz raste, hämmerte schmerzhaft in ihrer Brust, dass sie meinte, es müsse jeden
Augenblick zerspringen, ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Dennoch zwang sie
sich, vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis sie gegen etwas stieß, das sich direkt
vor ihr auf dem Boden befand und auf einmal einen Laut von sich gab.
„Madre de Dios!“ Mit einem Aufschrei sprang sie zurück und suchte Abstand zwischen sich
und dem Ding auf dem Boden zu bekommen. Eine Weile war nichts mehr zu hören außer dem
Schlagen ihres eigenen Herzens, das sich nur mühsam wieder beruhigte. Und dann, auf
einmal...war es wieder da, doch diesmal erkannte sie, was es war. Das Röcheln eines
Menschen.
Das Zittern setzte wieder ein, als sie erneut darauf zuging, doch diesmal war es nicht die
Angst vor dem Unbekannten, die sie zittern ließ, sondern die Furcht, dass sich die Vorahnung,
die sie auf einmal beschlich, als wahr erweisen könnte. Als sie aufs Neue auf den Widerstand
am Boden traf, blieb sie stehen und beugte sich herunter. Ohne Zweifel, da lag der Körper
eines Menschen. Und dieser Mensch lebte. Immer tiefer senkte sie den Kopf, um in sein
Gesicht zu sehen, und ihre Furcht wurde immer stärker und stärker. Bis sie direkt neben ihm
auf die Knie sank.
Ihre Finger tasteten sich über seinen reglosen Körper, sie spürte weichen Samt und
Spitzenborten, einen schweren Gürtel. Seine Hand zuckte zusammen, als sie ihn berührte, sein
Atem rasselte und er stöhnte leise einen Namen. Ihren Namen. Sie kroch auf allen vieren zu
seinem Kopf, starrte darauf hinunter, auf das wenige, das sie im Dunkel erkennen konnte und
wusste doch, dass ihr Herz sie nicht betrog.
„Nein...gütiger Gott, nein.“ Ihr gequälter Aufschrei hätte einen Stein zu Tränen gerührt. „Bitte
lass es nicht wahr sein. Es darf nicht wahr sein..“
Sie schob ihm die Hand in den Rücken, um ihn auf ihren Schoß zu ziehen und fühlte etwas
Nasses auf ihrer Haut. Etwas dunkles, von dem dieser süßliche Geruch ausging. Blut. Der
ganze Rücken war damit durchtränkt und sie wusste sofort, dass es keinen Sinn mehr hatte,
auch nur zu versuchen, die Blutung zu stoppen. Wer weiß, wie lange er schon hier lag und
dem Tod entgegen dämmerte.
„William!“ flüsterte sie verzweifelt. „Hörst du mich? Ich bin hier, bei dir. Du bist nicht
allein.“
Sie hatte keinen Zweifel mehr, wessen Werk das war. Aber sie verstand es nicht. Wie hatte
Stanley das tun können? Seinen eigenen Bruder zu ermorden. Warum? Aus Eifersucht? Er
liebte sie doch gar nicht. Aus gekränktem Stolz? Weil sie sich gegen ihn entschieden hatte?
„Großer Gott! Warum hast du das zugelassen, er ist sein Bruder, sein Bruder!“
Ungehindert rannen ihre Tränen die Wangen hinunter, tropften auf sein Gesicht, während sie
ihn sanft wie ein Kind in ihren Armen wiegte.
Allmählich schien sein leise rasselnder Atem wieder ruhiger zu werden, als würde er ihre
Gegenwart tatsächlich spüren. Seine Lippen murmelten leise immer wieder ihren Namen.
Und auf einmal streckte sich sein Körper mit einem tiefen Seufzer aus, sein Arm glitt
von ihrem Schoß, und es wurde ganz still.
Eine entsetzliche, ohrenbetäubende Stille, die selbst ihre Tränen für einen Moment versiegen
ließ. Zärtlich glitten ihre Finger über seine Wangen.
„Schlaf ...mein Liebster!“ hauchte sie und streifte seine Lippen zu einem letzten Kuss.
„Schlaf...und träume für uns beide. Vergiss mich nicht, vergiss mich ni....“ Die Starre fiel von
ihr ab, sie brach über seinem toten Körper zusammen, von ungehemmten Schluchzen
geschüttelt. Eine schiere Ewigkeit saß sie so auf dem Fußboden, weinend, bis sie keine
Tränen mehr hatte und blicklos vor sich hinstarrte. Sie sollte beten, aber sie fand keine Worte.
In ihrem Herzen war nur Trauer und Zorn. Ohnmächtiger Zorn.
Ihr war klar, dass Stanley nicht zurückkommen würde. Sie sollte hier sterben, genauso wie
sein Bruder. Nur zu ihm war er gnädiger gewesen. Ihr Leiden würde unendlich länger sein, ihr
Tod qualvoll und einsam. Vergessen von allen. Selbst von Gott!
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geht noch weiter