Beiträge von Innad

    Liebe Llynya,


    ich bin weiterhin bei Deiner Story mit dabei, bin aber im Kommischreiben noch nicht so viel unterwegs, darum wollte ich einfach nur mal wieder piepsen und Dir sagen, dass mir die letzten Kapitel sehr gut gefallen haben, die Spannung steigt kontinuierlich und inzwischen macht Elias sogar mir Angst, wie hat der sich doch zum negativen entwickelt - und man sieht ihm das auch sehr gut an, hast DU toll hinbekommen! Ich bin gespannt, ob Lina noch einmal mit heiler Haut davon kommt!

    Hui, was für eine "heiße" Fortsetzung! Also, dieser Englischlehrer ist mir etwas suspekt. Er fühlt sich von Sophia an seine kleine Schwester erinnert, findet sie aber gleichzeitig auch sexuell anziehend... das ist ja schon ziemlich seltsam, hin- und hergerissen. Auch dass er mit ihr in das Hüttchen gefahren ist, war meiner Meinung nach so zwiespältig. Er müsste sich ja eigentlich im klaren gewesen sein, dass dies die Situation nicht gerade entspannen wird. Trotzdem sehr aufregend diese Fortsetzung und mit einem Tick prickelnder Erotik in der Situation, hat mir gut gefallen. Ich bin ja mal gespannt, wie das zwischen den beiden noch weitergeht, letztlich muss der gute Mann einfach mal Stellung beziehen, für was er sich nun gegenüber Sophia hält - Lehrer, Freund, Liebhaber. Ich glaube, irgendwie will er zurzeit keines davon wirklich abgeben.

    Eine wohltuende Stille senkte sich über die Wohnung, als das Motorengeräusch ihres Wagens in der Ferne verklungen war. Tessa ließ sich neben Jess auf die Couch sinken und gemeinsam saßen sie eine Weile schweigend da, beide in ihre Gedanken versunken.
    Irgendwann war Jess derjenige, der das Schweigen brach. „Wow!“, stieß er hervor. „War das schräg… wow! Was… was sagst du?“



    Tessa sah ihn nun an und wusste nicht recht, was sie antworten sollte. „Ich… ich weiß nicht“, stieß sie schließlich hervor. „Ich bin völlig durcheinander. Aber wie muss es dir erst gehen?“
    Jess zuckte mit den Schultern und stieß die Luft aus. „Ich… ich weiß auch nicht. Es… ich denke, ich wache jeden Moment aus einem schrägen Traum auf oder so.“
    „Geht mir genauso“, sagte Tessa und lächelte ihn schief an.
    Nun mussten beide zu lachen anfangen.
    „Und? Was hältst du von dem allen?“, fragte Jess, nachdem er sich beruhigt hatte. „Denkst… denkst du, ich war zu voreilig? Ich meine… ich kenne diesen Mann doch gar nicht. Und… normalerweise denke ich gründlich über meine Entscheidungen nach… das ist eigentlich Bestandteil meiner Therapie gewesen, nichts mehr so Hals über Kopf zu entscheiden. Jetzt hab ich es doch wieder gemacht. Was, wenn ich eine falsche Entscheidung getroffen habe?“
    Tessa dachte einen Moment nach und erwiderte dann: „Das ist doch aber etwas anderes hier. Wann bietet sich einem schon einmal solch eine Gelegenheit? Und klar – du kennst diesen Mann kaum, er wirkte doch aber sympathisch, und immerhin kennt ihn meine Mutter gut. Und letztlich hast du doch nichts zu verlieren. Du bist immer noch an der Abendschule eingetragen und bleibst es erstmal, bis du ganz genau weißt, wie es weitergeht. Ebenso mit deinem Job. Wenn sich das alles als Flop herausstellen sollte, hast du nichts verloren, oder? Außer enttäuscht zu sein vielleicht. Aber da meine Mutter die beiden kennt, denke, das ganze ist vertrauenswürdig.“



    „Wahrscheinlich kommt es einem nur so seltsam vor, weil es so aus dem Nichts geschehen ist“, gab Jess ihr recht. „Wusstest du, dass deine Mutter dieser Frau van Bircken Bilder von mir gezeigt hat?“
    „Nein“, erwiderte Tessa wahrheitsgemäß. „Nein, aber wir haben einmal darüber gesprochen, dass sie die Frau eines vielversprechenden Galeristen kennt und darüber, dass sie diese ja einmal wegen dir ansprechen könnte… aber nie ernsthaft, ich wusste nichts genaues darüber. Bist du deswegen sauer?“
    „Nein“, antwortete Jess. „Nein – es wäre mir nur lieber gewesen, wenn ich es gewusst hätte.“
    „Das ist nun einmal meine Mutter“, seufzte Tessa lächelnd. „Manchmal schießt sie zu schnell.“
    „Aber sie meint es ja gut“, nahm Jess sie in Schutz. „Ich meine – wenn sie es nicht gemacht hätte, dann wäre das eben wohl auch nicht geschehen, oder?“
    „Nein, wohl kaum. Aber wie fühlst du dich damit?“
    „Ich weiß nicht… das ist alles noch so surreal für mich. Eine Kunstschule zu besuchen war zwar immer mein Traum, aber… ich dachte nie, dass sich das erfüllen könnte. Und ich dachte auch nie, dass ich wirklich Talent habe. Also vielleicht schon Talent, aber das ist brotlose Kunst, dachte ich. Vielleicht ist es das auch. Vielleicht sollte ich das doch nicht machen, eine vernünftige Ausbildung wäre sicher sinnvoller…“, setzte Jess an.
    „Aber Jess!“, rief Tessa aus. „Nun denk doch mal nach…“



    „Eduard van Bircken ist durchaus ein Name in der Kunst-Szene“, sprach sie dann weiter. „Ich kann ihn nicht genau zuordnen, habe aber schon einmal von ihm gehört. Soweit ich weiß, besitzt er auch mehrere Galerien und ist international unterwegs. Wenn dieser Mann es nicht beurteilen kann, wer dann. Ich denke schon, dass man ihm vertrauen kann, ich glaube nicht, dass er dir Hirngespinste ins Ohr setzen würde, wenn da nicht auch etwas wahres dran ist.“
    Sie sah Jess ernst an. „Er wirkte auf mich wirklich nicht wie ein Menschenfreund. Nicht unbedingt hart oder gar unfair, nein, aber – wie er eben selbst sagte – als Geschäftsmann. Ich denke nicht, dass er auch nur einen einzigen Cent in dich investieren würde, wenn er sich davon nichts verspräche.“
    Jess sah sie nachdenklich an. „Du denkst also wirklich, ich sollte es tun? Wenn er sein Versprechen hält und mir einen Platz an einer Kunstschule besorgt und eine Arbeit bei sich in der Galerie?“
    „Natürlich“, erwiderte Tessa heftig. „Wenn du es jetzt nicht versuchst, wirst du dich dein Leben lang fragen, ob du es nicht hättest schaffen können!“
    „Aber was, wenn ich es wirklich nicht schaffe?“, wandte Jess ein.
    „Dann weißt du es genau“, erwiderte Tessa. „Ich denke, du bist inzwischen gesund genug, um das verkraften zu können. Abgesehen davon glaube ich nicht daran, dass du scheiterst. Du hast dich durch so viel Dreck nach oben gekämpft, schau doch nur, was du im vergangenen Jahr erreicht hast. Du wirst das hier auch schaffen. Und im Gegensatz zu dem, was du bisher getan hast, wird es dir auch noch Spaß machen. Da bin ich sicher.“



    Jess lächelte.
    „Du hast recht – wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Und zurück an die Abendschule kann ich jederzeit gehen! Mir geht dabei nichts verloren! Und einen Job bekäme ich sicher auch irgendwie wieder, wenn da wirklich alles schief gehen würde. Meinst du nicht auch?“
    „Ja, sicher… und wieso sollte es nicht klappen? Die Kunstschule wäre dein Ding, nicht so wie das trockene Algebra-Büffeln im Moment.“
    Jess lachte. „Das stimmt.“
    Er sah Tessa liebevoll an. „Das hab ich alles nur dir zu verdanken. Es ist unglaublich, wie sehr sich mein Leben zum Guten gewendet hat, seit ich dich kenne, Tessa.“
    Tessa lächelte verlegen. „He – hör mal, das ist alles dein Verdienst, Jess. Du selbst hast dich dazu entschieden.“
    „Trotzdem – ich hätte das nie, wenn ich dich nicht gehabt hätte.“
    Er beugte sich nach vorne und küsste sie sacht. „Ich will dir einfach nur danken“, sagte er dann leise.



    Tessa fuhr ihm vorsichtig durchs Haar.
    „Das brauchst du nicht“, flüsterte sie. „Ich hab dir genauso zu danken, denn du hast mein Leben genauso verändert, auch wenn es nicht so offensichtlich sein mag.“
    Er lächelte sie an und fuhr sanft die Konturen ihrer Lippen mit seinem Zeigefinger nach.
    „Ich könnte dich ununterbrochen küssen.“
    „Dann tu es doch.“
    Und während draußen die Sonne hinter den Fassaden der Hochhäuser verschwand, versanken beide in einem langen Kuss, der wie ein Versprechen war für das, was noch kommen würde und das, was sie sich wünschten.




    Fortsetzung folgt.

    Nun musste Tessa sich ein Lachen verkneifen, auch wenn es in der aktuellen Situation alles andere als passend erschien.
    Herr van Bircken wandte sich nun wieder Jess zu und sagte: „Nun – Ihnen fehlen noch die nötigen Studien, das ist klar. Aber gerade weil diese Ihnen fehlen, zeigt sich Ihr Talent noch eindrucksvoller! Wie Sie die Farben und Lichter kombinieren, lässt eigentlich auf jahrelange Studien in diesem Bereich schließen! Dass Sie noch Ihren Stil suchen müssen, ist klar – aber Ihr Talent ist unabstreitbar!“



    Jess bedankte sich verlegen, dann breitete sich wieder Stille aus und Herr van Bircken starrte die Bilder erneut tief in Gedanken versunken an.
    Dies dauerte einige Minuten, dann drehte er sich erneut ruckartig zu Jess und sagte laut: „Machen wir es doch so, mein Lieber – ich mache Ihnen ein Angebot. Wir stellen einige Ihrer Bilder in meiner Galerie aus, in einer Art Vernissage, aber erst in einigen Monaten, damit Sie noch weitere Werke in ein- und demselben Stil produzieren können. Desweiteren möchte ich Ihnen den Besuch einer Kunstakademie nahe legen. Was halten Sie davon?“
    Jess starrte sein Gegenüber verwirrt an, bis Tessa ihn sachte anschubbste.
    „Ich… Herr van Bircken… das wäre… großartig, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll… nur…“
    „Nur?“, wiederholte dieser skeptisch.
    „Ich kann leider nicht studieren gehen“, sagte Jess nun mit hängenden Schultern. „Noch habe ich kein Abitur, und bis es soweit ist, wird einige Zeit vergehen… außerdem… ist so ein Besuch teuer und…“
    Herr van Bircken jedoch winkte ab. „Schnickschnack! Denken Sie, ich wüsste nicht, dass Künstler wie Sie in der Regel arm wie die Kirchenmäuse sind? Das macht einen Künstler in den Anfängen offenbar erst aus!“ Er lachte erneut dröhnend auf und fuhr dann fort: „Und Abitur? Wofür soll das gut sein? Ich selbst habe davon nie etwas gehalten und demzufolge auch selbst keines hinter mich gebracht! Es gibt private Kunsteinrichtungen, die wesentlich effektiver lehren und denen ein solcher Abschluss nicht halb so wichtig ist wie den staatlichen Einrichtungen! Ich möchte Ihnen eine Art Tauschhandel vorschlagen – Sie arbeiten die nächste Zeit in meiner Galerie, ich finanziere Ihnen dafür gerne Ihre Studien! In weniger als zwei Jahren haben Sie damit abgeschlossen. Sie werden Ihre Werke in meiner Galerie immer wieder ausstellen und bekommen einen fairen Provisionspreis an den Gewinnen. Was halten Sie davon?“



    Tessa starrte erst Herrn van Bircken, dann Jess ungläubig an. Ihre Gedanken purzelten nur so in ihrem Kopf herum. Hatte sie sich da gerade verhört? War das ein schriller Traum?
    Jess schienen ähnliche Überlegungen durch den Kopf zu gehen und Tessa wurde mit einemmal bewusst, dass der Galerist immer noch auf eine Erwiderung auf sein großzügiges Angebot wartete.
    Für einen Moment wurde es Tessa angst und bange – was, wenn sich nun wieder Jess´ vermaledeiter Stolz melden und er das Angebot ausschlagen würde, weil er dachte, all dies sei nur Mitleid?
    Sie betete inständig, er möge zumindest darüber nachdenken – in aller Ruhe. Auf der anderen Seite – was gab es da schon nachzudenken? Dieser zugegebenermaßen etwas seltsame, aber durchaus sympathische Mann tauchte hier gerade wie ein rettender Engel aus dem Nichts auf und machte ihm ein durchaus vernünftiges Angebot, etwas, das für Jess der Schritt in ein besseres, selbstbestimmtes Leben mit einer Beschäftigung, die ihm Spaß machte und sein Talent darstellte, bedeuten konnte! So etwas konnte er nicht abschlagen!
    Jess schien nun ebenfalls die Sprache wiedergefunden zu haben und sagte langsam: „Herr van Bircken… ich weiß nicht, ob ich so etwas annehmen kann!“
    „Papperlapapp!“, rief dieser aus. „Sehen Sie mich an, Jess – denken Sie wirklich, ich bin ein Mann, der etwas verschenkt? Machen Sie sich keine Illusionen, ich halte nicht zu viel von Nächstenliebe…“, fuhr er fort, woraufhin seine Frau lächelnd einfiel: „Du bist aber auch kein Unmensch, Eduard… verschreck den jungen Mann nicht.“
    Herr van Bircken sah seine Frau irritiert an und fuhr dann unbeeindruckt fort: „Ich bin vor allen Dingen ein Geschäftsmann, Jess, und ich finde daran nichts verwerfliches. Ich erkenne in Ihren Werken ein großes Maß an Talent, das – richtig gefördert – zu echten Erfolgen führen kann. Sie malen sehr lebensnah und doch mit einem deutlichen künstlerischen Akzent, das mögen die Menschen, haben Sie schon immer gemocht. Wenn Sie noch einige technische Tricks und Kniffe mehr beherrschen, werden Sie sich mit Ihren Werken einen Lebensunterhalt verdienen können – und wenn ich Ihre Werke ausstelle und maßgeblich am Gewinn beteiligt bin, ist das für uns beide eine Win-Win-Situation.“



    „Und ich mache Ihnen nichts vor – ich bin dabei der deutlichste Gewinner. Die paar Studiengebühren, die ich zu entrichten habe für Sie, fallen da nicht ins Gewicht, denn wenn ich Sie auf die Schulen bringe, so brauchen Sie nicht zu glauben, dass dies zum selben Entgelt geschehen wird, wie zu dem, das Sie entrichten müssten. Sie sind sicher kein naiver Mensch, ich denke, Sie könnten sich das denken. Außerdem werden Sie für mich arbeiten – und zwar zu einem weitaus geringeren Lohn als ich meinen anderen Angestellten zahle. Sie zahlen Ihre Studiengebühren sozusagen selbst, gewinnen aber an Erfahrung und haben das Privileg, Ihre Werke nach Absprache mit mir auszustellen und an deren Verkauf zu fairen Bedingungen beteiligt zu werden. Das wird Ihnen fürs erste reichen, um Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, vielleicht sogar für mehr. Nun – was sagen Sie?“
    Jess schien diese Flut an Informationen erst einmal verdauen zu müssen, und alle sahen ihn gespannt an, bis er schließlich seine Hand ausstreckte und die von Herrn van Bircken schüttelte.
    „Ich willige ein, Herr van Bircken!“, sagte er mit erstaunlich fester Stimme. Tessa dachte, man müsse den Stein vom ihrem Herzen fallen hören.
    Amanda und Herbert kamen nun zu Jess und gratulierten ihm erfreut. Tessa stand jedoch still einige Meter entfernt und beobachtete das ganze Schauspiel, völlig geplättet von den Ereignissen der letzten Minuten. Herr van Bircken verabschiedete sich nun ohne jeden Umschweif, versprach, Jess in den nächsten Tagen wegen der Einzelheiten anzurufen und marschierte dann nach einem allgemeinen Gruß nach draußen, während seine Frau Jess herzlich die Hand schüttelte, Amanda umarmte und Tessa freundlich zunickte. Dann verließ auch sie die Wohnung.
    Aufgeregt redeten Tessas Eltern nun aufeinander und auf Jess ein, der ebenso verwirrt zu sein schien wie Tessa und nur auf die Hälfte antworten konnte. Nach einer Weile schienen beide dies zu bemerken und verabschiedeten sich ebenfalls.

    Kapitel 93
    Weggabelungen




    Tessa sah ihre Mutter verwirrt an.
    „Ich weiß nicht einmal, wer das ist“, sagte sie dann langsam. Nun stand auch Jess auf, kam zu ihr, griff sie an den Schultern und spähte über diese hinaus auf die Straße hinunter.
    Amanda Wagner erwiderte derweil nichts und ging stattdessen entschlossen zum Summer, drückte diesen und rief ein fröhliches: „Kommt in den zweiten Stock!“ in die Gegensprechanlage.
    Dann rannte sie wie der Wind durch die Küche in den Wohnungsflur und öffnete die Türe. Es waren Stimmen zu hören, die weder Tessa noch Jess zuordnen konnten. Schließlich rief Amanda nach draußen, dass beide doch in die Küche kommen sollten.
    Sie taten wie geheißen und musterten erstaunt die rothaarige Dame, die in Begleitung eines schwarzhaarigen Herren mit einem perfekt gestutzten Bart in die Küche traten.
    „Guten Tag!“, sagte die Frau freundlich und lächelte beide an, während der Mann mit einer etwas herrischen Geste die Küche betrat und die Einrichtung musterte.




    Verwirrt sagten Tessa und Jess wie aus einem Mund: „Hallo!“ und wussten nicht recht, was sie nun tun sollten – immerhin waren diese Menschen ihnen gänzlich fremd.
    Tessas Mutter jedoch schien beide umso besser zu kennen. Sie kam nach ihnen in die Küche und umarmte die Frau herzlich.
    „Karin! Wie schön, dass es geklappt hat!“
    Die rothaarige Frau lächelte und sagte nur: „Ich hab es dir ja versprochen, Amanda!“


    Nun wandte Tessas Mutter sich ihrer Tochter zu und stellte vor: „Das ist meine Tochter Tessa, Karin. Und der junge Mann ist Jess.“
    Die Frau lächelte beide freundlich an. „Sie sehen Ihrer Mutter ähnlich, Tessa“, stellte sie dann gütig fest.
    „Nun, dann sollten wir uns auch vorstellen, nicht wahr?“, ergriff der schnittige Mann nun das Wort, marschierte entschlossen auf Jess zu und reichte ihm die Hand.
    „Ich nehme an, Sie sind der junge Mann, dessen interessante Kunstwerke ich zu bestaunen die Ehre hatte? Mein Name ist Eduard van Bircken.“


    Verwirrt erwiderte Jess den resoluten Gruss und schüttelte dem Mann die Hand, der nun fortfuhr zu erwähnen: „Diese bezaubernde Frau hier ist meine verehrte Gattin, wenn ich ebenfalls vorstellen darf. Ich habe gehört, Sie haben heute Geburtstag, Jess – ich darf Sie doch bei Ihrem Vornamen nennen, nicht wahr? Nun, dann meinen herzlichen Glückwunsch!“
    Völlig durcheinander stammelte Jess: „Nun… vielen Dank, Herr van… van…“
    „Bircken“, half dieser ihm unbeeindruckt weiter und sah sich dann entschieden um. „Nun – haben Sie hier noch weitere Ihrer Werke, die ich mir anschauen könnte?“


    „Werke?“, wiederholte Jess verwirrt. „Ich… weiß nicht ganz, was Sie meinen…“
    „Nun, darum sind wir doch hier, nicht wahr“, erwiderte Herr van Bircken nun selbst leicht verwirrt und warf seiner Frau fragende Blicke zu, die lächelte und ihm zu nickte.
    „Ihre Werke“, wiederholte dieser daraufhin. „Ihre Bilder, von denen ich schon einige sehr vielversprechende bestaunen durfte. Ich wollte mir einige weitere davon anschauen und mit Ihnen über die weiteren Möglichkeiten sprechen.“
    Jess sah ihn weiterhin verwirrt an, lachte dann verunsichert auf und antwortete: „Nein – nein, Sie müssen mich offenbar mit jemandem verwechseln, Herr van Bircken.“




    Nun fiel Amanda in den Dialog ein: „Ich muss mich entschuldigen, Herr van Bircken… ich habe Jess nichts davon erzählt, dass ich Ihnen einen Teil seiner Bilder zur Verfügung gestellt hatte.“
    Verwirrt sahen sie nun alle zugleich an, woraufhin sie in wenigen Worten erklärte: „Karin – also Frau van Bircken ist seit langem eine gute Kundin in meinem Salon und neulich unterhielten wir uns über Jess´ außergewöhnliches Talent und sie erklärte sich bereit, Ihrem Mann – Ihnen, Herr van Bircken – einige Exemplare der Zeichnungen, die ich von ihm geschenkt bekommen hatte, zu zeigen und seine Meinung darüber anzuhören. Herr van Bircken ist Galerist“, fügte sie an Jess und Tessa gewandt hinzu, deren Gesichter nun vor erstauntem Schrecken und Verblüffung gezeichnet waren.
    „Ich wollte euch damit überraschen, zum einen, zum anderen dachte ich, es würde Jess nur nervös machen, wenn er davon weiß… und es war nicht ganz sicher, ob die beiden heute die Zeit finden, herzukommen. Ich wollte nichts verraten, damit ihr nicht enttäuscht seid.“
    Karin van Bircken lachte herzlich. „Die Überraschung scheint uns gelungen zu sein!“
    Ihr Ehemann, der dem ganzen mehr verwirrt als aufmerksam zugehört hatte, wandte sich nun wieder Jess zu und sagte entschieden: „Wie dem auch sei – Ihre Bilder sind ganz hervorragend gearbeitet, Jess, und ich möchte in aller Bescheidenheit behaupten, dass ich dies gut beurteilen kann, nach mehr als dreißig Jahren in dieser Branche.“



    Jess schluckte. „Das… das ehrt mich sehr, Herr van Bircken.“
    „Wem haben Sie Ihre Werke schon alles vorgelegt. Wo wurden sie bisher ausgestellt?“, wollte dieser ohne Umschweife wissen.
    „Vorgele… ausgestellt?“, wiederholte Jess zerstreut. „Ich… ich… niemandem, ehrlich gesagt.“
    „Niemandem?“, wiederholte sein Gegenüber ungläubig. „Das ist ja ungeheuerlich! Dann habe ich hier wohl einen Rohdiamanten entdeckt, was?“
    Er bleckte seine weißen Zähne und lachte dröhnend auf. Tessa schaute von ihm zu Jess und wieder zurück und fühlte sich für einen Moment, als sei sie in einem völlig durchgedrehten, aber aufregenden Film gelandet, in dem sie halb Zuschauer- halb Mitdarstellerin war.
    „Nun – Jess, dann würde ich jetzt gerne Ihre weiteren Werke sehen“, sagte Herr van Bircken nun. Jess stand einen Moment unbeweglich und schien seine Zunge verschluckt zu haben, was auch seinem Gegenüber auffiel.
    „Oder möchten Sie das etwa nicht?“, fragte dieser dann auch prompt, was Jess sofort aus seiner Starre aufwachen ließ. Schnell lächelte er und sagte: „Aber… doch… gerne… ich hab die meisten im Wohnzimmer, Sie können Sie gerne sehen. Folgen Sie mir doch einfach.“



    Wie eine kleine Prozession folgten sie ihm nun alle in den Wohnraum, wo Tessas Vater immer noch in aller Seelenruhe am Tisch saß, die Neuankömmlinge freundlich begrüßte und so tat, als sei er in alles eingeweiht.
    Jess reichte Herrn van Bircken eine Mappe mit seinen Zeichnungen der letzten Wochen. Jene blätterte dieser mit undefinierbarer Miene durch, während ihm alle wie gebannt zu sahen. Dann stand er auf und stolzierte an der Reihe aufgehängter Portraits und Malereien vorbei, die Jess in den letzten Monaten hier aufgehängt hatte. Vor Tessas Portrait blieb er besonders lange stehen und fing letztlich sogar an, sich nachdenklich mit den Fingern in seinem Bart herum zu fahren, während ihn weiterhin alle gespannt ansahen und auf sein Urteil warteten.


    Schließlich drehte er sich energisch zu Jess um und sagte mit fester Stimme: „Das ist großartig, wirklich großartig! Das einzige, was ich zu bemängeln habe, ist, dass Sie noch zu breitfächerig arbeiten. Sie brauchen einen eigenen Stil, eine Richtung, aber Sie sind noch jung und werden sich noch festlegen können. An welchen Kunsthochschulen haben Sie studiert?“
    Jess schien um ganze fünf Nummern zu schrumpfen, während Tessa ängstlich den Atem anhielt. Doch Frau van Bircken zog ihren Mann sacht zur Seite und raunte ihm wenige Worte zu. Dieser sah sie verblüfft an und sagte dann: „Nein sowas!“, woraufhin sie leise flüsterte: „Aber Liebling, davon habe ich dir doch schon mehrmals erzählt…“

    Nach mehr als zwei Monaten Schreibpause melde ich mich vorsichtig wieder zurück...


    Es ist für mich gerade seltsam, wieder weiterzuschreiben, es ist so vieles, erschütterndes in mir geschehen, dass ich gar nicht so recht wusste, ob ich mit etwas, das irgendwie ja schon ein wenig "banal" erschien, überhaupt weitermachen können würde. Aber ich kann, wie ich gemerkt habe, auch wenn es nicht ganz einfach ist.


    Ich habe einige sehr anstrengende und intensive Wochen hinter mir und ich weiß zurzeit auch noch nicht so ganz, wie ich das, was geschehen ist, verarbeiten werde und soll, aber irgendwie wird es schon wieder irgendwann Licht im Leben werden... und letztlich sind mein Mann und ich auch sehr dankbar und glücklich, dass wir unseren Sohn haben durften, wenn auch nur so schmerzlich kurz.


    Ich will euch auch kurz sagen, was grob geschehen ist - es war eine Frühgeburt, die völlig aus dem Nichts kam, wirklich über Nacht und ohne jede Vorankündigung, nach vielen Wochen einer grundlegend - bis auf die schlimme Übelkeit usw. - völligst unkomplizierten Schwangerschaft.Einige Tage haben wir im Krankenhaus dagegen angekämpft - erfolglos. Leider haben unseren kleinen Sohn nur lächerlich wenige Tage - nichtmal Wochen - von dem Zeitpunkt getrennt, ab dem er eine reele Überlebenschance gehabt hätte. Letztlich war er aber doch einfach noch zu klein, um sich lange auf dieser Welt durchschlagen zu können und es war das beste für ihn, friedlich in unseren Armen einschlafen zu dürfen. Nun haben wir ein kleines, von Schnee und Blumen bedecktes Grab bei uns hier in unserem verschlafenen Örtchen, das ins immer daran erinnern wird, wie viel uns in diesem Winter geschenkt und genommen wurde. Aber letztlich überwiegt dann doch Liebe und Dankbarkeit.




    ...



    Ich bin trotzdem jetzt ganz froh, dass ich es geschafft habe, weiterzuschreiben, denn immerhin sind wir fast am Ende der Geschichte um Jess und Tessa angelangt, wie ich ja bereits im Herbst schon mehrmals angekündigt habe. Und letztlich wird das Schreiben trotzdem etwas bleiben, das mir am Herzen liegt und mir gut tut, also habe ich die Bilder hochgeladen und möchte euch heute das dreiundneunzigste Kapitel präsentieren.


    Wann das nächste kommt, weiß ich noch nicht - ich muss mal sehen, wie ich mich fühle und wann es mir danach ist, ich denke aber, ich werde euch auf die finalen Episoden nicht allzu lange warten lassen.


    Danke für all eure lieben PN´s und BNs, die haben uns / mir wirklich sehr gut getan.


    Bitte seht mir Rechtschreibfehler oder Dreher nach - ich bin noch nicht ganz wieder da und oft ziemlich zerstreut, also bitte diesmal die Hühneraugen mit zudrücken, wenn sich der Fehlerteufel mehr als sonst eingeschlichen hat.



    Und nun - Viel Spaß nun mit dem aktuellen Kapitel!



    Ach ja - und euch allen noch nachträglich ein frohes Neues Jahr!

    Hallo Rivendell


    das waren schöne Fortsetzungen. Wirklich, ich genieße immer wieder deine Kulissen und Darstellungen.
    Ich bin weiterhin dabei und gespannt, wie es weitergeht.

    Liebe Jane


    schöne Fortsetzungen hast Du da geschrieben. Die Szene zwischen Sophia und ihrem Lehrer fand ich sehr rührend, wie sie sich ihm anvertraute...


    Ich kann noch nicht so viel schreiben, bitte verzeih, aber ich hab mitgelesen und bin weiterhin dabei.

    Liebe Nerychan,


    ich möchte mich auch einmal wieder zu Wort melden. Ich bin zwar im Moment sehr selten hier unterwegs, aber wenn mein Herz mir zu schwer und der Kopf zu neblig ist, tut es mir ganz gut, mal etwas verhältnismässig "normales" zu machen und dann lese ich mich durch eure Stories.


    Ich fand deine letzten Fortsetzungen wieder sehr toll. Vor allem die Atmosphäre, die Du immer wieder schaffst, nicht zuletzt durch deine sagenhaften Kulissen, tut es einem total an. Man ist regelrecht in die Situation hinein versetzt.


    Meinen Vorschreiberinnen schließe ich mich insofern an, dass wir ja inzwischen wissen, dass es für Catalina irgendwie nicht gut ausgegangen ist. Stanley erscheint mir hinterlistig und kalt, ganz im Gegensatz zu seinem sehr hübschen und großherzigen Bruder. Ich würde den beiden ja ein Happy End wünschen, aber wie gesagt - das wird wohl nicht passieren.


    Ich bin gespannt, wie es für si enun weitergegangen ist und was letztlich genau zu dem Fluch geführt hat. Und natürlich, ob der gerade noch von den Toten wiederauferstandene Patrick seiner Tante endlich Glauben schenkt.

    Ich muss die FS auf unbestimme Zeit unterbrechen. Am Sonntag habe ich unseren kleinen Sohn geboren. Er ist kurz nach seiner Geburt friedlich in unseren Armen gestorben.


    Ich denke, ihr versteht, dass ich zurzeit nicht in der Lage bin, hier weiterzumachen.

    Liebe Jane!


    Ach, wie schön, eine FS! :)


    Erstmal Kompliment für Deine tollen Bilder. Gerade das letzte mit Clemens gefällt mir sehr gut, aber auch der Rückblick, mit dem Test in der Hand usw.
    Nun wissen wir es also definitiv, dass Celine Clemens Tochter ist. Und wir wissen auch, wie es zu alledem gekommen ist. Die arme Vivienne. Was muss das damals für ein Schock gewesen sien :(


    Für Clemens war sie wohl nur eine Affäre. Und nun wissen wir auch, dass Clemens schon viel früher fremdgegangen ist. :( *grr* Sowas, da war Regula schwanger mit Sophia und hatte Probleme in der Schwangerschaft, drohte sogar das Baby zu verlieren. Und der "hurt" sozusagen in der Gegend herum, ist mir schon nicht ganz verständlich-


    Aber gut, wir wissen ja, dass er es faustdick hinter den Ohren hat. Und es zeigt mal wieder, dass er selbst zu Beginn der Ehe mit Regula nicht das bekommen hat, was er wollte, dass er immer mehr wollte.


    Nun muss ich aber auch noch etwas rumkritisieren. Ich gehe mal davon aus, dass die Geschichte zu heutiger Zeit spielt. Celine ist 16 Jahre alt, also ist der Rückblick schon 17 Jahre her, und ich bin mir nicht sicher, ob es damals schon so verbreitet Handys oder gar Internetzugang gab??? Hilf mir bitte auf die Sprünge, wenn doch, ich hätte das jetzt mit 1991 nicht so in Verbindung gebracht. Aber liebe Jane, das ist nur ein wiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinziger Stolperer, den ich beim Lesen hatte, und gerade in Geschichten spielt Zeit ja nicht die große Rolle und ist übergeordnet!


    Ich bin jetzt aber sehr gespannt, ob Celine noch herausfinden wird, wer Clemens ist. Sie hat da ja schon Blut geschleckt und die Fährte mehr oder minder aufgenommen. Klar denkt sie noch daran, dass Clemens ihren Vater nur KENNT. Nicht daran, dass er es SEIN könnte... aber ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie es erfährt?


    Sophia ... ich bin gespannt, wie das Babysitting wird ;)

    Ich dachte, das inge den meisten Männern so.“
    „Nun ja… ich glaube, Jess Talente liegen eher im musischen Bereich“, fiel Amanda sanft ein. „Wenn ich mir allein dieses herrliche Portrait von Tessa anschaue!“ Sie musterte das erst seit einigen Tagen an der Wand angebrachte Bild bewundernd. „Jess, können Sie mir das noch einmal malen, meinen Sie, das geht? Es ist wirklich wunderschön.“



    Jess nickte. „Ja, ich kann es versuchen. Ich kann aber auch einfach noch eines malen, vielleicht ein bisschen anders.“
    „Du weißt ja, echte Künstler produzieren nur Unikate“, zwinkerte Tessa.
    Alle lachten auf.
    „Ich bin aber gar kein echter Künstler“, erwiderte Jess ebenfalls zwinkernd. „Dafür bin ich doch viel zu normal, oder?“
    „Das stimmt allerdings“, pflichtete Amanda bei.
    Alle taten sich nun wieder am Kuchen gütlich, bis es plötzlich an der Tür schellte.
    Erstaunt sah Tessa auf.
    „Nanu?“, sagte sie überrascht und lächelte Jess an. „Erwartest du noch jemanden, von dem du mir nichts gesagt hast?“



    Doch Jess schüttelte den Kopf. „Nein, keineswegs.“
    Tessa stand auf und warf einen Blick zum Fenster hinaus. Verwirrt drehte sie sich zu ihren Eltern um, die nun ebenfalls aufstanden und ihrem Blick folgten.
    Aufgeregt sah Amanda ihren Mann an.
    „Ich glaube, du solltest dringend öffnen, Tessa“, sagte sie und winkte den Personen an der Haustür zu.
    Jess und Tessa jedoch sahen sich verwirrt an.
    Wer mochte das nur sein?









    Fortsetzung folgt!

    Da er sehr zuverlässig und gewissenhaft zu arbeiten verstand, war er dort bald anerkannt und geschätzt – und seine Vergangenheit war nicht mehr wichtig.


    Die Erfahrung hatte ihm enormen Auftrieb gegeben. Er sah ein, dass es doch Chancen auf der Welt gab – wenn man sie sich auch hart erkämpfen musste.
    Nun fiel es ihm auch leichter, sich auf die Schule zu konzentrieren, denn seit Anfang des Jahres holte er seinen Realschulabschluss nach. Er kam recht gut voran und schaffte es, bis zum Sommer seine Prüfung erfolgreich abzuschließen, so dass er weiter in Richtung Abitur arbeiten konnte.
    Dies fiel ihm zwar nun schwerer als er gedacht hätte – denn immerhin war er schon Mitte zwanzig und das logische Denken in Zusammenhängen hatte er lange nicht mehr trainiert … doch mit eiserner Disziplin besuchte er jeden Abend die Kurse und ackerte sich durch den Stoff, ohne sich Pausen zu gönnen. Und er merkte, dass ihm dies gut tat. Die Schule gab ihm eine lange vermisste Struktur zurück, und das Gefühl, etwas zu bewegen, für etwas gut zu sein. Die Arbeit half ihm dabei zusätzlich.


    Nebenbei vernachlässigte er seine Malerei nicht. Es war ihm ein willkommener Ausgleich, und da er nur etwa fünfundzwanzig Stunden in der Woche arbeitete, und auch die Schule ihm nicht jede Freizeit raubte, hatte er so einige Stunden in der Woche, in der er sich ganz seiner Muße hingeben und entspannen konnte.
    Tessa fiel dabei auf, dass Jess´ Bilder immer vielfältiger, froher und lebendiger wurden, und sie dachte immer öfter daran, dass sein Talent viel zu groß war, um es nur für ein „Hobby“ zu vergeuden.


    Doch Jess selbst wollte davon nicht viel wissen. Für ihn war das Fernziel nun erst einmal, das Abitur zu schaffen… und dann vielleicht eine Lehre oder ein kurzes Studium anzufangen. Schließlich wollte er auch einmal genug Geld verdienen, um eine Familie zu ernähren… auch wenn dies noch ferne, ferne Zukunftsmusik war und kaum zur Sprache kam.
    Tessa selbst hatte ebenfalls das ihre getan, um die belastende Situation der Abhängigkeit von ihren Eltern zu entspannen. Seltsamerweise hatte sie den nötigen Impuls erst bekommen, als Jess anfing, eigenes Geld zu verdienen und die Haushaltskasse aufzustocken. Nun konnte sie allmählich begreifen, wie seltsam das Gefühl im vorigen Herbst für ihn gewesen sein musste, von ihr zu leben. Zwar kamen die meisten Einnahmen natürlich noch von ihrer Seite – aber eben doch nicht, denn ihre Eltern bezahlten nach wie vor fast alles. Nun war es Tessa, die sich ein wenig nutzlos und „ausgehalten“ fühlte. Dies gab ihr den nötigen Impuls, sich zumindest für wenige Stunden die Woche nach einem Job umzusehen. Sie war bald fündig geworden und bediente seither seit dem Frühjahr in einem kleinen, netten Café in der Nähe der Universität.


    Die Arbeit war natürlich nicht weiter anspruchsvoll, aber sie war in Ordnung und wurde recht gut bezahlt. Neckend kitzelte Jess Tessa am Ohr. „Woran denkst du?“, fragte er leise. Sie lächelte.
    „Ich weiß nicht… an das vergangene Jahr irgendwie. Wir haben es doch ganz gut geschafft, oder?“
    „Ich denke ja“, erwiderte Jess lächelnd. „Auch wenn ganz schön oft die Fetzen geflogen sind.“
    Beide lachten leise auf. „Ja, es war nicht immer einfach“, räumte Tessa ein. Und es war auch heute noch immer nicht einfach, zumindest manchmal. Tessa stellte immer wieder fest, dass Jess sein Leben lang würde süchtig bleiben. Es war eine unheilbare Krankheit – sie wurde nur schwächer und schwächer. Aber auch Jess musste manchmal zugeben, dass er sich gerade in stressigen und anstrengenden Situationen sehr nach einem Schuss sehnte… so abstrus der Gedanke auch sein musste. Es war noch undenkbar für ihn, nicht mehr zweimal die Woche zur Therapie zu gehen, denn alleine hätte er die Dämonen in sich nicht besiegen können.
    „Eines ist aber klar“, sagte er leise und sah Tessa liebevoll an. „Wenn ich nicht ein Ziel vor Augen gehabt hätte, wäre ich nie soweit gekommen. Und dieses Ziel warst und bist eben einfach du.“
    Er küsste sie noch einmal innig.


    Tessa lächelte ihn an und löste sich dann aus seiner Umarmung. „Ich muss den Tisch decken“, erklärte sie schulterzuckend. „Meine Eltern kommen in einer Viertelstunde.“
    „Ich helf dir schnell“, sagte Jess bereitwillig. Gemeinsam hatten sie den Tisch schnell gedeckt und nur wenige Minuten später klingelte es an der Tür.
    Tessa sah hinunter auf die Straße, die von der nachmittäglichen Augustsonne in helles Licht getaucht war.
    Sie winkte ihren Eltern kurz zu und betätigte dann den Summer.
    Kurze Zeit später saßen alle zusammen am Tisch und lobten überschwänglich Tessas Kuchen.


    „Hach, Kinder“, seufzte Tessas Mutter nach einer Weile zufrieden. „Ich freu mich wirklich, dass wir heute alle so schön zusammen sitzen können. Geht es euch denn gut?“
    Tessa nickte. „Mir schon. Ich genieße meine Ferien.“ Sie zwinkerte Jess zu.
    „Du hast es gut“, erwiderte dieser und schob sich ein großes Stück Kuchen in den Mund. „Die Abendschule hat schon wieder seit Anfang August angefangen.“


    „Wie läuft es mit dem Lernen, Jess?“, erkundigte sich Tessas Vater so zurückhaltend wie möglich, denn er wollte nicht den Eindruck erwecken, Jess unter Druck zu setzen. Einige Male hatte er in den letzten Monaten zu eindringlich nach dessen Fortschritt in Schule und Beruf gefragt, was ihm einmal einen handfesten Streit mit Tessa eingehandelt hatte, die ihm klar zu machen versuchte, dass man Jess nicht unter Druck setzen durfte.
    Dies hatte Herbert Wagner nach einer Weile auch eingesehen – und eigentlich hatte sich der junge Mann ja auch großartig entwickelt. Herbert musste zugeben, dass er seiner Tochter nach wie vor eine etwas „bessere Partie“ gewünscht hätte, aber Jess´ Charakter war wirklich einwandfrei, vor allem wenn man bedachte, wie wenig gute Kinderstube und vernünftige Erziehung er genossen hatte. Eigentlich konnte es einem nur leid tun, wenn ein Junge mit solchen guten Anlagen derart vernachlässigt wurde. Somit war es für ihn und Amanda schon lange klar, dass sie beide Tessa und Jess so weit es ging unterstützen wollten.


    „Es läuft ganz gut“, gab Jess nun langsam zur Antwort. „Ich muss zugeben, dass es oft schwerer ist als ich dachte. Gerade diese ganzen naturwissenschaftlichen Fächer fallen mir wirklich schwer.“
    „Na sowas!“, sagte Herbert erstaunt. „Das war immer mein Spezialgebiet.

    Kapitel 92
    Feierlichkeiten



    Tessa warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und rückte sich noch einmal ihr breites Haarband, mit dem sie sich ihre Mähne aus dem Gesicht gebunden hatte, zurecht. Dann war sie zufrieden mit dem, was sie sah, strich ihren Rock glatt und ging hinüber ins Wohnzimmer. Es war ordentlich und gemütlich wie immer, und doch rückte Tessa noch hier und da etwas zurecht, bis sie das vertraute Einschnappen des Türschlosses hörte und aufsah.
    Jess kam lächelnd zur Tür herein.
    „Es riecht wunderbar hier!“, rief er aus. Tessa lächelte und ging ihm mit weit geöffneten Armen entgegen.
    „Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz!“, rief sie.


    Jess zog sie in die Arme und küsste sie. „Alles Gute zum Geburtstag!“, sagte Tessa lächelnd zwischen zwei Küssen. „Wie war die Arbeit?“
    „Gut, nichts besonderes, wie immer eben“, erwiderte Jess lächelnd und musterte Tessa bewundernd. „Du siehst toll aus.“
    „Naja, du hast ja auch nur einmal im Jahr Geburtstag, oder? Und immerhin ist dies der erste, den wir wirklich zusammen feiern können.“
    Sie lächelte ihn liebevoll an, was er erwiderte.
    „Stimmt“, sagte er dann nachdenklich. „Ich habe wohl noch nie einen so schönen Geburtstag gehabt.“
    „Und er fängt erst an“, lachte Tessa und küsste ihn noch einmal stürmisch.


    Dann warf sie einen Blick zur Uhr. „Ach je, der Kuchen muss aus dem Ofen!“
    Sie ließ Jess los und eilte in die Küche. Verwundert folgte dieser ihr und sah zu, wie sie vorsichtig den Backofen öffnete.
    „Mhh, das ist es also, was so köstlich duftet!“, sagte er und fächelte sich genießerisch Luft zu.


    Er ging einige Schritte näher zum Ofen und beäugte das darin befindliche Kunstwerk.
    „Und nun sag mir mal, wo du den Bäcker versteckt hast“, zwinkerte er Tessa zu, woraufhin diese ihm einen empörten Seitenhieb verpasste.
    „He! Was soll das denn! Den habe ich ganz allein gebacken!“
    Jess sah sie amüsiert an.
    „Du? Im Leben nicht!“
    Tessa verschränkte empört die Arme. „Oh doch, ja – ich bin durchaus in der Lage, mir ein Backbuch aus dem Schrank zu nehmen und nach Rezept zu backen, mein Lieber!“
    Sie streifte sich Handschuhe über und nahm den duftenden Kuchen aus dem Ofen. Jess sah sie erstaunt an.
    „Das ist dein Ernst, nicht wahr?“


    Tessa warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu und stellte den duftenden Kuchen dann auf der Arbeitsfläche zum Auskühlen ab.
    „Und für den ersten Versuch ist er mal richtig gut geworden! Man merkt, dass du in einem Café arbeitest!“, rief Jess aus und wollte mit dem Finger etwas von der Marmeladenfüllung naschen, doch Tessa schlug ihm unsanft auf die Finger.
    „Der ist noch zu heiß und außerdem gibt es ihn gleich zum Kaffee, wenn meine Eltern vorbeikommen! Und einen anderen hab ich nicht, also lass die Finger davon, verstanden?“
    Jess sah sie liebevoll an. „Du hast dir solch eine Mühe gegeben!“, sagte er zärtlich und zog sie an sich.


    Tessa lächelte. „Naja, wie ich schon sagte – man hat nur einmal im Jahr Geburtstag, nicht wahr?“
    „Ich liebe dich“, sagte Jess schlicht.
    Tessa lächelte und fuhr ihm durch sein wirres Haar. „Das ist auch empfehlenswert für dich“, zwinkerte sie, wurde dann aber ernst. „Und mir geht’s bei dir genauso, wenn du es wissen willst.“
    „Will ich“, lächelte Jess und küsste sie sanft.


    Tessa wehrte sich nicht, als seine Küsse dringlicher wurden und gab sich dem Gefühl hin, von Jess gehalten und geborgen zu sein – etwas, das sie in den letzten Monaten erst nach und nach anzunehmen gelernt hatte.
    Während sie sich neben dem dampfenden Kuchen küssten und küssten, schossen beiden die Erinnerungen an die letzten Monate durch den Kopf. Es war nicht immer einfach gewesen. Allzu oft hatte es Streit gegeben, und einige Male hatten beide gedacht, es gäbe kein Weiterkommen mehr.


    Aber irgendwie hatten sie es dann doch immer geschafft, sich wieder zu versöhnen, sich auszusprechen und sich auf die ein oder andere Weise zu arrangieren.
    Wie genau das funktioniert hatte, war ihnen beiden teilweise selbst ein echtes Rätsel. Vielleicht war es einfach das Wissen um all das, was sie bereits durch gemacht hatten. Dennoch waren die ersten Monate schwer zu bewältigen. Es war nicht einfach, sich aneinander zu gewöhnen. Tessa merkte bald, dass sie beispielsweise viel länger schlief als Jess, der eher ein Frühaufsteher war. Wenn er dann im Wohnzimmer zu poltern anfing, war für sie nicht mehr an Schlaf zu denken. Dabei saß sie oft abends noch viel länger als er wach am PC, um etwas für die Uni zu tun. Das waren alles nur „Kleinigkeiten“, die in der Summe aber gerne den ein oder anderen mächtigen Streit aufwühlten – und im Streiten waren beide zu Beginn nicht allzu gut gewesen. Gerade Tessa hatte es anfangs immer als eine Art „Scheitern“ empfunden, wenn sie sich einmal wieder die schlimmsten Dinge an den Kopf geworfen hatten. Doch einige Wochen nach ihrem riesigen Streit und der Nacht, in der Jess nicht nach Hause gekommen war, hatte sich die Lage allmählich entspannt und Weihnachten hatten sie friedlich zusammen verbracht.


    Dann war im Januar endlich etwas Entspannung in den Konflikt um Jess´ Arbeitslosigkeit gekommen. Zum Glück hatte er mit seiner Therapeutin besprochen, vorerst nicht auszuziehen. Diese Situation einfach auch einmal auszuhalten war sozusagen ein Teil seiner Rehabilitation, hatte dies ihm klar gemacht. Und mithilfe der Drogenberatungsstelle – die sich um rehabilitierte Süchtige kümmerte – war es Jess schließlich gelungen, einen einfachen Job in einem Elektronikfachmarkt zu finden.

    @gotti: Vielen Dank für Deinen Kommi! Ja, die beiden haben noch ein hartes Stück Arbeit vor sich! Ich glaube aber, es war auch für Tessa ganz gut, nun einmal richtig in die Knie zu gehen und zu merken, Jess kommt wieder und ist für sie da... sie kann sich fallen und im wahrsten Wortsinn auch mal tragen lassen!



    Jane: Schön, dass Du wieder mitliest. ich finde auch, mal so ein paar Kapitel aufeinmal zu haben, ist oft gar nicht so schlecht ;)
    Was Du schreibst, dass Joshua nun in Deinem Ansehen gestiegen ist, finde ich ja toll. Der Arme Kerl hat es auch verdient ;)
    Und was NIklas angeht, so denke ich auch, eine innige Freundschaft wird da wohl nicht mehr entstehen, aber das muss ja auch nicht.
    Was noch auf Jess und Tessa zukommt, ist recht unklar, aber sie sind sicher auf einem guten Weg. Und auch für Tessa wird nun klar, dass dieser Weg mit Jess für sie auch ein Weg der Selbsterkenntnis- und -entwicklung ist, was sie vorher glaub ich gar nicht so recht gesehen hat.
    Danke für Deinen lieben KOmmi!



    LadyLilith: Wow, Du hast meinen Respekt, Dich jetzt in diesem fortgeschrittenen Stadium noch durch diese ganzen 91 Kapitel zu wühlen! Ich habe selbst mal angefangen, rückzulesen und habe immer nach einigen Kapiteln einfach aufgegeben ;) Aber vielleicht hat es auch einen Reiz, die Story in einem Flutsch zu lesen! :)
    Danke für Deinen KOmmi und dass es Dir gefällt!

    Tessa nickte langsam. „Muss ich jetzt darüber reden?“, fragte sie müde.
    Jess schüttelte den Kopf. „Nein, nicht heute. Aber bald“, sagte er dann ernst und griff nach ihrer Hand. „Es ist wichtig für uns beide, verstehst du.“
    Er lächelte sie aufmunternd an. „Ich will nicht, dass du eines Tages zusammen klappst, weil alles auf einmal hoch kommt…du bist auch nur ein Mensch, Tessa.“


    Tessa nickte langsam. „Ich fürchte, du hast recht. Ich verspreche dir, dass wir darüber reden. Noch heute. Nur jetzt fühle ich mich doch ziemlich müde.“
    Jess nickte. „Dann legst du dich jetzt wieder ins Bett und ich räum das hier weg, dann komm ich zu dir. Lassen wir heute mal fünfe gerade sein. Ich schau nicht in die Zeitung und du rührst keinen Finger für die Uni, okay?“
    Tessa lächelte. „Ja, machen wir es so. Ich bin eh zu schlapp, um nachzudenken.“
    Sie stand auf und Jess nahm sie in den Arm.



    „Wir schaffen das doch, oder?“, flüsterte sie mit einemmal ängstlich.
    Jess hielt sie ein Stück von sich ab und sah sie ernst an. „Natürlich tun wir das“, erwiderte er dann. „Du musst nur akzeptieren, dass es nicht einfach werden wird.“
    Tessa nickte. „Ja, ich glaube, das habe ich inzwischen begriffen.“
    Sie lächelte und küsste ihn. „Und jetzt ab ins Bett“, sagte er streng. Tessa lachte leise auf, folgte seiner Ermahnung jedoch widerstandslos.
    Schläfrig kuschelte sie sich in die Kissen, während sie draußen das Geklapper der Teller vernahm. Obwohl es mitten am Tag war, dauerte es keine fünf Minuten und sie war wieder in einen traumlosen Schlaf gesunken.









    Fortsetzung folgt.

    Langsam und schweigend begannen beide zu essen. Schließlich ließ Jess von seinem Müsli ab und sah Tessa ernst an.
    „Ich habe mir wahnsinnige Sorgen um dich gemacht gestern Nacht“, sagte er ernst. „Was … was ist denn los gewesen, nachdem ich weg war?“


    Tessa schluckte und legte den Löffel für einen Moment beiseite.
    „Ich… ich dachte, du kommst nicht wieder zurück“, erwiderte sie dann schließlich mit zittriger Stimme. „Ich… ich dachte, du wärst… zum Bahnhof… oder dass dir was passiert ist.“
    Jess schluckte. „Ja, ich verstehe“, sagte er dann betroffen. „Ich hab es mir ja gedacht. Tessa, es tut mir so leid.“
    Tessa schluckte. „Ich dachte, es wäre wieder wie damals…“


    Jess griff nach ihrer Hand. „Ach Tessa, wirklich… ich habe nicht gedacht, dass du… ich dachte nicht, dass du sofort daran denkst und… habe die Zeit auch zugegebenermaßen vergessen. Es tut mir so leid. Ich mache mir furchtbare Vorwürfe…“
    Tessa erwiderte den Druck seiner Hand. „Wo warst du denn nur so lange?“, fragte sie dann.
    „Ich… ich dachte zuerst, du bist nur spazieren, aber als es immer später wurde….“


    Jess nickte. „Ich habe völlig die Zeit vergessen. Ich… ich war so wütend und durcheinander. Ich habe mich nach einem Schuss gesehnt wie nie zuvor…“, er schluckte. „Aber ich war nie wirklich in der Versuchung… so viel haben wir, und auch ich, dafür durch gemacht… ich brauchte einfach nur Luft, das alles war mir zuviel. Ich bin eine Weile nur durch die Gegend gelaufen, aber mir wurde bald zu kalt und ich fror. Da vorne, ein paar Straßen weiter, gibt es doch dieses kleine Nachtcafé, und da hab ich Unterschlupf gefunden. Ich bin dort dann mit einem alten Mann ins Gespräch gekommen… und… ja, ich weiß auch nicht, es kam eines zum anderen… ich habe völlig die Zeit vergessen, und als ich auf die Uhr geschaut habe, war es schon nach drei Uhr. Ich bin sofort gegangen, weil ich mir dachte, dass du dich sorgst. Aber ich habe die Zeit gebraucht, um mich zu sortieren. Ich wollte dich anrufen, aber ich hatte Angst, dich zu wecken…. ich war mir nicht recht bewusst, welche Ängste ich dir zugemutet habe…“


    Tessa nickte langsam, sagte dann aber: „Das hättest du dir aber denken können, Jess. Ich meine… du bist einfach überstürzt abgehauen und… woher hätte ich wissen sollen, dass du gemütlich in einem Café sitzt?“
    Jess sah sie schuldbewusst an, erwiderte dann aber ernst: „Tessa, ich denke, wir beide wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Du musst lernen, mir mehr zu vertrauen, auch wenn ich verstehe, dass es schwer ist. Und ich muss lernen, mehr Geduld zu haben.“
    Tessa nickte. „Ja… es ist nicht so einfach, wie wir gehofft hatten.“
    Jess aß langsam weiter und sagte dann: „Ich muss zugeben, es macht mir mehr Probleme als ich dachte, immer weiter auf deine Kosten zu leben. Ich weiß, du sagst, es ist eben so und ich muss mich damit abfinden. Aber so einfach ist das nicht für mich.“



    Tessa schluckte. „Ja… aber was sollen wir denn machen? Es ist eben nicht zu ändern…“
    Jess zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir auch nicht sicher. Aber vielleicht wäre es eine Lösung, wenn ich doch versuche, eine eigene Wohnung zu bekommen. Ich würde dich nicht mehr so oft stören und hätte nicht mehr ganz das Gefühl, auf deine Kosten zu leben.“
    „Du willst hier ausziehen?“, fragte Tessa überrascht. „Aber… ist das nicht eine überstürzte Reaktion?“
    Jess lächelte beruhigend. „Ich habe gar nichts entschieden, Tessa. Ich habe nur eine Idee gehabt und würde sie gerne mit dir und in der Therapie besprechen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob das etwas hilft, aber es wäre die einzige gangbare Lösung, die mir auf die Schnelle einfällt.“
    Tessa fiel es schwer, nicht zu widersprechen, aber sie musste zugeben, dass auch ihr nichts Besseres einfiel.


    „Weißt du… ich glaube aber, irgendwie wäre das auch nur wieder eine Art Flucht“, sagte sie dann nach einer Weile nachdenklich. „Ich will deine Idee nicht grundlegend verurteilen, auch wenn sie mir nicht gefällt. Ich möchte nicht wieder nachts alleine einschlafen. Ich genieße deine Nähe.“
    Jess lächelte sie liebevoll an. „Das tu ich doch auch, und wir können ja trotzdem öfters beieinander übernachten, falls es soweit kommen sollte…“
    Tessa nickte, sprach dann aber weiter: „Trotzdem… du bist noch nicht lange aus der Klinik entlassen. Du darfst nicht wieder alles so übereilen, finde ich jetzt jedenfalls. Wieso… machen wir nicht einen Kompromiss und sagen, wir probieren es noch bis Ende des Jahres und dann sehen wir weiter? Du hast mit deiner Idee einen Notweg im Hinterkopf, vielleicht hilft dir das ja auch schon weiter, weil du weißt, du musst es nicht auf Dauer ertragen, falls es nicht geht…“


    Jess sah sie einen Moment nachdenklich an und nickte dann. „Das hört sich ziemlich vernünftig an“, sagte er dann. „Ich bin froh, dass du mir nicht versuchst, es auszureden und verstehst, was mein Problem ist. Ich habe mich darin die ganze Zeit nicht so recht verstanden gefühlt.“
    „Das tut mir leid“, erwiderte Tessa. „Aber es fällt mir eben auch schwer. Ich seh es nur als ein Stein auf dem Weg, der sich bald lösen wird, bestimmt. Aber wenn es dich so belastet, muss ich anders damit umgehen.“
    Jess nickte und sagte dann: „Und was ist mit dir? Was ist mit dir geschehen letzte Nacht?“
    Tessa schluckte. „Ich… ich habe die Nerven verloren“, sagte sie dann langsam. „Glaube ich jedenfalls. Ich war so sicher aufeinmal, dass du gegangen bist… dass es wieder so ist… und… ich dachte, ich schaffe das nicht noch einmal.“


    Jess seufzte schwer. „Du hast mir nie erzählt, wie schlimm das alles für dich gewesen ist. Ich finde, es wird Zeit, dass du das tust.“
    Tessa schluckte. „Das fällt mir nicht leicht, ich will mir das alles gar nicht in Erinnerung rufen…“
    „Ja, aber das ist nicht richtig. Es ist nun einmal geschehen“, sagte Jess sanft. „Und es gehört zu dir, zu uns…“

    Kapitel 91
    Kompromisse



    Ihre Gedanken drifteten weit ab, verwirrten sich, verirrten sich, wurden in halb vorhandenem Bewusstsein hin- und hergeschleudert. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr, ebenso wenig die Kälte, welche die kleine Wohnung wie jede Nacht erfasste und von den eisigen Fliesen des Badezimmers auf ihren Körper übertragen wurde. Sie spürte nichts mehr, wollte nichts mehr spüren. Bleierne Schwere hatte sich in ihr breit gemacht, nur ihre Gedanken hüpften hin und her, vermischen Bilder und Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen.


    Sie war sich nicht sicher, ob sie träumte oder wachte. Alles an ihr fühlte sich kalt und klamm an, fast leblos.
    Sie spürte kaum den leisen Luftzug, als sich die Türe öffnete, und sie hörte auch nicht die schnellen Schritte, die auf sie zukamen.
    „Tessa?“, rief eine besorgte, ängstliche und ihr vertraute Stimme. „Um Gottes Willen!“


    Jess sank neben Tessa auf die Knie und berührte sie vorsichtig an der Schulter. Er war bleich.
    „Tessa? Kannst du mich hören? So sag doch was!“
    Tessa reagierte nur langsam, wie im Halbschlaf.
    „Jess?“, flüsterte sie verwirrt. „Jess?“
    Jess strich ihr über die Stirn. „Du bist ja eiskalt“, sagte er besorgt. „Was machst du hier? Bist du eingeschlafen? Du musst ins Bett.“
    Seine Worte drangen nur halb zu ihr durch und sie brauchte eine Weile, um ihren Sinn zu begreifen. Mühsam versuchte sie, sich zu bewegen, doch das lange Liegen hatte sie steif gemacht und wie resigniert drehte sie ihren Kopf zur Seite und schloss die Augen.
    „Ich bin müde“, flüsterte sie. „Ich bin so müde.“
    „Schon gut“, hörte sie Jess sanft sagen. „Ist schon gut, Tessa.“ Sanft schob er seinen Arm unter ihren Rücken, richtete sie etwas auf und schob den anderen Arm dann fest unter ihre Kniekehlen. Kurz darauf fühlte sie sich sachte von ihm hochgehoben.


    „Das… ist nicht nötig“, stammelte sie. „Ich… kann schon selbst…“
    „Ist schon gut, Tessa“, erwiderte Jess, während er vorsichtig ins Schlafzimmer ging. „Du bist ziemlich ausgekühlt von den kalten Fliesen. Du musst ins Bett, damit wir dich wieder etwas warm kriegen.“
    Vorsichtig legte er sie auf dem weichen Bett ab. Sie sah ihn aus halb geöffneten Augen an.
    „Bist… du wirklich wieder zurück gekommen?“, fragte sie leise. „Oder träume ich?“
    Sanft hüllte er sie in die Decke.
    „Nein, ich bin wirklich da“, erwiderte er leise und strich ihr über die Stirn. „Du Dummerchen, was hast du denn gedacht?“
    „Ich.. ich… dachte“, stammelte sie müde, doch Jess unterbrach sie. „Schhh… ist schon gut. Du brauchst jetzt Schlaf, du bist ja völlig fertig.“
    Sie warf ihm noch einmal einen Blick zu und wollte etwas sagen, doch ihre Zunge fühlte sich recht schwer an.
    „Bleib… hier“, sagte sie dann schließlich leise.
    Jess sah sie ernst an. „Natürlich bleibe ich hier. Mach dir keine Sorgen mehr. Ich bin da.“


    Ein Hauch von Erleichterung flog über Tessas Gesicht, bevor ihr die Augen endgültig zufielen und sie sich dem Schlaf hingab, der sie fest einhüllte.
    Jess setzte sich vorsichtig auf ihre Bettkante und strich ihr sanft über die Stirn. Allmählich bekam ihr Gesicht wieder Farbe und ihr Körper wärmte sich in den warmen Decken auf. Jess seufzte schwer und rieb sich die Stirn.
    Der Schrecken saß ihm noch in den Knochen, als er schließlich aufstand und zur anderen Bettseite zurück ging, um sich neben Tessa zu legen.
    Nachdenklich betrachtete er seine Freundin. Welche Ängste mochte sie in den letzten Stunden ausgestanden haben? Die Reue überkam ihn wie eine gewaltige Flutwelle.
    Es war nötig, dass sie beide redeten – aber nicht jetzt, denn jetzt brauchte sie ihren Schlaf.


    Und auch Jess merkte, dass im die Nacht in den Knochen steckte. Es war bereits nach fünf Uhr, als er die Decke zurückschlug und sich vorsichtig, um sie nicht zu wecken, an Tessa schmiegte. Wenige Minuten später hatte auch ihn der Schlaf übermannt.

    Es war nach zwölf Uhr am Mittag, als Tessa geduscht und in einen frischen Schlafanzug gehüllt das Wohnzimmer betrat. Es duftete nach frischem Kaffee und der Frühstückstisch war bereits gedeckt. Jess lächelte ihr entgegen und sie lächelte zurück.


    Jess hatte bereits angezogen neben ihr gelegen, als sie vor einer halben Stunde aus einem wie totenähnlichen Schlaf aufgewacht war.
    „He“, hatte er sachte geflüstert. „Wie fühlst du dich?“
    Es war eine Weile vergangen, bis Tessa sich daran hatte erinnern können, was am Vorabend und in der Nacht geschehen war.
    „Ich bin so froh, dass du wieder da bist“, hatte sie nur erwidert.
    Jess hatte nach einer Weile darauf bestanden, dass sie heute nicht zur Uni gehen sollte – die ersten Vorlesungen hatte sie ohnehin verpasst.
    „Du warst gestern Nacht ziemlich am Ende“, hatte er ernst gesagt. „Und hast dich ordentlich verkühlt. Hoffen wir mal, dass es keine Erkältung oder eine Grippe gibt. Es ist wohl besser, wenn du heute den ganzen Tag hier bleibst, dich wärmst und ausruhst.“
    Tessa hatte gerne nachgegeben, denn tatsächlich fühlte sie sich so gerädert, als habe sie mehrere Nächte hintereinander nicht geschlafen. Nach einer heißen Dusche jedoch fühlte sie sich schon frischer. Jess hatte die Heizung im Wohnzimmer ordentlich aufgedreht, sagte jedoch trotzdem besorgt: „Du solltest dich wärmer anziehen“, als er Tessas dünnen Schlafanzug registrierte.
    „Mir ist schon warm genug“, erwiderte diese lächelnd und ließ es zu, dass Jess sie an sich zog und sie küsste.


    „Geht´s dir wirklich gut?“, fragte er dann besorgt. Tessa nickte. „Ja, ich fühle mich nur noch etwas müde, keine Sorge.“
    „Am besten legst du dich nach dem Essen wieder hin“, erwiderte Jess und strich ihr sanft durchs Haar. „Nicht dass du doch noch krank wirst.“
    „Mach dir nicht so viel Gedanken“, sagte Tessa und warf einen Blick auf den Frühstückstisch.
    „Das sieht alles sehr lecker aus.“
    „Ja, dann setz dich, du hast sicher Hunger.“



    Tessa nahm Platz und sah Jess zu, wie er die Schalen mit Müsli füllte.

    @gotti: Ja, Du hast recht... man will es nicht glauben und vielleicht hast Du ja auch recht mit Deinen Vermutungen, wo Jess wirklich steckt... noch ist es ja nur Tessas Gedanke, dass er zurück zu den Drogen gegangen ist.
    Du wirst es heute erfahren :)
    Danke für Deinen KOmmi!



    Llynya: Ja, Du hast recht, für Jess ist es wirklich ein persönlicher Angriff, auch dass Tessa so ein geordnetes Leben hat. Ich denke, er hat es bisher ja doch auch nicht so deutlich vor die Nase geführt bekommen wie in diesen ersten Wochen, wo er praktisch "mittendran statt nur dabei" war.
    Ob er nun wirklich wieder zu Drogen gegriffen hat oder nicht, erfährt man heute!
    Danke für Deinen Kommi!

    Liebe Llynya,


    ich hoffe, Du denkst nicht, ich hätte deine FS vergessen. Habe natürlich alles gelesen und muss sagen, ein riesiges Kompliment an Dich. Ich bin so gespannt, wie es nun weitergeht und mache mir riesige Sorgen um Lina! Ich teile Richards Bedenken vollauf, ich weiß nicht, ob sie sich nicht verrät. Und Elias ist mir inzwischen regelrecht unheimlich :misstrau dieser Doofi.
    Dann lässt er sich auch noch von der Fürstin verführen, also sowas!!! Soweit ist es also mit seiner Disziplin ;) das sind mir die Richtigen.


    Dass Richard mehr als nur Freundschaft für Lina empfindet, habe ich ja schon ziemlich früh geahnt, und es freut mich, dass es wirklich so ist. Vielleicht haben die zwei dann ja doch irgendwann eine Zukunft... wobei ich mir auch vorstellen könnte, dass sich irgendwann was zwischen Lina und Elias anbahnen könnte, so unsinnig und unreal das im Moment auch wirken mag.


    Ich hoffe wirklich, Lina kann ohne sich zu gefährden etwas erreichen. Fanatismus und Hass waren schon immer schlechte Ratgeber gerade in der Führung eines Landes und haben immer nur zu unsäglichem Leid und Unrecht geführt, wieso sollte das hier anders sein :( Ich hoffe wirklich, dass das Tularea erspart bleibt, und auch Lina und all ihren Lieben, aber ich denke, dass da noch einiges auf uns und sie zukommen mag.


    Ich bin gespannt, wie es weitergeht! Deine Kulissen waren wie immer toll, und Lina gefällt mir sehr gut in ihren neuen Roben. Elias feiner "Sack" gefällt mir dagegen gar nicht. Er wirkt damit noch boshafter und kühler, finde ich. Das beige der schlichten Mönchskutte war irgendwie warm und aber das hier... wirkt kalt und steif und steril wie er selbst geworden ist.


    Dafür sind die Unterhosen der Renner, da muss ich Ines recht geben! :D