Kapitel 93
Weggabelungen
Tessa sah ihre Mutter verwirrt an.
„Ich weiß nicht einmal, wer das ist“, sagte sie dann langsam. Nun stand auch Jess auf, kam zu ihr, griff sie an den Schultern und spähte über diese hinaus auf die Straße hinunter.
Amanda Wagner erwiderte derweil nichts und ging stattdessen entschlossen zum Summer, drückte diesen und rief ein fröhliches: „Kommt in den zweiten Stock!“ in die Gegensprechanlage.
Dann rannte sie wie der Wind durch die Küche in den Wohnungsflur und öffnete die Türe. Es waren Stimmen zu hören, die weder Tessa noch Jess zuordnen konnten. Schließlich rief Amanda nach draußen, dass beide doch in die Küche kommen sollten.
Sie taten wie geheißen und musterten erstaunt die rothaarige Dame, die in Begleitung eines schwarzhaarigen Herren mit einem perfekt gestutzten Bart in die Küche traten.
„Guten Tag!“, sagte die Frau freundlich und lächelte beide an, während der Mann mit einer etwas herrischen Geste die Küche betrat und die Einrichtung musterte.

Verwirrt sagten Tessa und Jess wie aus einem Mund: „Hallo!“ und wussten nicht recht, was sie nun tun sollten – immerhin waren diese Menschen ihnen gänzlich fremd.
Tessas Mutter jedoch schien beide umso besser zu kennen. Sie kam nach ihnen in die Küche und umarmte die Frau herzlich.
„Karin! Wie schön, dass es geklappt hat!“
Die rothaarige Frau lächelte und sagte nur: „Ich hab es dir ja versprochen, Amanda!“

Nun wandte Tessas Mutter sich ihrer Tochter zu und stellte vor: „Das ist meine Tochter Tessa, Karin. Und der junge Mann ist Jess.“
Die Frau lächelte beide freundlich an. „Sie sehen Ihrer Mutter ähnlich, Tessa“, stellte sie dann gütig fest.
„Nun, dann sollten wir uns auch vorstellen, nicht wahr?“, ergriff der schnittige Mann nun das Wort, marschierte entschlossen auf Jess zu und reichte ihm die Hand.
„Ich nehme an, Sie sind der junge Mann, dessen interessante Kunstwerke ich zu bestaunen die Ehre hatte? Mein Name ist Eduard van Bircken.“

Verwirrt erwiderte Jess den resoluten Gruss und schüttelte dem Mann die Hand, der nun fortfuhr zu erwähnen: „Diese bezaubernde Frau hier ist meine verehrte Gattin, wenn ich ebenfalls vorstellen darf. Ich habe gehört, Sie haben heute Geburtstag, Jess – ich darf Sie doch bei Ihrem Vornamen nennen, nicht wahr? Nun, dann meinen herzlichen Glückwunsch!“
Völlig durcheinander stammelte Jess: „Nun… vielen Dank, Herr van… van…“
„Bircken“, half dieser ihm unbeeindruckt weiter und sah sich dann entschieden um. „Nun – haben Sie hier noch weitere Ihrer Werke, die ich mir anschauen könnte?“

„Werke?“, wiederholte Jess verwirrt. „Ich… weiß nicht ganz, was Sie meinen…“
„Nun, darum sind wir doch hier, nicht wahr“, erwiderte Herr van Bircken nun selbst leicht verwirrt und warf seiner Frau fragende Blicke zu, die lächelte und ihm zu nickte.
„Ihre Werke“, wiederholte dieser daraufhin. „Ihre Bilder, von denen ich schon einige sehr vielversprechende bestaunen durfte. Ich wollte mir einige weitere davon anschauen und mit Ihnen über die weiteren Möglichkeiten sprechen.“
Jess sah ihn weiterhin verwirrt an, lachte dann verunsichert auf und antwortete: „Nein – nein, Sie müssen mich offenbar mit jemandem verwechseln, Herr van Bircken.“

Nun fiel Amanda in den Dialog ein: „Ich muss mich entschuldigen, Herr van Bircken… ich habe Jess nichts davon erzählt, dass ich Ihnen einen Teil seiner Bilder zur Verfügung gestellt hatte.“
Verwirrt sahen sie nun alle zugleich an, woraufhin sie in wenigen Worten erklärte: „Karin – also Frau van Bircken ist seit langem eine gute Kundin in meinem Salon und neulich unterhielten wir uns über Jess´ außergewöhnliches Talent und sie erklärte sich bereit, Ihrem Mann – Ihnen, Herr van Bircken – einige Exemplare der Zeichnungen, die ich von ihm geschenkt bekommen hatte, zu zeigen und seine Meinung darüber anzuhören. Herr van Bircken ist Galerist“, fügte sie an Jess und Tessa gewandt hinzu, deren Gesichter nun vor erstauntem Schrecken und Verblüffung gezeichnet waren.
„Ich wollte euch damit überraschen, zum einen, zum anderen dachte ich, es würde Jess nur nervös machen, wenn er davon weiß… und es war nicht ganz sicher, ob die beiden heute die Zeit finden, herzukommen. Ich wollte nichts verraten, damit ihr nicht enttäuscht seid.“
Karin van Bircken lachte herzlich. „Die Überraschung scheint uns gelungen zu sein!“
Ihr Ehemann, der dem ganzen mehr verwirrt als aufmerksam zugehört hatte, wandte sich nun wieder Jess zu und sagte entschieden: „Wie dem auch sei – Ihre Bilder sind ganz hervorragend gearbeitet, Jess, und ich möchte in aller Bescheidenheit behaupten, dass ich dies gut beurteilen kann, nach mehr als dreißig Jahren in dieser Branche.“

Jess schluckte. „Das… das ehrt mich sehr, Herr van Bircken.“
„Wem haben Sie Ihre Werke schon alles vorgelegt. Wo wurden sie bisher ausgestellt?“, wollte dieser ohne Umschweife wissen.
„Vorgele… ausgestellt?“, wiederholte Jess zerstreut. „Ich… ich… niemandem, ehrlich gesagt.“
„Niemandem?“, wiederholte sein Gegenüber ungläubig. „Das ist ja ungeheuerlich! Dann habe ich hier wohl einen Rohdiamanten entdeckt, was?“
Er bleckte seine weißen Zähne und lachte dröhnend auf. Tessa schaute von ihm zu Jess und wieder zurück und fühlte sich für einen Moment, als sei sie in einem völlig durchgedrehten, aber aufregenden Film gelandet, in dem sie halb Zuschauer- halb Mitdarstellerin war.
„Nun – Jess, dann würde ich jetzt gerne Ihre weiteren Werke sehen“, sagte Herr van Bircken nun. Jess stand einen Moment unbeweglich und schien seine Zunge verschluckt zu haben, was auch seinem Gegenüber auffiel.
„Oder möchten Sie das etwa nicht?“, fragte dieser dann auch prompt, was Jess sofort aus seiner Starre aufwachen ließ. Schnell lächelte er und sagte: „Aber… doch… gerne… ich hab die meisten im Wohnzimmer, Sie können Sie gerne sehen. Folgen Sie mir doch einfach.“

Wie eine kleine Prozession folgten sie ihm nun alle in den Wohnraum, wo Tessas Vater immer noch in aller Seelenruhe am Tisch saß, die Neuankömmlinge freundlich begrüßte und so tat, als sei er in alles eingeweiht.
Jess reichte Herrn van Bircken eine Mappe mit seinen Zeichnungen der letzten Wochen. Jene blätterte dieser mit undefinierbarer Miene durch, während ihm alle wie gebannt zu sahen. Dann stand er auf und stolzierte an der Reihe aufgehängter Portraits und Malereien vorbei, die Jess in den letzten Monaten hier aufgehängt hatte. Vor Tessas Portrait blieb er besonders lange stehen und fing letztlich sogar an, sich nachdenklich mit den Fingern in seinem Bart herum zu fahren, während ihn weiterhin alle gespannt ansahen und auf sein Urteil warteten.

Schließlich drehte er sich energisch zu Jess um und sagte mit fester Stimme: „Das ist großartig, wirklich großartig! Das einzige, was ich zu bemängeln habe, ist, dass Sie noch zu breitfächerig arbeiten. Sie brauchen einen eigenen Stil, eine Richtung, aber Sie sind noch jung und werden sich noch festlegen können. An welchen Kunsthochschulen haben Sie studiert?“
Jess schien um ganze fünf Nummern zu schrumpfen, während Tessa ängstlich den Atem anhielt. Doch Frau van Bircken zog ihren Mann sacht zur Seite und raunte ihm wenige Worte zu. Dieser sah sie verblüfft an und sagte dann: „Nein sowas!“, woraufhin sie leise flüsterte: „Aber Liebling, davon habe ich dir doch schon mehrmals erzählt…“