Kapitel 88
Klare Worte
Nach dem Schwimmbadbesuch hatte Tessa einige Stunden des Abends damit verbracht, über Joshuas und Felis Aussagen bezüglich Monika und Niklas nachzudenken. Am meisten hatte sie dabei Joshuas Anmerkung getroffen, dass es für ihn und wohl auch für Feli zeitweise auch schwer war zu verstehen, wieso sie jemanden wie Jess liebte.
Zum ersten Mal wurde Tessa mit aller Macht klar, dass es für ihre Freunde sicher nicht ganz einfach war, sie bei ihrer Liebe zu einem „Phantom“ und noch dazu einem Mann, der so offensichtlicht „nicht gerade das Beste“ für sie zu sein schien, all die Zeit zu unterstützen.
War es da nicht eigensüchtig von ihr, gegenüber Monika immer nur ihren eigenen Zwist mit Niklas nach vorne zu stellen, sogar über die so zuverlässige Freundschaft, die Monika ihr all die Jahre entgegen gebracht hatte? Natürlich konnte sie ihr immer noch nur mit Mühe verzeihen, dass diese ihr die Beziehung verheimlicht hatte. Das war einfach ein Fehler gewesen, an dem es nach wie vor nichts schön zu reden gab. Aber auch eine Monika war eben nur ein Mensch. Also nahm Tessa sich ein Herz und bat Monika noch am selben Abend um ein Treffen – zu dritt.

Monika zeigte sich am Telefon sichtlich erstaunt, aber aus ihrer Stimme klang unverhohlene Freude mit.
„Ich frage Niklas direkt morgen, ob er am Samstag Zeit hat“, versprach sie.
Am folgenden Abend klingelte Tessas Telefon erneut, und Monika sagte den Termin zu. Auch Niklas würde sich sehr freuen. Die beiden verabredeten sich für den späten Nachmittag in einem ihrer Lieblingscafés.
Der September hatte noch einmal alle Kraft aufgebracht und es war ein warmer Spätsommernachmittag. Die Sonne hüllte die Terrasse des Cafés in warmes Licht, als Tessa zum verabredeten Zeitpunkt dort eintraf.
Monika und Niklas standen schon auf dem Bürgersteig vor der Terrasse und winkten ihr zu.
Sofort kam Monika auf sie zu und schloss sie in eine herzliche Umarmung.
„Wie schön, dich zu sehen“, sagte sie lächelnd. „Geht´s dir gut?“

„Ja, soweit schon“, nickte Tessa und lächelte ihrer Freundin zu. Niklas war in einigen Metern Abstand stehen geblieben und hatte die Szene zwischen beiden Frauen lächelnd beobachtet.
Nun wandte Tessa sich ihm zu. Sie fühlte ein seltsames Unbehagen in sich aufsteigen. Es war das erste Mal, das sie einander wieder gegenüber standen, seit Niklas und Monika ein Paar geworden waren. Zum letzten Mal hatte sie Niklas an jenem Abend in Monikas Wohnung zu Gesicht bekommen, als die „Sache“ zwischen ihnen so unschön aufgeflogen war.
Sie wusste nicht recht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Irgendwie wusste sie nicht einmal, wo sie diesen Menschen vor sich einordnen sollte. Aus dem ihr doch immer noch so vertrauten Gesicht blickten sie der Kinder- und Jugendfreund von eins, der Verräter ihrer schweren Zeit zum Beginn der Beziehung mit Jess und zudem ein völlig fremder Mann, der immerhin nun der Partner ihrer besten Freundin war, zugleich an. Das verwirrte sie, und sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte, als sie voreinander standen.
Niklas schien es einen Moment ähnlich zu gehen, doch er überwand seine Scheu schneller als Tessa, ging auf sie zu und streckte ihr kameradschaftlich die Hand entgegen.
„Hallo, Tessa“, sagte er dabei freundlich, aber schlicht und lächelte sie so unbekümmert als möglich an.

Tessa erwiderte den festen Druck seiner Hand, war aber doch recht froh, als er sie wieder losgelassen hatte.
Einen Moment standen die drei etwas unsicher nebeneinander, dann schlug Niklas vor, das schöne Wetter auszunutzen und sich einen Platz auf der Terrasse zu suchen.
Dankbar für diesen Vorschlag folgten ihm die beiden Frauen. Tessa fiel es bewusst auf, dass Monika sich nicht wie erwartet neben Niklas, sondern neben sie setzte. Fast als wolle sie betonen, dass auch Tessa noch einen wichtigen Platz in ihrem Leben innehatte – Niklas hin, Niklas her. Das tat Tessa wohl, und sie merkte, wie sie sich ein klein wenig entspannte.
Schnell hatten sie Getränke und Essen bestellt und saßen dann eine Weile schweigend am Tisch und sahen sich verstohlen an.
Schließlich erhob Monika das Wort und sagte: „Bist du mit deinem Praktikum fertig, Tessa? Wie war es? Ist es ein bisschen interessanter geworden als zum Anfang?“

Tessa griff das Thema dankbar auf.
„Nicht wirklich“, seufzte sie. „Es war ziemlich langweilig, und die Agentur hat sich sehr verändert. Ich bin offen gestanden einfach froh, dass ich es hinter mir habe.“ Sie zog eine kleine Grimasse.
Eigentlich hätte sie gerne noch viel mehr gesagt. Über ihre Unsicherheit, ihre Zweifel, die Ängste und Sorgen, welche ihr die veränderte Situation in der letzten Woche gemacht hatten. Doch im Beisein von Niklas wollten ihr diese Dinge nicht über die Zunge kommen, darum schwieg sie wieder und wartet darauf, dass ihre Freundin etwas erwiderte.
Monika nickte derweil. „Kann ich mir vorstellen. Praktika sind meistens langweilig.“
„Woher weißt du das?“, fragte Tessa erstaunt. „Du hast doch direkt nach der Schule mit einer Ausbildung begonnen.“
„Wir haben bei uns aber auch oft Praktikanten“, sagte Monika lächelnd. „Ich bemitleide sie immer, denn man kann ihnen eigentlich keine ernsten Sachen anvertrauen, dazu sind sie zu kurz da. Also sind die Armen oft total unterfordert.“
Tessa nickte. „Ja, das hat mir Joshua auch so ähnlich gesagt.“

Nun räusperte Niklas sich und sagte: „Falls es dich beruhigt, Tessa, ich bin bei meinem praktischen Vierteljahr auch fast täglich nur eingeschlafen und habe mich die meiste Zeit gelangweilt. Das gehört offenbar einfach dazu.“
Tessa sah ihn einen Moment an, als müsse sie sich erst wieder in Erinnerung rufen, dass er nun auch dabei war und sich an ihren Gesprächen beteiligen konnte.
Sie nickte nur stumm und wusste nicht recht, was sie antworten sollte.
„Und, nun genießt du deine Ferien, was?“, fragte Monika nach einer Weile des Schweigens.
Tessa zuckte mit den Schultern. „Ja, aber es gibt noch viel zu tun…“
Sie wollte weitersprechen und erzählen, dass Jess vermutlich bald nach Hause kommen würde, doch sie brachte es nicht über sich, seinen Namen vor Niklas in den Mund zu nehmen. Zu unsicher war sie sich noch immer darüber, wie er inzwischen über ihn dachte. Und da war immer noch etwas in ihr, das wohl aus alten Zeiten resultierte und ihn automatisch vor diesem Menschen schützen wollte.
Also schwieg sie wieder, bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, griff nach dem Glas, das der Kellner inzwischen vor ihr abgestellt hatte und beschäftigte sich mit ihrem Wasser.

Monika blickte erst sie, dann Niklas ungemütlich an.
„Hört mal“, sagte sie dann nach einer Weile. „Es bringt nichts, wenn wir nun den Rest des Abends hier sitzen und uns wie die Stockfische anschweigen. Es ist offensichtlich, dass das für uns eine etwas … seltsame Situation ist. Und ich finde, wir sollten darüber reden, wenn wir schon mal alle so beisammen sitzen.“
Tessa sah ihre Freundin überrascht an und warf dann Niklas einen Blick zu, dessen Augen ruhig auf Monika ruhten.
Etwas durchzuckte sie dabei. Er sah Monika in etwa so an, wie Jess manchmal sie selbst anblickte. In seinen Augen schwang unverhohlene Zuneigung, eine zärtliche Bewunderung und etwas, das Tessa rührte und sie weicher zu machen schien, als es ihr selbst in diesem Moment lieb war.

Monika derweil erwiderte seinen Blick nur kurz und sah dann wieder Tessa an.
„Meinst du nicht auch?“
Tessa nickte langsam. „Ist schon richtig“, sagte sie dann verunsichert. Sie wusste nicht recht, wie dieses Gespräch ablaufen sollte.
Zu ihrer Überraschung ergriff nun Niklas das Wort.
„Tessa, hör mal… ich kann sehr gut verstehen, dass du mir misstraust“, sagte er. „Wir hätten dir das mit uns sagen sollen. Und vor allem fürchte ich, du denkst, ich hätte nur darum Kontakt zu dir aufgenommen, weil ich schon etwas für Monika empfunden habe.“
„Ist es denn so?“, fragte Tessa geradeheraus und sah ihn zum ersten Mal an diesem Abend direkt an.
„Nein“, erwiderte er ruhig und hielt ihrem Blick stand. „Ich habe schon damals im japanischen Garten zu dir gesagt, dass ich dich gerne anrufen möchte. Da habe ich Monika nicht einmal fünf Minuten gekannt und nicht im Traum daran gedacht, dass es mit uns soweit kommen könnte.“
Die beiden warfen sich einen lächelnden Blick zu, von dem Tessa nicht wusste, ob sie ihn rührend oder beleidigend finden sollte, da er sie auf eine unschöne Weise aus einem Geheimnis auszuschließen schien, das nur den beiden zugänglich war.
Sie schluckte und starrte einen Moment schweigend vor sich hin, überlegte, wie viel Glauben sie Niklas´ Worten schenken konnte.

„Es ist wirklich einfach passiert“, betonte Monika noch einmal und warf Tessa einen angespannten Blick zu. „Ich dachte, du würdest das am ehesten verstehen…“
Getroffen von diesen Worten blickte Tessa auf ihre Schuhspitzen. Dann seufzte sie und sagte: „Das tu ich auch. Wer weiß schon, wohin die Liebe fällt, nicht wahr?“
Sie lächelte und dachte einen Moment an Jess. „Ich weiß, das ist nicht zu steuern“, fuhr sie dann fort. „Trotzdem habe ich ein Problem mit euch beiden. Erstmal natürlich, weil ihr mir nichts gesagt habt. Es ist schon nicht toll, einfach so in eine Szene rein zu platzen, mit der man in hunderttausend Jahren nicht rechnen würde.“
Sie winkte ab, als Niklas Luft holte, um etwas zu ihrer Verteidigung anzubringen.
„Schon gut, mir ist klar, dass ihr beide euch absolut bewusst darüber seid, dass das nicht gerade die schlauste Aktion war, die ihr je gestartet habt. Es ist ja aber nicht nur das.“