Zeit der Finsternis


  • So, fertig. :D Ist ein kleines, klitzekleines Kapitelchen. Deshalb gibt´s auch keine Lupenbilder, und alle waren brav, deshalb gibt´s auch keine Outtakes.
    Ich hoffe, ihr habt trotzdem Spaß. ;)




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    Ich war Runcal in meinen Träumen begegnet.


    Ich hatte begonnen, Runcal zu vertrauen.


    Und ich hatte ihm alles – fast alles – anvertraut, was mich bewegte und was wir planten.


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    Die Erkenntnis streckte mich nieder wie ein Keulenschlag; ich fühlte mich wie betäubt, mir schwindelte und ich konnte mich kaum auf den Beinen halten.


    Dann durchschnitt Shainaras Stimme die dröhnende Stille in meinem Kopf.
    „Das ist nicht Runcal."


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    Sie kniete vor der Pritsche und hielt ihren Blick starr auf den Mann gerichtet, ihre ganze Konzentration galt ihm.


    „Was soll das heißen, das ist nicht Runcal?" fragte Leodric scharf.


    Shainara legte die Hände um das Gesicht des Mannes. Er hob den Blick und sah sie an, dann begann er, am ganzen Körper zu zittern.


    „Es bedeutet", sagte Shainara langsam, „dass das hier nicht Runcal ist. Es ist nur jemand, der wie Runcal aussieht."


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    „Aber – wie ist das möglich?" stieß Alec hervor.


    „Es ist eine Illusion." Immer noch hielt Shainara den Mann mit ihrem Blick gefangen.
    „Ein machtvoller Täuschungszauber, der uns etwas sehen lässt, das es nicht gibt.
    Die Bänne um diesen Kerker sorgen dafür, dass Runcal seiner Macht beraubt ist und man dieses Verlies durch Magie weder betreten noch verlassen kann.
    Und das bedeutet, dass jemand anderes diesen Zauber gewirkt hat. Und dass derjenige durch die Tür gekommen ist."


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    Leodric stieß einen unterdrückten Schrei aus und schlug mit der Faust gegen die Tür. Aus seinen Augen loderte blanker Zorn.


    „Neiyra", sagte Shainara, und ich fuhr zusammen.
    „Ich brauche Deine Hilfe. Ich habe meine volle Kraft noch nicht zurück erlangt, und das hier ist heikel."


    Zögernd trat ich an die Pritsche heran. Es fiel mir schwer, diesem Mann ins Gesicht zu sehen, mich ihm auch nur zu nähern.


    „Was kann ich tun?", fragte ich leise.


    „Wir müssen seinen Geist festhalten", erwiderte Shainara.
    „Damit er uns nicht entgleitet, wenn ich den Zauber breche. Es könnte sonst sein Tod sein."


    Ich kniete mich neben Shainara, schloss kurz die Augen und versuchte, mich zu öffnen für was auch immer Shainara vorhatte.


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    Fast sofort konnte ich es spüren; den Kern einer Präsenz, gefangen innerhalb dieses Körpers, dessen Äußeres mir so schmerzlich vertraut war.
    Verzweifelt kämpfte der Mann an gegen das, was ihn band; verurteilt zu stummer, panischer Hilflosigkeit.
    Seine Schreie drangen nicht nach außen, und das Zittern des Körpers war nur ein schwaches Echo seiner Raserei im Innern.


    Entsetzt versuchte ich, zu ihm vorzudringen, doch Shainara hielt mich zurück.
    „Warte", sagte sie, „wir müssen behutsam vorgehen. Wir haben nur einen Versuch."


    Ich nickte stumm und zog meinen Geist zurück, folgte Shainaras Führung.
    Ich konnte spüren, dass sie begann, eine Art leuchtenden Kokon um die gefangene Seele zu legen, langsam und vorsichtig; und ich bemühte mich, die pulsierende Kraft, die von ihr ausging, zu verstärken und zu stabilisieren.


    Bereits nach kurzer Zeit ließ das Toben im Innern nach, und als der Geist des in dem Körper eingekerkerten Mannes ganz in eine schimmernde, leuchtende Blase gehüllt war, hatte er sich fast vollständig beruhigt; ich spürte nur noch eine erwartungsvolle, angsterfüllte Hoffnung.


    „Neiyra", sagte Shainara leise, und ich nickte, ohne den Blick von diesen weit aufgerissenen, starr auf Shainara gerichteten Augen abzuwenden, in die ich schon so oft geschaut hatte; und in deren Tiefe ich jetzt nichts mehr finden konnte.


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    „Neiyra, Du musst seinen Geist festhalten, während ich den Zauber breche. Kannst Du das tun?"


    Erneut nickte ich und konzentrierte mich ganz auf das Wesen des vor Furcht wie erstarrt wirkenden Mannes und die ihn umgebende, schützende Hülle.


    Ich fühlte, wie Shainara sich langsam zurückzog und die Seele des Mannes drohte mir zu entgleiten; ich biss die Zähne zusammen und richtete all die Kräfte, die mich durchströmten, auf ihn, bis ich nichts mehr wahrnahm außer ihm und mir selbst und dem Band, das ihn hielt und ihn fest und sicher an meinen eigenen Geist fesselte.


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    Ich spürte, wie eine gewaltige Woge aus reiner Kraft uns zu umspülen schien und uns zu verschlingen drohte; und dann hörte ich Shainaras Stimme in meinem Kopf.


    „Jetzt, Neiyra!" rief sie, und ich bot alle Kraft auf, die mir noch zur Verfügung stand.


    In einem blendenden Blitz jagte Shainara die Kraftwoge in ungeahnte Höhen, und als die schützende Hülle um die Seele des Mannes zerbarst, fühlte ich, wie Shainara nach uns griff und uns aus diesen tobenden Kraftfluten an die Oberfläche des Bewusstseins zurück führte.


    Keuchend holte ich Atem, doch dann spürte ich, dass etwas geschah, und meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf das Gesicht des Mannes vor mir.


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    Langsam, fast unmerklich, verblasste Runcals Antlitz, und das eines anderen, mir fremden Mannes gewann die Oberhand, verstärkte sich mehr und mehr, bis nichts mehr von Runcals Bild übrig war.


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    Als die Verwandlung vollständig war, stieß der Mann einen klagenden, schmerzerfüllten Schrei aus, dann verdrehte er die Augen und sackte in Shainaras Armen zusammen.


    Alec und Leodric sprangen vor und legten ihn behutsam auf die Pritsche.


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    Leodric strich dem bewusstlosen Mann eine Strähne aus dem Gesicht.
    „Verdammt", sagte er.
    „Das ist Lyall. Er gehört zu meinen besten Männern."


    Artair und Brayan halfen Shainara und mir beim Aufstehen.
    Ich war froh, mich auf Brayan stützen zu können; mir zitterten die Beine, und Shainara war leichenblass und klammerte sich an Artairs Arm.


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    Wütend lief Leodric im Kerker auf und ab.
    „Lyall wurde vermisst, wir haben ihn überall gesucht. Erfolglos, wie man sehen kann."


    Er blieb stehen und starrte den regungslosen Mann auf der Pritsche an.
    „Wir hätten an so etwas denken müssen", stieß er gepresst hervor.


    „Niemand hätte dies vorhersehen können." Artairs Stimme war ruhig.
    „Seit wann wird Lyall vermisst?"


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    Alec schüttelte den Kopf.
    „Wir konnten es nicht genau feststellen. Es schien, als ob alle Wachen nur noch eine verschwommene Erinnerung daran hatten, wann sie Lyall das letzte Mal gesehen hatten."


    „Zweifellos kennen wir jetzt den Grund dafür", sagte Leodric bitter.
    Er drehte sich zu Shainara um.
    „Was ist hier geschehen?"


    „Das müssen wir herausfinden." Shainaras Stimme klang müde.
    „Ich habe eine recht klare Vorstellung, aber ich will zuerst mit Raghnall sprechen. Jetzt sofort. Er ist auch hier eingekerkert, er könnte etwas bemerkt haben."


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    „Traut Ihr ihm?" In Leodrics Stimme schwang Zweifel mit.


    „Ja", sagte Shainara schlicht.


    Leodric nickte kurz. „Dann folgt mir."


    Entschlossen schritt er zur Kerkertür und bedeutete den Wachen, sich um den noch immer besinnungslosen Lyall zu kümmern, während sich Shainara, Alec, Artair und Brayan anschickten, ihm zu folgen
    .
    „Wartet", sagte ich leise, und meine Stimme klang heiser.
    Niemand schien mich zu hören, und einen Moment lang war ich versucht, sie einfach gehen zu lassen.


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    „Wartet!", rief ich dann laut, und alle blieben stehen, wandten sich zu mir um und sahen mich überrascht an.


    Ich sah Artair in die Augen und konnte meinen Blick nicht lösen.
    „Ich muss euch etwas erzählen", flüsterte ich.


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    Personenverzeichnis ~ Stammbaum ~ Karte




  • Der arme Lyall!


    Und Neyra will es ihnen doch wohl nicht erzählen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die anderen gelassen darauf reagieren werden...

  • Sie muss es ihnen erzählen, oder? Immerhin ist da ein großes Ritual geplant, um die Kinder der Cul´Dawr zu retten, und bei dem nicht nur Artair Leib und Leben riskiert.
    Und das scheint nun auf den Ratschlägen desjenigen zu beruhen, der die Kinder überhaupt erst in diese Lage gebracht hat und der Artairs Kopf will. :(
    Also, ich denke, da muss sie einfach den Mund aufmachen. ;)


  • Innad: huhu Du! Na, mal sehen, ob Du damit richtig liegst. ;)





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    Fröstelnd schob ich mich näher an den großen Kamin, aber tief in mir wusste ich, dass die Kälte aus meinem Inneren kam und kein noch so loderndes Feuer mich davon befreien konnte.


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    Das Gefühl des Verlustes war quälend, nur übertroffen von dem Schmerz des Verrats und dem Wissen, belogen und hintergangen worden zu sein.


    Mein Geständnis im Kerker - dass es Runcal höchst selbst war, mit dem wir Pläne zur Errettung der Kinder geschmiedet hatten - war eingeschlagen wie ein Blitz.
    Nur Shainara war ruhig geblieben. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es für sie nicht so überraschend kam wie für alle anderen, mich eingeschlossen; und sie war es auch gewesen, die dem Durcheinander der auf mich einprasselnden Fragen ein Ende gesetzt hatte.


    „Dazu ist später noch Zeit", hatte sie entschieden gesagt.
    „Jetzt will ich zuerst zu Raghnall."


    Und so war es auch geschehen. Shainara und Brayan waren zu Raghnall gegangen; Leodric, Artair und Alec hatten einen erneuten Versuch unternommen, die Wachen zu befragen, und ich hatte Lyall in eine schnell hergerichtete Kammer begleitet und ihn dort versorgt, unterstützt von Ilisa und Megan.


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    Sie waren rasch herbeigeeilt, als sich die Nachricht von Lyalls Entdeckung wie ein Lauffeuer in der Burg verbreitet hatte, und standen mir tatkräftig zur Seite, ohne mir Fragen zu stellen.
    Wofür ich überaus dankbar war.



    Und jetzt stand ich in Leodrics Halle und wartete auf die anderen, und es kam mir so vor, als sähe ich meinem eigenen Tribunal entgegen.


    Tja, das hast Du Dir wohl selbst zuzuschreiben, flüsterte mir die kleine Stimme in meinem Innern zu, aber ich zog es vor, sie zu ignorieren.


    Hinter mir hörte ich das leise Gemurmel und Gelächter der Frauen, die das Nachtmahl vorbereiteten.


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    Megan, Alecs Frau, hatte mir die ganze Zeit über immer wieder verstohlene Blicke zugeworfen; jetzt schien sie sich ein Herz zu fassen und kam zögernd auf mich zu.


    Aber in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Leodric, Alec und Artair betraten die Halle, dicht gefolgt von Shainara und Brayan.
    Sie traten zu mir an den Kamin, und Leodric fuhr sich müde durchs Haar.


    „Lasst uns nach nebenan gehen", sagte er, und wir folgten ihm in einen an die Halle angrenzenden Raum.
    Im Kamin flackerte ein munteres Feuer, aber man konnte sehen, dass in dieser Kammer gearbeitet wurde.


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    Ilisa legte ein paar Scheite nach, und Alec rückte einen Stuhl für Megan zurecht.


    „Hat Lyall etwas gesagt?", richtete Leodric dann das Wort unumwunden an mich.


    „Ja, das hat er", antwortete ich.


    Lyall war immer wieder kurz zu Bewusstsein gekommen und hatte sich an meinen oder Megans Arm geklammert, in dem verzweifelten Wunsch, uns etwas mitzuteilen.


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    Es hatte lange gedauert, aber nach und nach war es uns gelungen, seine unzusammenhängenden Sätze zu einem Bild zusammenzufügen.

    „Er weiß nicht, wie lange er dort festgehalten wurde", sagte Ilisa und trat zu uns.


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    „Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, dort im Kerker."
    Man konnte ihr ansehen, wie bekümmert sie war.


    „Woran kann er sich noch erinnern?"
    Auch Shainaras Stimme klang müde.


    „Es ist nicht viel", sagte ich und schüttelte den Kopf.
    „Er erinnert sich deutlich, dass er zur Wache vor der Kerkertür eingeteilt war, und dass er plötzlich das sichere Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte."


    Shainara runzelte die Stirn. „Was stimmte nicht?"


    „Das konnte er nicht sagen. Nur, dass er die dringende Notwendigkeit verspürte, nachzusehen."


    „Er hat Ewan, der mit ihm Wache vor der Tür hielt, Bescheid gesagt", ergänzte Ilisa mit ruhiger Stimme, und ich nickte.


    „Er betrat den Kerker, und in diesem Moment spürte er, dass noch etwas anderes mit ihm über die Schwelle kam", fuhr ich fort.
    „Er hat augenblicklich begriffen, dass es eine Falle war, und wollte wieder umkehren, aber es war zu spät; er hat fast sofort das Bewusstsein verloren."


    „Konnte er sehen, was es war?", fragte Shainara ruhig.


    „Es war niemand zu sehen, aber er hat verschwommene Bilder und den Klang einer Stimme im Kopf. Von einer Frau mit farblosen Augen", fügte ich tonlos hinzu, und mich fröstelte erneut.


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    „Womit dieser Punkt wohl geklärt wäre", sagte Artair hart.


    „Was dann geschehen ist, konnte Lyall nicht sagen", fuhr ich fort.
    „Er hat keine Erinnerung daran, was sie mit ihm gemacht haben.
    Als er wieder zu sich kam, war er in seinem eigenen Körper eingekerkert; unfähig, zu sprechen oder ihn nach seinen Wünschen zu bewegen.
    Und niemand hat ihn mehr erkannt, weil jeder nur die Illusion von Runcal sehen konnte."


    „Das deckt sich mit dem, was wir in Erfahrung bringen konnten", meldete sich Alec zu Wort.


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    „Wir haben nochmal mit Ewan gesprochen, weil er der letzte war, der Lyall gesehen hatte, und wir haben ihn gefragt, ob während dieser Wache irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen ist.
    Daraufhin ist ihm eingefallen, dass Lyall den Kerker betreten hat, weil er das Gefühl hatte, etwas sei nicht in Ordnung."


    „Warum hat er das nicht schon früher erzählt?", fragte Brayan erstaunt.


    „Weil -" Artair fuhr sich mit der Hand über die Stirn – „weil er es für unwichtig hielt und beinahe schon wieder vergessen hatte.
    Denn Lyall ist nach kurzer Zeit wieder aus dem Kerker herausgekommen und hat die Wache mit ihm zusammen beendet.
    Nur dass das wohl nicht Lyall war, sondern Runcal."


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    Ungläubig starrte ich ihn an.
    „Er hat was gemacht?"


    Leodric knurrte grimmig.
    „Offenbar hat sich dieser Bastard einen Spaß daraus gemacht, seine eigene Kerkertür zu bewachen. Und dann ist er einfach davonspaziert."


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    Wütend schlug er mit der Faust auf den Kaminsims.


    „Und in dieser Zeit", sagte Shainara, „hat er den Zauber der Hoffnungslosigkeit über die Kerker gelegt. Er war außerhalb seines Kerkers, seine Macht war nicht mehr beschnitten."


    „Ja", sagte Alec nachdenklich, „ja. Ungefähr zu dieser Zeit hat es begonnen."
    Er schauderte.


    „Der Zauber hat geholfen, die Entdeckung seiner Flucht zu verzögern", fuhr Shainara fort, „niemand, der sich dort unten aufgehalten hat, war noch er selbst.
    Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gehörten schon immer zu Runcals stärksten Verbündeten."


    „Und nebenbei konnte er auf diese Art auch gleich damit beginnen, sich zu rächen", sagte Alec voller Zorn.


    „Es war wie damals." Leodrics Stimme klang heiser.
    „Wie in der ersten Zeit, als er hier eingekerkert war. Ich hatte damals jede Nacht Albträume."


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    Er stockte, und Ilisa legte ihre Hand auf seinen Arm.
    „Jede Nacht hat er mir gezeigt, wie meine Schwester und ihr Mann starben. Jede Nacht auf eine neue Art; eine grausamer als die andere."


    Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, dann sah er Artair an. „Verzeih", sagte er rau.


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    Auf Artairs Gesicht zeigte sich keine Regung, aber er nickte Leodric knapp zu.


    „Es hat erst aufgehört, als Ihr und Mártainn die Bänne verstärkt habt", fuhr Leodric leise fort.
    „Aber die Bilder sind niemals mehr aus meinem Kopf verschwunden."


    Einen Moment schien er tief in Gedanken versunken, dann sah er auf.
    „Auch in jenen Tagen lag ein Schleier der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung über allem.
    So ähnlich war es in letzter Zeit, wenn auch nicht so stark wie damals, und diesmal war es nur auf die Kerker begrenzt."


    „Und das habt ihr Raghnall zu verdanken", fiel Shainara ein, und überrascht sahen wir sie an.


    „Raghnall?" fragte Alec ungläubig, und Shainara nickte.


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    „Er hat getan, was er konnte, um den Zauber zu schwächen.
    Auch um seinen Kerker liegen Bänne - wenn auch nicht in dem Maße wie bei Runcal - deshalb war es ihm unmöglich, den Zauber zu brechen.
    Alles, was er tun konnte, war die Wachen, die seinen Kerker betraten, zu stärken und ihnen eine Art Schutz mitzugeben, der sie unempfänglicher für den Zauber machte und der auf alle Personen überging, denen sie begegneten.
    Ein solcher Schutz wirkt aber nur eine begrenzte Zeit."


    „Und er hat jeder Wache, mit der er in Kontakt kam, gesagt, dass Runcal entflohen ist", fügte Brayan hinzu.
    „Aber natürlich hat ihm niemand geglaubt."


    Leodric ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
    „Woher wusste er es?"


    „Zum einen hat er es gespürt", erwiderte Shainara.
    „Er hat auch Medurias Präsenz gespürt, und er hat versucht, Alarm zu schlagen, aber niemand hat auf ihn geachtet."


    „Offenbar haben wir doch in unserer Wachsamkeit nachgelassen, auch wenn es uns nicht so vorkam."
    Alecs Stimme war voller Bitterkeit, und er wandte sich ab.


    „Niemand konnte so etwas voraussehen", sagte Artair ruhig.
    „Es ist also sicher, dass es Meduria war?"


    Shainara nickte.
    „Raghnall ließ keinen Zweifel daran, dass sie es war, die Runcal zur Flucht verholfen hat. Denn er konnte es nicht nur spüren, es gab auch einen handfesten Beweis dafür."


    Alec fuhr herum.
    „Was für einen Beweis?" stieß er hervor.


    „Runcal hat es ihm gesagt." Brayan lachte auf, aber es klang nicht froh.


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    „Offenbar hat Runcal nicht nur die Wache in aller Seelenruhe beendet", warf er grimmig ein, „er hat danach auch noch ein kleinen Abstecher zu Raghnalls Zelle gemacht, um sich von ihm zu verabschieden."


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    Leodric sprang auf, seine Augen sprühten Funken.


    „Raghnall dachte, er wolle ihn töten", fuhr Shainara ruhig fort, „und sich für den Verrat rächen.
    Aber Runcal sagte nur, er solle nicht auf ein solch schnelles, gnadenvolles Ende hoffen.
    Er nicht, und auch niemand von uns."


    Eine Weile herrschte Schweigen. Niemand schien etwas sagen zu wollen, nun, da es keinen Zweifel mehr daran gab, welchem Feind wir uns stellen mussten.


    Dann ergriff Artair das Wort.
    „Ich sehe keine Möglichkeit, wie wir in absehbarer Zeit seiner wieder habhaft werden können", sagte er ruhig.


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    „Wir werden Torh Ogma überprüfen, aber ich glaube nicht, dass er sich ausgerechnet dort zeigen wird.
    Wir müssen entscheiden, was unsere nächsten Schritte sein sollen."


    „Und wir müssen die Vorbereitungen für das Ritual stoppen", warf Brayan ein.


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    „Wir sollten davon ausgehen, dass es sich um eine Falle handelt, um Artair zu töten."


    Langsam schüttelte Artair den Kopf.
    „Es gibt keine Alternative zu dem Ritual, wenn wir die Kinder retten wollen", sagte er und sah Shainara an.


    „Nein", stimmte sie zu, „die gibt es nicht."



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    „Ihr wollt das Ritual immer noch durchführen?" Leodric klang fassungslos.
    „Das kann nicht euer Ernst sein."


    „Ich bin mir gewiss, dass Shainara und Mártainn den Ablauf nochmal genau überprüfen werden."
    In Artairs Stimme lag kein Zweifel.


    „Das wird nicht nötig sein", sagte Shainara, und alle Augen richteten sich auf sie.


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    „Wir hatten einen gewissen… Verdacht."


    „Ihr hattet einen Verdacht?"
    Artair beugte sich vor und stützte sich auf dem Tisch ab.
    Seine Augen blitzten, und er hielt den Blick unverwandt auf Shainara gerichtet.


    Shainara sah ihn an und nickte bestätigend.
    „In jedem Zauber schwingt etwas vom Wesen des Druiden oder der Priesterin mit. Jeder von uns verleiht einem Zauber etwas Einzigartiges, und das fängt schon bei der Vorbereitung und der Anlage des Zaubers an, weil jeder eigene Präferenzen und Vorlieben hat.
    Selbst, wenn man versucht, diese Vorlieben zu verschleiern, kann man doch nicht ganz verhindern, dass zumindest eine Ahnung des eigenen Selbst in dem Zauber mitschwingt."


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    „Es ist nicht leicht zu erkennen, aber für die, die den Schöpfer des Zaubers kennen und wissen, wonach sie suchen müssen, gibt es Anhaltspunkte.
    Es gibt ein paar Besonderheiten in diesem Ritualzauber, die sich nach Runcal… angefühlt haben.
    Wir waren nicht sicher, denn einige von Runcals Anhängern, darunter auch Raghnall, haben seinerzeit viel von ihm übernommen, aber der Verdacht schien uns naheliegend genug zu sein, um einige Änderungen vorzunehmen.
    Eine Art Absicherung, die uns einen Vorteil verschafft. Und wir hoffen, dass wir dadurch nicht nur Runcals mögliche Pläne vereiteln können, sondern den Zauber sogar gegen ihn verwenden können."



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    „Ihr hofft?" Leodric klang wütend.


    „Sicherheit gibt es nicht", erwiderte Shainara ruhig.


    „Euer Verdacht war begründet genug, dass ihr euch zum Handeln veranlasst saht – aber ihr habt es trotzdem nicht für nötig erachtet, mich zu informieren?"
    Alarmiert sah ich auf. Artairs Stimme war nach wie vor beherrscht, aber ich konnte den Zorn spüren, der darunter lag.


    „Wir hielten es für ein zu großes Risiko", sagte Shainara.
    „Wenn Du Dein Wissen mit Neiyra geteilt hättest – absichtlich oder nicht – hätte Runcal erfahren können, dass wir auf der Hut sind."


    „Ein Risiko? Ein Risiko?", knurrte Artair, und dann explodierte er.
    „Verdammt, Shainara!" schrie er und schlug heftig mit der Faust auf den Tisch.


    Er warf die Arme in die Luft, atmete tief ein und ging ein paarmal auf und ab, um sich zu beruhigen.


    Dann wandte er sich wieder Shainara zu.


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    „Ich bin nicht mehr acht, Shainara", sagte er gefährlich leise.
    „Ich hätte sehr wohl die Brisanz dieser Information richtig einzuschätzen gewusst, und wie ich damit umzugehen hätte.
    Es hat einen Grund – einen guten Grund – warum in Krisensituationen ein Rat gebildet wird, der aus den weltlichen und den geistlichen Führern besteht.
    Beide Seiten legen zu oft eine gewisse Arroganz an den Tag, die sie blind macht für alles, was über ihre eigenen Kompetenzen hinausgeht."


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    „Ihr meint zwar, ihr hättet an alles gedacht, aber was ihr – Du und Mártainn – überseht, ist dass Runcal nicht nur ein Druide ist.
    Er ist auch ein Kriegsherr, ein Heerführer. Und deshalb denkt er auch nicht nur wie ein Druide.
    Es war Runcal, der den Kraftstern ins Spiel gebracht hat, für den wir so viele Druiden und Priesterinnen benötigen, wie wir kriegen können."


    Shainara war blass geworden.


    Artair beugte sich vor, seine Stimme klang drohend.


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    „In diesem Moment zieht der größte Teil der Druiden und Priesterinnen zum Ritualplatz in den Süden, nur begleitet von einer Handvoll Wachen.
    Zwei gezielte Angriffe reichen, um uns fast aller geistiger Führung zu berauben. Runcal braucht überhaupt nicht auf das Ritual zu warten, um den Königreichen einen vernichtenden Schlag zu versetzen."




    Personenverzeichnis ~ Stammbaum ~ Karte



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    „Götter!" Haltsuchend griff Shainara nach meinem Arm, dann sank sie auf einem Stuhl zusammen und schlug die Hände vors Gesicht.


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    „Was haben wir getan?", flüsterte sie erschüttert.


    „Die Frage ist, was wir noch tun können, um möglicherweise das Schlimmste abzuwenden." Leodric klang ruhig, aber entschlossen.

    „Uns stehen nicht mehr so viele Kräfte zur Verfügung, wie mir lieb wäre." Artair rieb sich über die Stirn.


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    „Ein Teil ist noch im Heerlager, und eigentlich waren alle Männer, die uns begleitet haben, dazu gedacht, deine Truppen zu verstärken.
    Der einzige Lichtblick ist, dass die Lage nicht ganz so schlimm ist, wie sie auf den ersten Blick aussieht."


    Shainaras Kopf fuhr hoch. „Was meinst Du damit?", fragte sie.


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    „Ich hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl dabei, so viele Druiden und Priesterinnen durch ein Gebiet ziehen zu lassen, dass jederzeit von Kämpfen überzogen werden könnte.
    Die Wachen am Eas Bán sind in Bereitschaft. Sie sollten die Stellung am Wasserfall mittlerweile verlassen haben, um sich mit den Druiden am Heiligen Hain zu treffen und sie zum Ritualplatz zu begleiten.
    Außerdem gibt es auch einige kampferprobte Männer unter den Druiden. Um Mártainn und die Seinen mache ich mir weniger Sorgen.
    Was die Priesterinnen angeht…" Er schüttelte den Kopf.


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    „Ich habe Braghan mit einem Trupp Männer nach Caer Galadon geschickt, als wir das Heerlager erreicht hatten. Er hat Order, die Priesterinnen hierher, nach Caer Umran, zu führen.
    Es ist zwar ein Umweg, aber es erschien mir sicherer angesichts der Lage. Wenn sie hier ankommen, können wir ihnen für den Rest des Weges weitere Männer zur Verstärkung mitgeben.
    Ich hoffe nur, dass deine Priesterinnen sich nicht weigern werden, ihm zu folgen."


    „Das hoffe ich auch", sagte Shainara leise. „Aber Neleia und Elaria sind vernünftig, sie werden sich der Änderung der Pläne sicher nicht verschließen, wenn Braghan ihnen die Lage erklärt."


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    Neleia? Ich runzelte die Stirn. Ich hatte eine Schwester, die Neleia hieß.


    „Vielleicht sollten wir ihnen eine Eskorte entgegenschicken?", schlug Alec vor, aber Artair schüttelte bedauernd den Kopf.
    „Das hat wenig Sinn", sagte er, „ich habe Braghan angewiesen, die Route den Erfordernissen anzupassen.
    Er hat einen untrüglichen Sinn für Gefahr, er soll die Wege nehmen, die ihm an sichersten erscheinen. Wir können nur hier warten und das Beste hoffen."


    „Was ist mit Caer Galadon selbst?", warf Brayan ein und runzelte die Stirn.


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    „Dort werden nur noch eine Handvoll Priesterinnen sein, hauptsächlich Alte, Kranke und Kinder. Vielleicht ruht Runcals Augenmerk auf dem Heiligtum selbst."


    „Nein." Shainara schüttelte den Kopf. „Runcal kann Caer Galadon und den Heiligen Hain nicht betreten."


    Sie stand auf, trat zu Artair und sah zu ihm auf. „Ich stehe in deiner Schuld", sagte sie ernst. „Wir alle tun das."


    „Du und Mártainn, ihr habt mich mein Leben lang beschützt", sagte Artair sanft und berührte Shainara kurz mit einer versöhnlichen Geste an der Schulter.


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    „Die Lage ist nicht ideal, aber ich hoffe, dass diese Maßnahmen trotzdem Runcals Pläne durchkreuzen, sofern er einen Angriff geplant haben sollte.
    Er wird mit etwas Glück nicht vermutet haben, dass wir schon vor Antritt der Reise misstrauisch waren; die bessere Bewachung wird ihn überraschen."



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    „Wird sie das?" Leodric klang skeptisch, und er streifte mich mit einem Blick. „Was, wenn er Bescheid weiß?"


    „Dann hat er es nicht von Neiyra", sagte Artair scharf. „Neiyra wusste nichts davon."


    Nein, ich hatte es nicht gewusst. Er hatte es vor mir verheimlicht; selbst als ich ihn im Heerlager gefragt hatte, wohin er Braghan schickte, mitten hinein in diese undurchdringliche Finsternis.
    Er hatte mir nicht getraut. Zu Recht, wie sich nun zeigte.


    „Das ist gut", erwiderte Leodric. „Was mich zu der Frage führt – warum hat sie ihm vertraut?"


    Alle Augen richteten sich auf mich.


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    Ich starrte auf die Erde; ich hatte keine Antwort auf diese Frage. Ich hatte mich immer darauf verlassen können, dass dieser Sinn für Gefahren, der mich nie verließ, anschlug; aber diesmal hatte er versagt.
    Ich war nicht auf der Hut gewesen, ich hatte diesem Mann vertrauen wollen, unbedingt - weil ich jemanden gebraucht hatte.
    Ich hatte es ihm wirklich leicht gemacht, und er hatte immer das Richtige gesagt und getan. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass er mich wirklich kannte.


    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, ohne mein Innerstes nach außen zu kehren, deshalb sagte ich das erste, was mir in den Sinn kam.

    „Es war… wegen der Blumen", flüsterte ich.

    „Blumen? Welche Blumen?", fragte Leodric verwirrt.


    „Er hat für mich eine Blumenwiese geschaffen. Er wusste, dass ich Blumen mag."


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    Leodric schnaubte verächtlich, und Artair sah mich überrascht an. „Du magst Blumen?"


    „Wie auch immer", sagte Leodric, „was geschehen ist, ist geschehen. Wir sollten jetzt überlegen, ob wir einen Vorteil daraus ziehen können.
    Es scheint ja eine gewisse Verbindung zwischen Euch und ihm zu geben, das könnte uns von Nutzen sein."


    „Was?" Ich blinzelte verwirrt.


    „Wenn Ihr Euch weiter mit ihm trefft, könnten wir ihn mit falschen Informationen in die Irre führen."


    Artair trat einen Schritt vor mich, und Brayan legte seinen Arm um mich.


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    „Nein", sagten beide wie aus einem Mund.


    „Nein", stammelte ich entsetzt. „Nein, das kann ich nicht. Ich kann mich nicht so verstellen."


    „Es ist auch nicht nötig." Artairs Stimme war unbeugsam.
    „Die Katze ist längst aus dem Sack. Runcal wusste offenbar, dass wir auf dem Weg hierher sind" – ich zuckte schuldbewusst zusammen –
    „ihm dürfte klar sein, dass sein Versteckspiel ein Ende hat, sobald wir seinem Kerker einen Besuch abgestattet haben.
    Mittlerweile dürfte sich die Nachricht von seiner Flucht längst in Caer Umran verbreitet haben, und bald wird sie auch die umliegenden Dörfer erreichen.
    Es ist unmöglich, das zu verheimlichen. Er ist gewarnt, er weiß, dass seine Tarnung dahin ist, und er wird handeln. Deshalb müssen wir jetzt schneller sein."


    Ich schloss die Augen, dankbar, weil Artair nicht von mir verlangen würde, mich mit Ihm zu treffen.


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    Ich hätte es ihm nicht abschlagen können – wie könnte ich? – deshalb war alles, was ich fühlte, Erleichterung darüber, dass ich es nicht würde tun müssen.


    „Es gibt noch ein Problem", warf Shainara ein, und ich war froh, dass sich die Aufmerksamkeit aller wieder auf sie richtete.


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    „Diese Magie, die Seelen der Kinder zu halten – sie erfordert außerordentlich viel Kraft und Konzentration. Genauso wie die Zeitmagie, der wir vor dem Heerlager begegnet sind.
    Ich bin mir nicht sicher, ob man beides zugleich stabil halten kann."
    Sie zögerte einen Moment. „Es könnte sein, dass die Kinder bereits tot sind."


    Bedrücktes Schweigen herrschte im Raum.


    „Dann müssen wir sicher gehen", ergriff Artair schließlich das Wort.
    „Wir müssen mit Mártainn und den Cul´Dawr Kontakt aufnehmen. Mártainn muss ohnehin erfahren, was hier geschehen ist. Kannst Du ihn erreichen?", fragte er, an Shainara gewandt.


    „Ich denke schon", antwortete sie. „Entweder über das Wasser, oder über das Feuer."


    „Gut. Möglicherweise haben sie den Ritualplatz schon erreicht, und wissen, ob die Kinder noch am Leben sind."


    Er dachte einen Moment nach.
    „Solange wir nichts Gegenteiliges wissen, gehen wir davon aus, dass das Ritual stattfinden wird. Aber egal was geschieht, ich muss nach Süden und die Festungen alarmieren.
    Der Süden ist nahezu entblößt. Caer Mornas ist sicher, die Tore sind geschlossen, aber die Dörfer sind es nicht."
    Sorgenvoll runzelte er die Stirn, dann wandte er sich an Brayan.


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    „Wir brechen in zwei Stunden auf. Nur die schnellsten Reiter.
    Der Rest der Männer bleibt hier und verstärkt Leodrics Truppen, ein Teil soll Shainara und die Priesterinnen zum Ritualplatz begleiten, wenn die Kinder noch am Leben sind."


    „Was?", fuhr Shainara auf. „Ich komme mit!"


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    Ernst sah Artair sie an.
    „Ich hätte eine Sorge weniger, wenn ich zumindest die Hohepriesterin der Königreiche sicher hinter den Mauern von Caer Umran wüsste.
    Warte auf Braghan und seine Männer, und zieh unter ihrem Schutz mit deinen Priesterinnen gen Süden. Bitte."


    Lange sah Shainara ihm in die Augen, dann nickte sie.


    Erleichtert wandte sich Artair an Leodric. „Lass uns sehen, welche meiner Männer Shainara und die Priesterinnen begleiten sollen und welche ich dir hier lassen kann.
    Es sind nicht mehr so viele, wie ich gerne wollte; aber das lässt sich wohl nicht ändern."


    Dann drehte er sich um. „Brayan, Neiyra, ich überlasse es euch, die Reiter auszuwählen, die uns begleiten sollen. Nur ein kleiner Trupp."


    Dankbar sah ich ihn an, gab er mir doch eine Möglichkeit, von hier zu verschwinden.
    Rasch folgte ich Brayan, der schon an der Tür war.


    Draußen in der Halle schloss er mich in die Arme und küsste mich auf die Stirn.
    „Mach Dir nichts draus, Prinzesschen", sagte er.


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    Ich grinste schwach.
    Ich fühlte mich zu zerschlagen, um gegen das verhasste Kosewort zu protestieren, und wir machten uns auf den Weg.


    „Wartet", rief plötzlich eine Stimme hinter uns, „Herrin, wartet bitte."




    Personenverzeichnis ~ Stammbaum ~ Karte



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    Brayan und ich blieben stehen und wandten uns um.


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    Megan schloss rasch die Tür und eilte uns entgegen.




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    „Verzeiht, dass ich Euch jetzt störe, Ihr habt im Moment bestimmt andere Sorgen, aber Ihr werdet gleich abreisen, und…"
    Sie verstummte, warf einen Blick auf Brayan und schlug unsicher die Augen nieder.


    Ich nahm Brayan zur Seite.
    „Ich glaube, sie will mit mir alleine sprechen. Geh schon mal, ich komme später nach", sagte ich zu ihm.


    Ich wandte mich wieder Megan zu, aber sie zupfte nur unentschlossen an ihrem Kleid.


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    „Ihr wolltet mich etwas fragen?" Ich zwinkerte ihr aufmunternd zu.


    „Ihr versteht Euch auf die Kunst des Heilens, Herrin. Ihr habt Lyall geholfen."


    Ich verstand. „Ihr macht Euch Sorgen wegen des Kindes?"


    „Ja… nein…" Sie verstummte wieder.


    So kamen wir nicht weiter.
    „Wollen wir uns nicht lieber erst mal an einen etwas privateren Ort zurückziehen?", schlug ich vor.


    Sie nickte erleichtert und führte mich eine Treppe hinauf, in ihre und Alecs Schlafkammer.


    „Nun, also", ergriff ich das Wort, nachdem Megan die Tür hinter uns geschlossen hatte.
    „Wie weit seid ihr?"


    „Es sind noch gut zwei Monde bis zur Geburt", sagte Megan, jetzt schon ruhiger.


    „Und habt Ihr Grund zur Besorgnis?", hakte ich nach.
    „Bewegt sich das Kind nicht? Habt Ihr Schmerzen?"


    „Nein, nichts dergleichen“, erwiderte Megan.
    „Mir geht es gut, und er ist sehr lebhaft."


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    Sie strich sanft über ihren Leib. „Es ist nur… ich befürchte, es könnte so sein wie bei Morwen."


    „Was war bei Morwen?", hakte ich nach.


    „Sie lag falsch herum. Die Geburt dauerte sehr lange, und ich habe sehr viel Blut verloren. Ich wäre beinahe gestorben."


    „Und jetzt habt Ihr Angst vor der Geburt", schlussfolgerte ich. Ich war überrascht, als Megan heftig den Kopf schüttelte.


    „Nein, ich fürchte mich nicht", sagte sie. „Aber Alec ist vor Angst beinahe außer sich."


    „Alec?", fragte ich verblüfft.



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    „Er hat sich die Schuld gegeben", sagte Megan leise.
    „Er dachte, er sei verantwortlich, dass ich beinahe gestorben wäre. Er sagte, er würde dafür Sorge tragen, dass dies nicht noch einmal passieren könne.
    Er hat sich nach Morwens Geburt von mir fern gehalten."
    Sie errötete sanft.

    „Nun", sagte ich trocken, „ganz offensichtlich hat er sich anders besonnen."


    „Nein, hat er nicht." Megan wurde noch röter.
    „Ich habe immer wieder auf ihn eingeredet. Dass es nicht wieder so kommen muss. Dass auch er sein Leben jeden Tag aufs Spiel setzt, wenn er in den Kampf zieht, und sich trotzdem nicht davor versteckt.
    Und dass das eben das Risiko ist, dass ich zu tragen habe. Aber es hat nichts genützt.
    Und dann habe ich… ich habe…"


    Mittlerweile hatte Megans Gesicht eine tiefrote Farbe angenommen.


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    „Ihr habt ihn verführt."
    Ich schmunzelte. Wer hätte das gedacht.


    Sie nickte heftig.


    „Das habt ihr gut gemacht", sagte ich, „ich hätte das Gleiche getan."


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    Megan sah überrascht auf. „Wirklich?", fragte sie ungläubig.


    „Wirklich", bekräftigte ich.


    „Und jetzt…", fuhr sie zögernd fort, „ich glaube, er liegt auch verkehrt. Und wenn es wieder so wird wie bei Morwen, weiß ich nicht, was Alec tun wird."


    „Darf ich?", fragte ich, und als Megan nickte, untersuchte ich sie rasch.


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    „Nun", sagte ich dann. „Im Moment liegt er tatsächlich falsch herum."


    Megan seufzte. „Das habe ich mir gedacht."


    Ich setzte mich neben sie und nahm ihre Hand.


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    „Megan, das muss noch nichts zu sagen haben. Ihr habt noch Zeit, das Kind ist noch nicht zu groß, und es hat noch ausreichend Platz.
    Er kann sich noch drehen."


    Niedergeschlagen sah sie in ihren Schoß.


    „Und wir können auch etwas tun", fuhr ich fort, und hoffnungsvoll sah sie auf.


    „Wir können etwas tun?" wiederholte sie, und ich nickte.



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    „Wir werden ihn ein wenig ärgern", lächelte ich, und auch auf Megans Gesicht zeigte sich ein schwaches Lächeln.
    „Es gibt ein paar Dinge, die wir tun können, um ihn zu überreden, sich doch noch zu drehen."


    „Aber Ihr werdet gleich abreisen", sagte Megan zweifelnd. „Geht das so rasch?"


    „Nein." Ich schüttelte den Kopf. „Aber ich werde vor meiner Abreise mit Shainara reden. Sie wird euch helfen."



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    „Die Hohepriesterin?" Erschrocken riss Megan die Augen auf.


    „Sie ist auch Heilerin, nicht nur Hohepriesterin", sagte ich beruhigend. „Sie wird euch gerne helfen."


    Es kostete mich noch geraume Zeit, bis ich Megan davon überzeugt hatte, dass sie keine Scheu davor haben musste, die Hilfe der Hohepriesterin anzunehmen; aber endlich stimmte sie zu, und ich machte mich auf den Weg zu Brayan.



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    Weit sollte ich allerdings nicht kommen, ich hatte kaum den Hof erreicht und atmete tief die kalte Nachtluft ein, als sich die Tür erneut öffnete und Shainara zu mir trat.


    „Gut, dass ich dich treffe", ergriff ich sofort die Initiative, um ihr keine Gelegenheit zu bieten, über Runcal zu sprechen.


    Ich berichtete ihr von Megan und ihren Sorgen, und Shainara nickte.
    „Selbstverständlich kümmere ich mich um sie, solange ich hier bin."


    „Danke", sagte ich und wollte mich abwenden, aber Shainara ergriff sanft meinen Arm.
    „Warte, Neiyra", sagte sie. Ich seufzte und fügte mich in das Unabänderliche.


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    „Weißt Du, wie Du Runcal daran hindern kannst, deine Träume zu betreten?"


    Überrascht sah ich sie an. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
    Ich rang mit meinem Wunsch, keine Handbreit Boden aufzugeben und der Erkenntnis, dass ich Hilfe benötigte.


    „Nein", gab ich schließlich zu. „Ich habe eine Vermutung, aber ich bin nicht sicher."


    Aufmerksam sah Shainara mich an.
    „Ich weiß nicht, wieviel dir von deinem Unterricht in Caer Galadon in Erinnerung geblieben ist. Du schienst immer sehr darauf bedacht, möglichst nicht zuzuhören."


    Ich antwortete nicht, denn dazu gab es nichts zu sagen. Schließlich hatte sie Recht.


    „Erinnerst Du Dich an die Lektion mit dem Kästchen? Dem Schloss und dem Schlüssel?"


    Ich nickte langsam. An diese Lektion erinnerte ich mich in der Tat.
    Es war die einzige, die ich angenommen hatte, und die im Laufe der Jahre zu einem festen, unverzichtbaren Bestandteil meines Lebens geworden war.
    Ich war eine Meisterin darin.


    „Es ist dasselbe Prinzip", sagte Shainara.



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    Ausdruckslos sah ich sie an, dann nickte ich erneut.


    „Neiyra…", sagte sie zögernd. Sie musterte mein Gesicht, dann seufzte sie.
    „Ich hoffe, du weißt, dass dich keine Schuld trifft."


    Sie senkte den Kopf, und als sie weiter sprach, war ihre Stimme nur ein Hauch.
    „Ich habe niemanden kennen gelernt, der sich Runcals Charme entziehen konnte, wenn er es darauf angelegt hat. Er ist…."


    Sie schien nach Worten zu suchen.
    „Zauberhaft", flüsterte sie dann.


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    Erschreckt sah ich sie an. Glänzten da etwa Tränen in ihren Augen?


    Ich war mehr als erleichtert, als sich in diesem Moment eine Gestalt aus dem Dunkel löste und Artair zu uns trat.


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    Shainara straffte sich und wandte sich zu ihm um.


    „Ich habe Mártainn gesehen", sagte sie unumwunden.


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    „Sie haben den Ritualplatz noch nicht erreicht, aber er glaubt, dass die Kinder noch am Leben sind.
    Er hatte erst kürzlich Kontakt zu den Cul´Dawr, die alles für unsere Ankunft vorbereiten."


    „Das ist gut." Artair klang erleichtert.


    „Wir hatten nicht viel Zeit", fuhr Shainara fort, „aber ich habe ihm mitgeteilt, was hier geschehen ist. Er sollte also gewarnt sein."


    Sie sah zwischen Artair und mir hin und her.
    „Ich werde euch jetzt mal euch selbst überlassen", sagte sie und ging davon.
    Verblüfft sah ich ihr nach.


    Artair ließ sich schwer auf die kalten Stufen fallen. „Setz dich zu mir, Neiyra", sagte er.


    Ich seufzte innerlich, sträubte mich aber nicht und setzte mich neben ihn.
    Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander, dann drehte sich Artair zu mir und legte mir sanft etwas in den Schoß.


    Ich tastete danach, und als ich erkannte, was es war, erstarrte ich.
    Es war eine Rose, eine wunderbare, makellose, duftende Rose. Ich strich über die zarten Blütenblätter und schluckte.


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    Trotz all dem, was vorhin in Leodrics Kammer besprochen worden war, trotz all dem, was zu tun war und was jetzt vor uns lag, erinnerte sich Artair daran, dass er dort erfahren hatte, dass ich Blumen liebte.


    „Nun sag es schon", flüsterte ich schließlich. „Sag ‚Ich habe es dir doch gesagt‘. Du hattest Recht, dass ihm nicht zu trauen war."


    Artair schwieg eine Weile.
    „Ich erinnere mich noch sehr gut an Runcal", sagte er dann, und überrascht sah ich auf.


    „Bevor er meine Eltern ermordete, war er oft mit Mártainn in Caer Mornas. Er war unser Gast, meine Eltern haben ihn gemocht. Sie führten stundenlange Gespräche mit ihm, und Brayan und ich…"
    Er fuhr sich über die Stirn.


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    „Brayan und ich, wir haben ihn geliebt. Er hatte immer Zeit für uns, er zeigte uns die interessantesten Dinge, und, das war das Wichtigste, er hat uns niemals wie Kinder behandelt.
    Als wir erfahren haben, dass er es war…"


    Er brach ab; dann griff er nach meiner Hand. Sanft strich er mit seinem Daumen über meine Fingerkuppen.


    „Es war nur ein Gefühl", sagte er dann.
    „Dass möglicherweise etwas mit diesem Kerl in deinen Träumen nicht stimmen könnte. Und dass es besser wäre, vorsichtig zu sein, bis seine Identität geklärt wäre."



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    „Du hast mir nicht getraut", sagte ich ruhig.


    Es war kein Vorwurf, und Artair verstand es auch nicht so. Was mich am meisten erschreckte, war, was hätte geschehen können, wenn Artair mir vertraut hätte.


    „Ich habe ihm nicht getraut", erwiderte Artair. „Es fiel mir schwer, meine Pläne vor dir zu verheimlichen."
    Er schüttelte den Kopf.
    „Ich bin so wütend, Neiyra", sagte er, und ich konnte den Zorn in seiner Stimme hören. „Er hat dich verletzt."



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    Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter, und erneut schwiegen wir eine ganze Weile.


    „Du bist ja ganz schön hart mit Shainara umgesprungen", sagte ich dann und grinste.


    Artair grinste zurück, dann wurde er ernst.
    „Es war nicht richtig, dass sie mir nichts von ihrem Verdacht gesagt haben."


    Sie hatten auch mich nicht gewarnt. Und zugelassen, dass ich mich Ihm anvertraute. Dass ich verletzt wurde, weil es in ihre Pläne gepasst hatte.


    „Sie haben mich in gewisser Weise großgezogen", fuhr Artair fort, „ besonders Mártainn – und sie behandeln mich manchmal immer noch wie ein Kind.
    Das macht mich wahnsinnig, besonders, weil ich es letztlich bin, der die Verantwortung für das Wohl der Menschen trägt.
    Und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll. Vermutlich bin ich deshalb so aus der Haut gefahren."


    „Es war gemein, dass Du Shainara zuerst in dem Glauben gelassen hast, dass ihre Priesterinnen ungeschützt durch die Wälder irren."


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    Artair stieß mir den Ellbogen in die Seite und grinste wieder.


    „Ich weiß", sagte er, aber er klang kein bisschen reumütig.
    „Ich konnte nicht widerstehen. Ich dachte, der Schreck wäre vielleicht heilsam, und sie würde möglicherweise darüber nachdenken, ob sie mir in Zukunft mehr Vertrauen entgegenbringt."


    „Zum Glück warst Du klüger als wir alle zusammen", sagte ich versöhnlich.


    Artair zuckte zusammen, dann schwieg er wieder eine lange Zeit. Schließlich schüttelte er den Kopf.


    „Nein", sagte er rau. „Wenn ich ehrlich bin, war ich kein Stück klüger. Wir hatten nur verdammtes Glück."


    Erstaunt sah ich ihn an.



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    „Ich war eifersüchtig, Neiyra", sagte Artair leise. „Ich war eifersüchtig auf diesen Kerl, und auf das, was euch verbunden hat.
    Ich wollte ihm nicht trauen. Und ich wollte nicht vor mir selbst zugeben, dass ich eifersüchtig war, und deshalb blieb mir gar nichts anderes übrig, als auch so zu handeln, als hätte ich einen echten Grund, ihm zu misstrauen."


    Sprachlos sah ich ihn an, und dann legte ich meinen Kopf wieder auf seine Schulter.




    Eine knappe Stunde später saßen wir im Sattel. Nur eine Handvoll Männer mit den schnellsten Pferden begleitete uns; auch Braigh hatte in Caer Umran zurück bleiben müssen.
    Wir ritten hart und legten bis kurz vor Anbruch der Morgendämmerung ein gutes Stück Weges zurück, ehe wir Rast machten, um ein wenig zu schlafen.


    In meine Decke gewickelt lag ich dicht beim Feuer und wehrte mich lange gegen das Einschlafen.
    Aber als ich schließlich doch in den Schlaf glitt, konnte ich Runcals Präsenz sofort spüren.


    Es war ein zähes Ringen, aber ich ließ ihn nicht zu mir durch.


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    Personenverzeichnis ~ Stammbaum ~ Karte



  • Uahhhh, wie genial, hier so viele Fortsetzungen auf einen Schlag zu entdecken!! :applaus


    Ich bin immer noch skeptisch bezüglich Runcal. Ja, ok, er ist ein Charmebolzen, sagen alle, und das erklärt vieles. Eine Hohepriesterin mit gebrochenem Herzen (würde ich mal sagen) und sogar Artair sagt, dass der nette Onkel Runcal immer der beste Freund war, bis er dann seine wahre Seite zeigte.
    Aber irgendwie könnte ich mir vorstellen, dass Du es uns so einfach nicht machst, und da auch noch irgend etwas dahinter steckt. Vielleicht glaube ich aber auch nur zu sehr an das Gute im (fiktiven) Menschen.


    Genial fand ich, wie Artair Shainara hat schmoren lassen :D Aber er hat ja recht, das geht so nicht, dass sie und die anderen spirituellen "Leitwölfe" sich da ihr eigenes Süppchen kochen. Denn natürlich könnte das, was Artair sagt, der ganze Hintergedanke gewesen sein.
    Schön fand ich zu sehen, wie Brayan und Artair Neiyra dann verteidigt haben. Sehr berührend, auch die Szene mit der Blumenwiese und den Rosen.


    Was ich auch interessant zu hören fand: wieso war Artair eifersüchtig? Aber ich fürchte, das hat nix mit Lieben in der Form zu tun, die wir uns alle wünschen, sondern einfach mit der Seelennähe, die beide zueinander haben und die er vermisst hatte.


    Interessant ist auch die Frage, was es mit dem Baby auf sich hat. Ich frage mich, ob Du diesen Strang nur eingeflochten hast, um ein bißchen aufzulockern, oder ob noch mehr dahinter stecken wird.


    So, und nun möchte ich natürlich wissen, was der entlarvte Onkel Runcal so in den nächsten Traum von Neiyra einschleusen möchte.

  • Uahhhh, wie genial, hier so viele Fortsetzungen auf einen Schlag zu entdecken!! :applaus


    Ich hab selbst keine Ahnng, was gerade los ist. :D


    Ich bin immer noch skeptisch bezüglich Runcal. Ja, ok, er ist ein Charmebolzen, sagen alle, und das erklärt vieles. Eine Hohepriesterin mit gebrochenem Herzen (würde ich mal sagen) und sogar Artair sagt, dass der nette Onkel Runcal immer der beste Freund war, bis er dann seine wahre Seite zeigte.
    Aber irgendwie könnte ich mir vorstellen, dass Du es uns so einfach nicht machst, und da auch noch irgend etwas dahinter steckt. Vielleicht glaube ich aber auch nur zu sehr an das Gute im (fiktiven) Menschen.


    Na ja, ich glaube auch nicht, dass ich das ganz platte Schwarz/Weiss bedienen werde. ;) Mal sehen, was da so im Laufe der Zeit raus kommt.


    Genial fand ich, wie Artair Shainara hat schmoren lassen :D Aber er hat ja recht, das geht so nicht, dass sie und die anderen spirituellen "Leitwölfe" sich da ihr eigenes Süppchen kochen. Denn natürlich könnte das, was Artair sagt, der ganze Hintergedanke gewesen sein.


    Ja, die Szene mochte ich auch. Da war Artair mal nicht so brav wie sonst. :D



    Schön fand ich zu sehen, wie Brayan und Artair Neiyra dann verteidigt haben. Sehr berührend, auch die Szene mit der Blumenwiese und den Rosen.


    Ich finde, das war auch mal wieder Zeit, dass Artair mal wieder nett zu Neiyra war. ;)



    Was ich auch interessant zu hören fand: wieso war Artair eifersüchtig? Aber ich fürchte, das hat nix mit Lieben in der Form zu tun, die wir uns alle wünschen, sondern einfach mit der Seelennähe, die beide zueinander haben und die er vermisst hatte.


    Das ist natürlich sehr gut möglich. ;)



    Interessant ist auch die Frage, was es mit dem Baby auf sich hat. Ich frage mich, ob Du diesen Strang nur eingeflochten hast, um ein bißchen aufzulockern, oder ob noch mehr dahinter stecken wird.


    Ahhh! Interessant. :D Du bist die erste, die meine Intention zu dieser Szene hinterfragt hat. ;)



    So, und nun möchte ich natürlich wissen, was der entlarvte Onkel Runcal so in den nächsten Traum von Neiyra einschleusen möchte.


    Sie lässt ihn ja nicht mehr rein. ;)


    Sei lieb gegrüßt!

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    Die nächsten Tage arbeiteten wir uns unermüdlich nach Süden vor.


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    Ab und an wichen wir von unserer Route ab, um nahe gelegene Dörfer, Festungen oder Wachtürme zu warnen, und Artair erteilte die Order, die Nachricht weiterzuverbreiten; wir hielten uns aber nie lange auf und schlugen rasch wieder die alte Richtung ein.


    Je weiter wir kamen, desto mehr schien die Finsternis um uns herum zuzunehmen, so dass wir manchmal nicht mehr zu wissen schienen, ob es morgens oder abends, tags oder nachts war.
    Ich verlor jedes Zeitgefühl, ich hätte nicht sagen können, wie lange wir bereits unterwegs waren; aber als am Horizont die Ausläufer eines großen Waldgebietes auftauchten, wusste ich, dass Caer Mornas nur noch zwei Tagesritte entfernt lag.


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    Je mehr wir uns dem Wald näherten, umso unbehaglicher wurde uns zumute. Er war in dichte Schatten gehüllt, die sich zu bewegen und ständig neu zu formieren schienen.
    Eine unnatürliche Stille lag darüber, und nicht der leiseste Windhauch bewegte die Blätter.
    Als wir den Saum erreicht hatten, blieben wir stehen.


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    „Es hilft nichts, wir müssen da durch", sagte Brayan langsam, und Artair nickte.


    „Wir können nicht außen herum, er ist zu ausgedehnt", stimmte er zu.
    „Und wir haben auch nicht die Zeit dazu. Wir sollten also zusehen, dass wir ihn möglichst rasch durchqueren."



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    Schweigend tauchten wir in den Schatten des Waldes ein, und es schien uns, als ob sich ein dunkles Gewicht auf unser Gemüt legte, das schwerer und schwerer wurde, je weiter wir in den Wald vordrangen.


    Artair schien unbeirrt sein Ziel zu verfolgen, und nach einer Ewigkeit, so kam es mir vor, erreichten wir endlich eine kleine Lichtung, und Artair gab den Befehl, hier Halt zu machen.


    Erleichtert sattelten wir die Pferde ab, tränkten und fütterten sie und brachten sie in der Nähe der Lichtung unter, wo sie sich an einigen Schösslingen gütlich tun konnten, und dann versammelten wir uns um die Lagerfeuer, die das Dunkel und die Schatten wenigstens ein wenig erhellten.


    Missmutig starrte ich auf meinen Becher mit Most. Der schale Geschmack verbesserte meine Laune nicht gerade.


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    Seit wir Caer Umran verlassen hatten, war sie stetig schlechter geworden, und ich wusste auch, woran das lag; auch, wenn ich es nicht mal vor mir selbst zugeben wollte.
    Ich vermisste Ihn.


    „Ich würde all mein Gold geben für ein ordentliches Essen!", seufzte Brayan und warf einen angewiderten Blick in seine Satteltasche.
    „Na ja, wenn ich welches hätte. Vielleicht mein gutes Aussehen?" flachste er.


    „Götter, Du bist so eine Memme", fuhr ich ihn an.


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    „Ganz ruhig, Prinzesschen", grinste Brayan.


    „Du sollst mich nicht so nennen!" fauchte ich.


    „Wieso nicht?" Brayan biss seelenruhig in einen Apfel. „Immerhin ist Deine Mutter Königin, und Du bist eine echte Prinzessin.
    Überhaupt bin ich der einzige hier, der niemals auch nur in die Nähe einer Krone kommen wird."
    Er setzte einen mitleidheischenden Blick auf.


    „Ich auch nicht", entgegnete ich schnippisch.


    „Wieso nicht?"
    Brayan hob erstaunt seine rechte Augenbraue.


    „Weil ich ungefähr die einhundertdreiundzwanzigste in der Thronfolge bin."


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    „Die dritte, genaugenommen", erwiderte Artair ruhig.


    „Die dritte oder hundertdritte, was macht das für einen Unterschied?
    Ich habe vier schöne, begabte, gebildete ältere Schwestern, von denen zwei vor mir dran sind, so dass dieser Kelch zum Glück an mir vorübergehen wird."


    Ich hatte sogar fünf ältere Schwestern gehabt. Bevor Runcal einer von ihnen das Leben genommen hatte.


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    Runcal. Der Mann, der sich in mein Leben und meine Träume geschlichen hatte.
    Und den ich trotz allem schmerzhaft vermisste.


    Artair musterte mich ernst.
    „Würdest Du Dich dieser Pflicht entziehen wollen?"


    Ich schlug beschämt die Augen nieder.
    Artair war seit seinem siebten Lebensjahr König des südlichen Reiches. Er hatte seine Pflicht niemals anders als ehrenvoll und klaglos erfüllt.
    Wenn Brayan und ich mit den anderen Kindern längst im Freien spielten, hielt Mártainn stets noch zusätzliche Lektionen für Artair bereit.


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    Oft kehrte er erst spät in der Nacht in die Schlafkammer zurück, manchmal übersät mit blauen Flecken von harten Kampfübungen, immer todmüde, aber mit zusammengepresstem Kiefer und ohne ein Wort der Klage.
    Niemals hörte ich ihn aufbegehren gegen das, was Mártainn ihm zumutete.
    Er schien bereits als Kind zu wissen, dass an ihn höhere Maßstäbe angelegt wurden und tat immer sein Bestes, um Mártainn zufrieden zu stellen.
    Was ihm natürlich nie gelang.


    „Nein, natürlich nicht" antwortete ich leise.


    Im gleichen Moment spürte ich es. Irgendetwas war da draußen; etwas, das uns belauerte.


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    Ich warf einen Blick zu Artair, und er nickte mir unmerklich zu - auch er hatte es gespürt; und an der gespannten Aufmerksamkeit, die unter Brayans achtloser Lässigkeit lag, konnte ich erkennen, dass auch er es bemerkt hatte.


    Artair gab den Männern unauffällig ein Zeichen, und in kürzester Zeit war das ganze Lager wachsam, obwohl ein unbeteiligter Beobachter keinerlei Veränderung hätte feststellen können.


    Brayan gähnte und streckte sich, dann stand er langsam auf.
    „Ich werde wohl mal sehen, wo ich meine Decken gelassen habe", sagte er, und lockerte unauffällig sein Schwert.


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    „Ich komme mit Dir", erwiderte ich und tat es ihm gleich, und aus den Augenwinkeln sah ich, dass auch Artair aufstand.



    Und in diesem Augenblick brachen alle Dämonen gleichzeitig über uns herein.


    Sie kamen von zwei Seiten aus dem Wald, sprangen auf die Lichtung und begannen sofort, unbarmherzig auf unsere Männer einzuschlagen.
    Es waren große, dunkel gekleidete Männer mit herben Gesichtszügen, und sie schrien etwas in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte.


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    Allerdings hatten sie offenbar nicht damit gerechnet, dass wir gewarnt waren und ihnen sofort erbitterten Widerstand entgegensetzten, und es dauerte nicht lange, bis die ersten ins Wanken gerieten.


    „Die Pferde!", rief Brayan mir zu, und ich nickte. Mit einem Blick vergewisserte er sich, dass Artair und ich zurechtkamen, ehe er im Wald verschwand.


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    Unsere Männer kämpften verbissen und konzentriert, doch ich bemerkte, dass die Attacken der Angreifer sich langsam mehr und mehr verlagerten, zum linken Teil der Lichtung – wo Artair stand und sein Schwert mit großen Schwüngen schwang, als sei er ein Schnitter im Feld.


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    „Hier herüber", rief ich Uisdean zu; er reagierte sofort und bewegte sich zügig in Artairs Richtung, gefolgt von weiteren Männern, die ebenfalls begriffen hatten, was passierte.


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    Langsam erlahmte der Widerstand der Angreifer, der stete Sturm des Angriffs flaute ab und die ersten begannen, in den Wald zu flüchten, als ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel sah.


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    Ein vereinzelter Angreifer kam aus dem Waldstück hinter uns und näherte sich mit großen Sprüngen.
    Nah, viel zu nah hinter Artair.


    Mit einer raschen Drehung schob ich mich zwischen Artairs Rücken und den heranstürmenden Angreifer.


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    Er war zu schnell und konnte nicht mehr ausweichen; und seine Schnelligkeit verstärkte noch die Wucht, mit der mein Schwert in seinen Köper drang, als wir aufeinander prallten.


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    Sein Gesicht nahm jenen Ausdruck ungläubigen Staunens an, den es immer dann zeigt, wenn der Tod rasch und unerwartet kommt.
    Seine Augen waren von einem hellen, ungewöhnlichen Bernsteinton, und ich konnte in ihnen lesen, dass er nicht glauben wollte, was jetzt gerade mit ihm geschah, bevor sie brachen.
    Unwillkürlich fing ich ihn in meinen Armen auf.


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    Ich konnte spüren, wie sich Artair hinter meinem Rücken drehte und hörte ihn aufstöhnen; gleichzeitig sah ich Brayan aus dem Waldsaum hervor brechen, er stieß einen erschreckten Schrei aus und in seinem Gesicht stand das nackte Entsetzen.


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    Ich wollte ihm zurufen, dass alles in Ordnung sei, dass Artair keine Gefahr mehr drohe, aber es kam kein Laut über meine Lippen.
    Verwundert versuchte ich es erneut, und plötzlich schmeckte ich Blut.
    Ich sah an mir herab, und dann begriff ich, dass nicht nur mein Schwert in dem Körper des Fremden steckte.


    Sondern auch seines in meinem. Es war fast bis zum Heft in meine Brust eingedrungen, und mit dem Schock, der mich wie ein Axthieb traf, kam auch der Schmerz.


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    Ich hörte ein keuchendes Geräusch, das offensichtlich von mir kam; und in plötzlicher, wilder Panik stieß ich den Mann von mir, der zusammengesunken an mir lehnte.


    Mit einem hässlichen Geräusch fuhr das Schwert aus meiner Brust, und ein heftiger Blutschwall folgte.
    Und dann fühlte ich, wie langsam das Bewusstsein aus meinem Körper rann, und sich die Dunkelheit meiner bemächtigte.


    Das letzte, was ich sah, war der verzweifelte Blick in Artairs Augen, als er mich auffing.


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  • 34kapitel.png



    Hitze. Die Hitze war allgegenwärtig; um mich herum, in mir, sie füllte meine gepeinigten Lungen mit jedem Atemzug.


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    Du hast Fieber, teilte mir die Stimme in meinem Innern mit.
    Danke, dachte ich, erzähl mir was, was ich noch nicht weiß.


    Dann versank ich wieder im Nichts, gefangen in einer Welt aus Schmerz und Feuer; ohne jede Vorstellung davon, ob nur ein winziger Augenblick oder ganze Monde vergangen waren seit jenem Moment auf der Lichtung.


    Ab und zu schreckte ich auf, durch laute Stimmen oder einen besonders heftigen Ansturm von Pein, aber ich war nicht in der Lage, zu sprechen oder auch nur die Augen zu öffnen.
    Das Fieber wütete in meinem Körper und hielt mich fest in seinen Klauen.


    Mein Geist trieb ziellos umher, manchmal dicht an der Oberfläche, aber dennoch unfähig, die dünne Schicht zum Bewusstsein zu durchstoßen; und immer öfter sank ich ungeahnte Tiefen, die mich an andere Orte führten und mich für kurze Zeit von meiner Qual befreiten.


    Ich sah Ariadna, in Caer Mornas, mit ihrem unvermeidlichen Stickrahmen; sie summte ein kleines Liedchen, und in diesem Augenblick hasste ich sie mit aller Inbrunst, derer ich fähig war.


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    Ich schwebte ein Stück auf sie zu.


    Wenn Du denkst, dass ich mich abstechen lasse, damit Du mir Artair wegnehmen kannst, hast Du Dich geschnitten, schleuderte ich ihr in Gedanken entgegen, und sie verstummte plötzlich und hob erschreckt den Kopf.


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    „Ist da jemand?", flüsterte sie, ihre Stimme klang angsterfüllt.


    Überrascht wich ich ein Stück zurück. Hatte sie mich etwa gespürt? Aber bevor ich dem Gedanken nachgehen konnte, glitt ich schon wieder davon.



    Ich war in Caer Umran, bei Shainara, die einsam auf einem Turm stand. Hielt sie Ausschau nach ihren Priesterinnen?


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    Hilf mir, Shainara, dachte ich, und sie drehte sich um; ihre Augen glitten suchend über die Plattform.


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    „Neiyra?", sagte sie unsicher, aber dann war ich schon wieder fort; und ich fand mich in einem Zelt wieder, in dem ich befremdlicher Weise auf mich selbst herabsah.



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    Neugierig musterte ich mich, mit dem nüchternen, geübten Blick der Heilerin.
    Na, das sieht nicht gut aus. Das war´s dann wohl.


    Seltsamerweise berührte mich der Gedanke kaum; eine tiefe, friedvolle Ruhe umgab mich.


    Eine Bewegung am Eingang erregte meine Aufmerksamkeit. Dort stand Artair, er sah müde und übernächtigt aus, er trug nur eine Hose und ein blutbesudeltes Hemd.
    Bei ihm stand Brayan; er sah nicht besser aus.


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    „Du darfst nicht nachlassen", sagte Brayan, und seine Stimme klang gequält.


    „Niemals", erwiderte Artair hart, „und wenn es mich umbringt."


    „Ich reite, so schnell ich kann."


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    Hastig umarmte Brayan Artair, und dann schickte er sich an, das Zelt zu verlassen.


    Nein, geh nicht! schrie ich, aber keiner der beiden schien mich zu hören.
    Ich sterbe, und wenn ich sterbe, will ich euch beide an meiner Seite haben.


    Und dann war Brayan fort.

    Artair setzte sich auf einen Schemel neben die Trage, auf der mein Körper lag, und ergriff meine Hand.


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    Das Licht seiner Gabe begann zu pulsieren und hüllte uns beide ein; und ich spürte einen heftigen Sog, der mich zurück in meinen Körper zwang, zurück zu Qual und Hitze.
    Das Licht war so gleißend, dass es durch meine geschlossenen Lider drang und mir in den Augen schmerzte.
    Ich wehrte mich heftig, ich wollte nicht hier sein; aber Artair war stärker als ich, und es dauerte endlos lange, bis mich wieder gnädige Dunkelheit umhüllte und ich ins Nichts gleiten konnte.


    Das nächste, was ich wahrnahm, war eine Gestalt, die langsam auf mich zukam, in einer Dunkelheit, die kein Ort war und in der Zeit keine Rolle spielte.
    Zuerst dachte ich, es sei ein Kind; aber als die Gestalt sich näherte, erkannte ich, dass es eine sehr alte Frau war, die gebeugt auf mich zu humpelte.


    Als sie mich erreicht hatte, richtete sie sich etwas auf und sah mir ins Gesicht.


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    „Ja", sagte sie dann und nickte zufrieden, „du bist die, die kommen soll."


    „Wohin?", fragte ich neugierig.


    „Nicht wohin", antwortete sie. „Sondern wann. So, wie es prophezeit wurde."


    Fragend sah ich sie an, aber sie schien der Meinung zu sein, dass dies als Erklärung ausreichend sei.


    „Wer bist Du?", versuchte ich es erneut.


    „Mein Name ist Noreia", sagte die Alte. „Komm."


    Sie streckte mir ihre Hand entgegen, und ohne zu Zögern ergriff ich sie.
    Im nächsten Moment standen wir in einer großen, von Dunkelheit erfüllten Halle. Ich konnte das Deckengewölbe nicht sehen, und es war kalt, aber ich fröstelte nicht.


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    „Sieh hin", sagte Noreia, „sieh ganz genau hin."
    Dann verschwand sie.


    Aufmerksam sah ich mich um. Der Boden bestand aus einem dunklen, glänzenden Material, ebenso wie die Wände; ich konnte keine Fugen erkennen.
    In Brusthöhe zog sich ein Band aus gemeißelten Schriftzügen ringsum, auch auf dem Boden bildeten sie ein kompliziertes Muster. Ich konnte die Schrift nicht lesen.


    Als ich einen Schritt nach vorne trat, flammte direkt vor mir ein blaues Licht auf, und vorsichtig blieb ich stehen.


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    An der Wand vor mir stand eine Schale auf einem Sockel, beides tiefschwarz, und in der Schale brannte ein blaues Feuer.


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    Ich drehte mich um mich selbst, und ich konnte drei weitere Schalen auf identischen Sockeln erkennen, jeweils in der Mitte einer Wand und durch Linien und Symbole auf dem Boden miteinander verbunden.
    Nacheinander ging ich auf sie zu, aber sie blieben kalt und dunkel, kein Feuer loderte in ihnen auf, als ich mich ihnen näherte.


    Als ich Stimmen hörte, die aus einem Raum nebenan zu kommen schienen, schwebte ich entschlossen auf die Wand zu.
    Es gab keine Tür, aber ich befand mich außerhalb meines Körpers, was sollte mich schon aufhalten?
    Leicht glitt ich durch die dicke Wand, und ich gelangte in ein Gewölbe; tiefe Furchen und Risse durchzogen die steinernen Wände und den Boden.


    Das erste, was mir ins Auge fiel, war eine Art riesige Glaskugel, die auf einem Sockel gleich jenen in der Halle zu schweben schien.


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    In ihrem Innern wogten milchige Schwaden durcheinander, ähnlich wie Rauch; sie erinnerten mich an etwas, und ich runzelte nachdenklich die Stirn, aber es wollte mir nicht einfallen.


    Dann hörte ich die Stimmen wieder, und ich wandte mich um.


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    In der Mitte des Raums loderte ein Feuer, in einem Kessel darüber brodelte eine Flüssigkeit.
    Drei Frauen standen um ihn herum, hielten ihre Hände darüber und intonierten gemeinsam einen seltsamen Singsang.


    Ich kam etwas näher und glitt um den Kessel herum, und dann konnte ich erkennen, dass die Frau, die mir bei meinem Eintreten den Rücken zugewandt hatte, Meduria war.


    Erschreckt trat ich ein paar Schritte zurück, aber sie schien mich nicht zu bemerken.
    Sie zückte einen Dolch, und die beiden anderen Frauen taten es ihr gleich.


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    Mit einer raschen, vollkommen gleichzeitigen Bewegung schnitten sie sich in den Handballen, ballten die Hand zur Faust und ließen jeweils drei Tropfen ihres Blutes in den Kessel fallen, während ihr Gesang lauter und lauter wurde.


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    Meduria riss die Arme hoch, warf den Kopf in den Nacken, und eine Stichflamme schoss aus dem Kessel.


    In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür, die ich bislang nicht bemerkt hatte, weil sie im Dunkel verborgen lag, und Er betrat den Raum.


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    Er trug nur eine Hose und eine Art offene Kutte, seine Brust darunter war nackt.
    Langsam kam er näher, und die beiden Frauen wichen zurück, aber Meduria hob nur den Kopf und sah ihn unverwandt an.
    Dicht vor ihr blieb er stehen.


    „Wie kommst Du voran?", fragte er, und der Klang seiner Stimme, so schmerzlich vertraut, ging mir durch und durch.


    „Gut", erwiderte Meduria. „Wir sind fast so weit."


    Sie hob die rechte Hand und wollte sie auf seine nackte Brust legen, aber mit einer blitzschnellen Bewegung fing er ihre Hand ein und hielt sie auf.
    Sein Griff war so hart, dass ich ihre Knochen knacken hören konnte, aber sie verzog keine Miene.


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    „Tu das nie wieder", sagte Runcal kalt. „Versuch nie wieder, mich zu berühren."


    Sie lachte spöttisch. „Immer noch so unversöhnlich?"


    Langsam lockerte Runcal seinen Griff und ließ Medurias Hand los.


    „Bis an mein Lebensende", sagte er. „Du hast mir alles genommen."


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    Meduria lächelte. „Ja, das ist wahr", erwiderte sie genüsslich.
    „Und ich habe dir auch alles gegeben. Du wolltest nie sehen, dass große Macht auch ein großes Opfer erfordert. Du wolltest immer alles, aber jeder muss bezahlen."


    Runcal sah sie an, sein Gesicht zeigte keine Regung; aber dann fuhr sein Kopf hoch, und er sah mir genau ins Gesicht.
    Kalte Furcht stieg in mir auf.


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    „Sieh mal an, wen wir da haben", sagte er.


    „Sie ist schon eine ganze Weile hier", erwiderte Meduria.
    Sie drehte sich um und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Kessel; mit einer raschen Geste winkte sie die Frauen heran, und die beiden begannen, die Flüssigkeit in kleine Phiolen zu füllen.


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    Meduria hob den Kopf und sah mich ebenfalls an.
    Die farblosen Augen hefteten sich mit grausamer Intensität auf mich.


    „Sie sieht uns zu", sagte sie.
    „Und es geht ihr schlecht, sie scheint im Sterben zu liegen. Das erspart uns die Arbeit. Wieder eine weniger von Rhiannons Bälgern."


    Runcal schlenderte zu der Glaskugel, blieb davor stehen und schnippte mit dem Finger dagegen.


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    Ein heller Ton erfüllte den Raum, und der Rauch im Innern wirbelte schneller, schien zurück zu weichen und vor ihm fliehen zu wollen.


    „Das wäre schade", sagte er träge.


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    .
    „Du magst sie wohl?" Medurias Stimme klang spöttisch.
    „Du hast mich daran gehindert, in ihren Geist einzudringen."


    Mögen ist zu viel gesagt", sagte Runcal langsam.
    „Ich finde sie amüsant. Und Du hast doch nicht ernsthaft gedacht, dass ich Dir die Kleine alleine überlasse – ich habe sie für meine eigenen Zwecke gebraucht.
    Der schnellste Weg zu Artairs Tod führt über sie. Zum jetzigen Zeitpunkt käme es mir nicht gelegen, wenn sie sterben würde, aber falls es geschieht, finden wir einen anderen Weg.
    Sterben muss sie auf jeden Fall, früher oder später; das ist unvermeidbar."


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    Er sah mir direkt in die Augen und lächelte, und ich fragte mich, warum mir das Grau seiner Augen jemals warm vorgekommen war.



    Die Konturen um mich herum begannen zu verschwimmen, und ich spürte, dass ich zurück glitt; der Sog, der mich in meinen Körper zurückzog, war stärker denn je.
    Ich kämpfte dagegen an; der Schmerz und die Hitze, zu denen ich zurückkehrte, waren unerträglich, aber ich war zu schwach.


    Ich konnte Artair deutlicher spüren als zuvor, und mir wurde klar, dass er seinen eigenen Schutz fallen gelassen hatte und mich dadurch stärker an sich und an meinen Körper band.
    So sehr ich es auch versuchte, es war mir unmöglich, mich seinem Griff zu entziehen.


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    Mit aller Kraft gelang es mir, kurz die Augen zu öffnen, ich wollte Artair anflehen, mich doch loszulassen; aber ich brachte kein Wort über meine Lippen.


    Ich weiß nicht, wie lange ich so lag.
    Die einzige Linderung war der stete Strom aus Licht, der von Artairs Hand in meinen Körper floss, und der einzige Trost waren seine Augen, die für mich zum Fixpunkt geworden waren in einer Welt, die nur aus Schmerz und Feuer bestand.


    Doch irgendwann, nach einer Ewigkeit, so schien es mir, ließ Artairs Wachsamkeit plötzlich nach.
    Jemand hatte das Zelt betreten und beanspruchte seine Aufmerksamkeit.


    Mühsam versuchte ich, die mir verbliebenen Kräfte zu bündeln und entwand mich Artairs Griff, und sanft sank ich nach unten, in eine tröstliche, kühle Dunkelheit, die mich wie ein lindernder Lufthauch sanft umschloss, und die dann nach und nach in einen Wirbel aus warmer, strahlender Helligkeit und nie zuvor gesehenen Farben überging, der mich rasch fortzog.


    Plötzlich hörte ich eine Stimme.
    „Neiyra?", fragte sie, und das Gesicht meiner Schwester tauchte auf.


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    „Caitlin?"
    Erstaunt sah ich sie an, und sie kam auf mich zu und zog mich in ihre Arme.
    Sie waren weich und sanft, ein zarter Duft umschloss mich, und ich fühlte mich glücklich.


    Caitlin sah mir ins Gesicht und strich mir eine Strähne aus der Stirn.
    „Du bist so groß geworden", sagte sie staunend, und dann lachte sie froh.
    „Kommst Du mit mir?"


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    „Ja", sagte ich, und sie ergriff meine Hand.


    In diesem Augenblick schoss ein Blitz aus blendendem Licht aus der Dunkelheit, die über uns lag, und ich konnte Artairs Präsenz wieder spüren, stärker als jemals zuvor.
    Brennende Schnüre schienen sich um mich zu wickeln und rissen mich von Caitlin fort, zogen mich unaufhaltsam nach oben, zurück zu Schmerz und Qual, und ich weinte und schrie und kämpfte verbissen dagegen an.


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    „Es ist schon gut, Neiyra", sagte Caitlin sanft und strich mir über die Wange.
    „Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Wir werden uns wiedersehen."


    Sie verblasste mehr und mehr, und Artairs Licht wickelte sich immer enger um mich, schnürte mich ein, nahm mir jede Luft zum Atmen, bis es mich ganz und gar zu durchdringen schien.
    Artair war da, seine Präsenz war überwältigend, und er war unnachgiebig, ich konnte es deutlich spüren.
    Er würde mich nicht gehen lassen, und erschöpft gab ich meinen Kampf auf.


    Immer schneller und schneller wirbelten wir nach oben, immer heller und gleißender wurde das Licht, bis alles in einem riesigen Feuerball zu explodieren schien, und mich endlich gnädige Dunkelheit umgab.




    Als ich die Augen aufschlug, umfing mich ein seltsam angenehmes Gefühl, als schwebe ich schwerelos im Nichts.


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    Die Schmerzen in meiner Brust, zuerst nur ein dumpfes Pochen, verstärkten sich wieder, aber sie waren nicht mehr so schlimm wie zuvor, ich konnte sie gut aushalten.
    In meinem Kopf herrschte eine angenehme Leere, kein Gedanke störte mich.


    Ich spürte ein Gewicht auf meinem Schoß und sah nach unten.


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    Artairs Kopf lag auf meiner Decke, er schlief.


    Gedankenverloren strich ich über sein Haar, und er wachte ruckartig auf.
    Müde fuhr er sich über die Augen, dann zuckte er zusammen und sah mich an.


    „Neiyra?", flüsterte er, seine Stimme klang heiser, in seinem Blick lag Angst.


    Ich sah auf meine Hand hinunter, die in Artairs lag, und es schien mir so, als ginge ein schwaches Licht von den beiden verschlungenen Händen aus.
    Und schlagartig kam meine Erinnerung zurück, und mir wurde klar, was geschehen war.


    Erschrocken blickte ich auf und sah in Artairs müdes Gesicht, auf dem sich jetzt Erleichterung ausbreitete.


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    Nein.
    Er hatte wirklich keine Ahnung, was er getan hatte. Und was er damit angerichtet hatte.


    Aber ich wusste es. Ich wusste es.
    Und ich war mir der Konsequenzen völlig bewusst.


    Ich sah in seine blauen Augen und las darin Erschöpfung und Dankbarkeit.


    Und ich schwieg.





    Personenverzeichnis ~ Stammbaum ~ Karte



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    „Du wirst keinen Fuß aus diesem Bett setzen, bis ich es Dir erlaube."


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    Mit verschränkten Armen stand Artair vor meinem Bett und sah grimmig auf mich herab.
    Seine Stimme klang unbeugsam, und zähneknirschend ließ ich mich zurücksinken.


    Ich hatte das Gefühl, dass die Wände meiner Kammer im Palast von Caer Mornas jeden Tag näher rückten und mich zu erdrücken drohten.


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    „Mir geht es gut!" , protestierte ich, aber Artair blieb ungerührt.


    Schließlich seufzte er, setzte sich zu mir auf die Bettkante und ergriff meine Hand.
    Sanft strich er mit seinem Daumen über meine Fingerkuppen.


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    „Versteh doch" , sagte er leise.
    „Ich will kein Risiko eingehen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn Dir etwas passieren würde."


    Müde schloss ich die Augen. Was konnte ich dem schon entgegen setzen?
    „Mir geschieht schon nichts, Artair" , sagte ich schließlich.


    Ernst sah ich ihn an.
    „Wann willst Du aufbrechen? Die Zeit wird knapp."


    „Sobald Shainara und die Priesterinnen hier eingetroffen sind" , antwortete er.
    „Ich will nicht noch mehr Männer aus Caer Mornas abziehen."


    „Du hast mehr Wachen aufgestellt, seit wir zurück sind. Überall. Selbst hier im Palast."
    Fragend sah ich ihn an.


    Zögernd nickte er.
    „Als wir zurück kamen, musste ich feststellen, dass jemand in meine Beratungskammer eingedrungen ist" , sagte er langsam.


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    Erschreckt setzte ich mich auf. „Wurde etwas gestohlen?"


    „Nein, es hat nichts gefehlt, soweit ich sehen konnte. Es war nur alles durchwühlt und aus den Regalen gerissen.
    Ich bewahre dort sowieso nicht viel von Wert auf."


    Er schwieg einen Augenblick.
    „Das einzig Unersetzliche dort ist die Krone meiner Mutter."


    Nachdenklich fuhr er sich über die Stirn.


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    „Zuerst bin ich davon ausgegangen, dass es nur ein Einbruch war" , sagte er langsam.
    „Aber etwas fühlt sich… seltsam an. Noch nie, solange ich zurückdenken kann, ist jemand in die Beratungskammer des Königs eingedrungen. Und je mehr ich darüber nachdenke…"


    Zweifelnd kniff er die Augen zusammen und sah mich an.
    „Runcal hat mich nach der Krone gefragt. Mehrfach. Damals, als ich ein Kind war; und jedes einzelne Mal, wenn er zu Besuch kam."


    Ich runzelte die Stirn; etwas regte sich in meiner Erinnerung.
    Und dann fiel es mir ein, und ich fuhr auf.


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    „Er hat auch mit mir über die Krone geredet" , stieß ich hervor.


    „Was?" Überrascht sah Artair mich an.
    „Was wollte er wissen?"


    „Er wollte eigentlich nichts wissen" , erwiderte ich langsam.
    „Er hat mir etwas über die Krone erzählt. Diese… Sache mit den Tränen der Götter."


    Unsicher sah ich Artair an.
    Und dann durchströmte mich ein eisiger Schrecken.
    „Ich habe es ihm gesagt" , stieß ich hervor. „Wo du die Krone aufbewahrst."


    Ich barg mein Gesicht in den Händen.


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    „Den Göttern sei Dank, dass er sie nicht gefunden hat" , sagte ich tonlos.


    „Sie war nicht dort" , erwiderte Artair ruhig.
    „Sie ist beim Goldschmied."


    Ich fühlte einen Stich in meinem Herzen.
    Natürlich. Ashvanas Krone war sicherlich zu groß für Ariadnas winziges Köpfchen.


    Langsam legte ich meine Hände in den Schoß.
    „Was plant er wohl?"


    „Da wage ich keine Vermutung" , erwiderte Artair.
    „Ich habe niemals verstanden, wie er denkt."


    Wir schwiegen beide einen Moment.


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    „Was will er nur mit der Krone deiner Mutter?" , sagte ich dann nachdenklich.




    Nachdem Artair gegangen war, stand ich vorsichtig auf und ging langsam auf den Balkon.


    Ich hatte noch Schmerzen, obwohl meine Wunde unerklärlich gut verheilte.
    Die Heiler standen vor einem Rätsel.
    Mir war natürlich klar, warum es so war; aber das würde wohl auf ewig mein Geheimnis bleiben.


    Ich sog die kalte, klare Luft ein, so tief es mir möglich war, und starrte in den Garten.


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    Schuldgefühle plagten mich.


    Was hatte ich Ihm noch alles verraten, ohne mir dessen Bedeutung überhaupt bewusst zu sein?


    Unbehaglich senkte ich den Kopf.
    Ich wollte nicht darüber nachdenken. Meist verdrängte ich jeden Gedanken an Ihn.
    An Runcal.


    Diese letzte Begegnung, von der ich mir nicht mal sicher war, ob sie tatsächlich stattgefunden hatte oder nur eine Ausgeburt meiner Fieberträume war, hatte mich mehr verletzt, als ich zuzugeben bereit war.
    Die Kälte in seinen Augen, die Härte seiner Worte.


    Eine Bewegung im Garten erregte meine Aufmerksamkeit, und ich war dankbar für die Ablenkung; als ich jedoch sah, wer dort unten ging, runzelte ich die Stirn.


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    Ariadna hatte ihre Hand auf Brayans Arm gelegt, sie sah zu ihm auf und strahlte ihn an.
    Die beiden durchquerten den Garten und verschwanden im Kreuzgang.


    Unmut machte sich in mir breit.
    Seit wir zurück waren, suchte Brayan jeden Tag Ariadnas Gesellschaft; und ich hatte keine Ahnung, warum er das tat.


    Als ich Ceilith in meiner Kammer hörte, die sich offenbar an meinem Bett zu schaffen machte, verließ ich den Balkon und ging zurück in mein Gefängnis.


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    „Ceilith" , sagte ich,
    „Du musst wirklich nicht andauernd mein Bett richten."


    „Es ist bequemer für Euch, wenn es glatt ist" , erwiderte sie, aber ihre Stimme klang dumpf, und sie hielt ihr Gesicht abgewandt.


    Ich trat näher heran, legte meine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben. Sie hatte geweint.


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    „Ceilith" , sagte ich erschrocken, „was ist geschehen?"


    Sie zögerte.
    „Es ist nichts" , sagte sie dann, und ich sah sie streng an.
    Ich konnte sehen, wie sie mit sich rang, aber dann schien sie einen Entschluss zu fassen.


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    „Es geht um meine Schwester" , sagte sie betrübt.


    „Deine Schwester?" , fragte ich.
    „Die, die du großgezogen hast?"


    Sie nickte.
    „Ihr wisst ja, dass die Frauen in meiner Familie nicht sehr fruchtbar sind. Ich habe nur Braigh, und meine Mutter hatte lange Jahre nur mich, bis sie völlig überraschend doch nochmal schwanger wurde.
    Sie ist bei der Geburt gestorben, und so habe ich für meine Schwester gesorgt."


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    „Ist deiner Schwester etwas zugestoßen?" , fragte ich, und erleichtert sah ich, dass Ceilith den Kopf schüttelte.


    „Nein" , sagte sie, „es geht ihr gut. Aber sie ist schwanger.
    Sie hat lange darauf gewartet und ist so glücklich darüber, aber sie hat auch furchtbare Angst."


    Das konnte ich mir gut vorstellen.
    „Dann besuch sie doch" , schlug ich vor.


    Ceilith senkte den Kopf.
    „Sie lebt in Caer Umran" , sagte sie leise.


    „Nun ja" , sagte ich.
    „Das ist in der Tat etwas weiter weg als eines der umliegenden Dörfer, und die Zeiten sind unsicher, aber wenn du dich einem Händlertroß anschließt…"


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    „Eine Gruppe Händler will heute Abend nach Caer Umran aufbrechen" , fiel sie mir ins Wort.
    „Sie haben Wachen angeheuert, gute Männer, wie Uisdean sagt."


    Ratlos sah ich sie an. „Worauf wartest du dann noch?"


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    „Ich kann Euch doch nicht allein lassen, Herrin", sagte sie.
    „In Eurem geschwächten Zustand. Jemand muss sich doch ordentlich um Euch kümmern."


    „Das ist doch Humbug, Ceilith" , erwiderte ich.


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    „Ich bin sehr gut in der Lage, allein auf mich aufzupassen. Selbstverständlich wirst du deine Schwester besuchen."



    „Ich passe auf sie auf. Ich werde ihr die Windeln wechseln" , hörten wir eine Stimme von der Tür.


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    Wir sahen auf. Brayan, der offenbar das Lustwandeln an Ariadnas Arm aufgegeben hatte, hatte meine Kammer betreten und den letzten Satz gehört.


    Ich rollte mit den Augen.
    „Damit ist es abgemacht, Ceilith. Ich will nichts mehr hören."


    Immer noch lag Zweifel in Ceiliths Blick, aber Brayan lächelte ihr aufmunternd zu, und schließlich erwiderte sie zaghaft sein Lächeln.


    „Dann werde ich alles vorbereiten" , sagte sie, und sie wandte sich zum Gehen.


    Rasch griff ich nach ihrem Arm, und überrascht drehte sie sich wieder um.
    Zögerlich sah ich sie an, dann zog ich sie entschlossen in eine feste Umarmung.


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    „Gute Reise, Ceilith" , flüsterte ich.
    „Sei vorsichtig. Und danke."


    Ceiliths Augen schimmerten feucht, als ich sie aus der Umarmung entließ.
    „Ich habe zu danken, Herrin" , sagte sie leise, dann verließ sie das Zimmer.


    Ich räusperte mich, dann fuhr ich zu Brayan herum.


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    „Und jetzt zu Dir. Du wirst mir gar nichts wechseln, hörst Du?"


    „Uhhh!"
    Brayan hob die Hände und wich in gespieltem Erschrecken ein paar Schritte zurück.


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    „Was ist Dir denn über die Leber gelaufen? Das kann nicht nur daran liegen, dass Du hier eingekerkert bist."


    „Lass mich bloß in Ruhe" , knurrte ich.
    Ein hilfloses Häschen, das Du betüddeln kannst, sollte Dir doch wohl genügen."


    Ich hörte selbst, wie kindisch und beleidigt ich mich anhörte.


    „Redest Du etwa von Ariadna?" fragte Brayan verblüfft, und ich verschränkte die Arme und sah ihn grimmig an.


    „Du verbringst sehr viel Zeit mit ihr, seit wir zurück sind."


    „Du lieber Himmel, Neiyra."
    Brayan klang auf einmal sehr ernst.


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    „Ich helfe ihr. Sie fühlt sich im Moment ziemlich allein und auch überfordert.
    Es wird von ihr erwartet, dass sie bereits einige Verpflichtungen übernimmt, die sie als zukünftige Königin haben wird, und sie hat keine Ahnung von all dem.
    Ich begleite sie, wenn es meine Zeit erlaubt, und versuche, ihr ein wenig beizustehen und die Sache leichter für sie zu machen."


    Beschämt sah ich ihn an.
    „Es tut mir leid, Brayan" , sagte ich und warf mich in seine Arme.


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    „Entschuldige bitte. Ich bin einfach schrecklich."


    Ich war wütend auf mich selbst.
    Ich hatte gesprochen, ohne nachzudenken; abgesehen von der kindischen Ungerechtigkeit gegenüber Ariadna wusste ich doch genau, dass Brayan anders für sie empfand als ich.
    Und das letzte, was ich wollte, war, Brayan zu verletzen. Schließlich litt er genauso unter der Situation wie ich.


    Brayan strich mir tröstend übers Haar und gab mir einen raschen Kuss auf die Nasenspitze.


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    „Es wird wirklich Zeit, dass Du hier raus kommst" , grinste er.
    „Du bist ja noch unausstehlicher als sonst."




    An diesem Abend lag ich Stunden im Bett und fand keinen Schlaf, und schließlich hatte ich genug.
    Wenn ich noch einen Augenblick länger in dieser Kammer bleiben würde, würde ich anfangen zu schreien.


    Vorsichtig kletterte ich aus dem Bett und schlüpfte in meinen Morgenmantel.


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    Nur ein paar Schritte auf dem Korridor, rechtfertigte ich mich vor mir selber, nur kurz etwas anderes sehen als diese Kammer.


    Leise öffnete ich meine Tür und trat einen Schritt in den Gang hinaus, und dabei fiel ich beinahe über eine kleine Gestalt, die sich bückte und etwas auf meiner Türschwelle ablegen wollte.


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    Erschreckt suchte ich Halt am Türrahmen, und als die Gestalt sich aufrichtete, erkannte ich im flackernden Licht der Fackeln, wer da vor meiner Tür stand.



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    „Noreia!" , rief ich überrascht.
    „Ihr seid echt?"


    Noreia würdigte dies keiner Antwort.
    Sie bückte sich erneut, hob auf, was sie auf die Türschwelle gelegt hatte, und legte es mir in die Hand.


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    Es war ein zierliches Armband aus Leder, fein bestickt und mit winzigen, kostbaren Perlen verziert.


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    Es war wunderschön, und ehrfürchtig strich ich mit den Fingerspitzen darüber.


    „Die Menschen des Alten Volks entsenden Euch dies" , sagte Noreia.


    „Warum?" , fragte ich verblüfft.


    Noreia sah mich nur an.
    „Erzählt Shainara, was ihr gesehen habt" , sagte sie schließlich.


    „Aber ich habe doch gar nichts gesehen!"


    „Und sagt ihr, dass wir dort sein werden."


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    „Wo?" , fragte ich verwirrt, aber wieder bekam ich keine Antwort.


    Noreia wandte sich ab, um zu gehen, aber dann drehte sie sich nochmal um.


    „Ihr müsst in Euren Träumen nach ihm suchen."


    Sie ergriff meine Hände und sah mich an.


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    Ich fühlte, wie mir unter ihrem intensiven Blick ein Schauer über den Rücken rann.


    „Das ist wichtig, hört Ihr?"
    Sie zögerte einen Moment, aber dann sprach sie weiter.


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    „Und ihr müsst wissen – ihr werdet es schaffen. Ihr werdet eure Aufgabe bei dem Ritual erfüllen, es wird Euch gelingen.
    Ihr seid der Anker, der Kern. Ihr seid die, die kommen soll."


    Sie löste ihre Hände von meinen und legte den Kopf schief.
    „Und jetzt geht wieder zu Bett" , sagte sie streng.


    Sie verneigte sich tief vor mir, dann wandte sie sich um und ging durch den Gang davon.
    Ratlos und verblüfft sah ich ihr nach, und dann ging ich widerspruchslos zu Bett.


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    Am nächsten Morgen erwachte ich so, wie ich in der Nacht zuvor eingeschlafen war: ich zermarterte mir das Gehirn, was Noreias Worte wohl bedeuten mochten.



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    Aber so sehr ich auch grübelte, ich konnte mir keinen Reim darauf machen.



    Erzählt Shainara, was ihr gesehen habt - nur dass Shainara gar nicht hier war, und ich keine Ahnung hatte, wann ich sie wiedersehen würde.
    Und ich obendrein nicht mal wusste, was ich angeblich gesehen haben sollte.



    Ihr werdet eure Aufgabe bei dem Ritual erfüllen - nur dass ich mit dem Ritual gar nichts zu tun hatte.
    Ich würde nicht dabei sein; ich würde hierbleiben, in Caer Mornas, um Artair nicht abzulenken.



    Ganz zu schweigen davon, dass ich mit meiner gerade verheilenden Wunde dieser Reise wohl kaum gewachsen wäre.
    Und, wenn ich ehrlich war, ich fühlte mich auch tatsächlich noch nicht kräftig genug dafür.



    Es klopfte an meiner Tür, und auf meine Aufforderung kam Braigh herein.



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    „Artair schickt mich", sagte er. „Er bittet dich, zu ihm in die Beratungskammer zu kommen."



    „Ach was", grinste ich. „Woher der plötzliche Sinneswandel? Ist ihm langweilig?"



    „Nein, nein."
    Braigh grinste zurück.
    „Aber die Priesterinnen sind angekommen, und Shainara möchte, dass du bei der Beratung dabei bist."



    Mit offenem Mund saß ich da und starrte ihn an.



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    Nun. Zumindest die erste Frage war wohl geklärt. Und irgendwie hatte ich den leisen Verdacht, dass auch die zweite sich bald klären würde.




    Als ich Artairs Beratungskammer betrat, atmete ich tief durch.



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    Brayan lehnte an der Wand und zwinkerte mir zu, und Artair war in ein Gespräch mit Shainara vertieft.
    Dian und Braghan unterhielten sich mit zwei jungen Frauen, die wohl in Shainaras Begleitung gekommen und deshalb vermutlich Priesterinnen waren.



    „Neiyra!" Eine der fremden Priesterinnen stürzte auf mich zu und umarmte mich.



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    Sie schien nicht willens zu sein, mich loszulassen; als sie die Umarmung endlich löste, legte sie ihre Hände auf meine Oberarme und strahlte mich an.



    „Erkennst du mich nicht?", fragte sie.
    „Ich bin es, Neleia." Sie zögerte, als ich nichts erwiderte.



    „Ich bin deine Schwester", fügte sie dann hinzu, in ihre Stimme hatte sich ein Anflug von Unsicherheit geschlichen.
    Ich sah sie nur an und sagte nichts, und das Strahlen wich aus ihrem Gesicht. Sie ließ meine Arme los und trat einen Schritt zurück.



    „Wie geht es dir, Neiyra?"
    Shainara war zu uns getreten und musterte mich genau.



    „Mir geht es gut", erwiderte ich knapp, und Shainara nickte.
    Dann wandte sie sich wieder an Artair.
    „Mir gefällt nicht, dass jemand hier eingedrungen ist. Ich habe ein ungutes Gefühl, genau wie Du. Ich werde noch heute mit Elaria und Neleia den Schutz über dem Palast verstärken."



    Sie deutete mit der Hand auf meine Schwester und die andere Priesterin, und beide nickten.



    „Wir haben allerdings nicht viel Zeit", sagte Shainara und seufzte.
    „Als ich das letzte Mal zu Martáinn Kontakt hatte, war auf dem Ritualplatz alles bereit, sie warten nur noch auf uns. Und die Zeit drängt."



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    Müde fuhr sie sich mit der Hand über die Augen.
    „Wir sind die Änderungen am Ritual nochmal durchgegangen, jetzt, wo klar ist, dass Runcal dahinter steckt und er derjenige war, der den Kraftstern vorgeschlagen hat.
    Mártainn ist brillant, und er ist sich sicher, dass wir an alles gedacht haben, aber mir wäre trotzdem wohler, wenn Noreia..."



    Sie brach ab, ihr Blick war bekümmert.



    Noreia?
    Mein Kopf fuhr hoch, überrascht sah ich sie an.
    Jetzt oder nie, dachte ich.



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    „Shainara", sagte ich, und alle sahen mich an.
    „Ich soll dir etwas erzählen."



    „Du sollst?", fragte sie und sah mich alarmiert an.
    „Kommt das etwa von ihm? Von Runcal? Hast Du ihn wieder getroffen?"



    „Nein. Ja."
    Ich spürte die skeptischen Blicke und fuhr mir über die Stirn, um mich zu sammeln.
    „Ich habe ihn gesehen, in einem meiner Fieberträume, nach meiner Verwundung. Ich weiss nicht, ob es eine echte Begegnung war - so wie die vorhergehenden - oder ob es nur ein Traum war.
    Diese alte Frau hat mich dorthin geführt, und sie hat mir gesagt, ich soll genau aufpassen. Und gestern Abend stand sie plötzlich vor meiner Tür und hat von mir verlangt, dass ich dir alles erzählen soll."



    „Eine alte Frau?"
    Shainaras ganze Aufmerksamkeit war auf mich gerichtet.



    „Ja", bestätigte ich. „Sie sagte mir, dass sie Noreia heißt."



    Shainara trat einen raschen Schritt auf mich zu und griff nach meinem Arm.
    „Du hast Noreia gesehen?", stieß sie hervor, und ich konnte die Anspannung in ihrer Stimme hören.



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    „Wo ist sie?"



    „Ich... weiß nicht", antwortete ich, verblüfft über ihre heftige Reaktion.
    „Gestern Nacht war sie im Flur vor meiner Kammer. Ich bin fast über sie gestolpert. Sie hat mir das hier gegeben."



    Ich zog das Armband aus meiner Tasche und reichte es ihr.
    „Sie sagte...", ich dachte nach, um mich der genauen Worte zu entsinnen. „Sie sagte: ‚Die Menschen des Alten Volks entsenden Euch dies'."



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    Vorsichtig nahm Shainara das Armband in ihre Hände und ihre Augen weiteten sich überrascht.
    Sie wechselte einen Blick mit Elaria, dann gab sie es an sie weiter. Elaria strich andächtig mit den Fingerspitzen darüber, und ich hörte, wie Neleia einen leisen Laut der Bewunderung ausstieß, ehe sie das Armband behutsam an mich zurückreichte.



    „Du solltest es in Ehren halten", sagte Shainara ernst.
    „Das Alte Volk gibt seine Schutzzauber nur selten an Außenstehende, und niemals leichtfertig."



    „Das ist ein Schutzamulett?"
    Verblüfft sah ich auf das zarte Band in meiner Hand.



    „Allerdings", bekräftigte Shainara, „und ein sehr mächtiges noch dazu. Wenn Noreia extra hierher gekommen ist, um es dir zu geben, muss es wichtig sein. Du solltest es unbedingt tragen."



    „Noreia - wer ist sie?", fragte ich, und Elaria und Neleia warfen mir einen erstaunten Blick zu.



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    „Sie ist die oberste geistige Führerin des Alten Volkes", sagte Shainara.



    „Das Alte Volk war schon immer hier, schon lange vor den ersten menschlichen Siedlungen in den Königreichen. Es heißt, sie waren die ersten Kinder der Götter.
    Sie leben tief in den Wäldern, kaum jemand bekommt sie je zu Gesicht. Sie halten sich fern von den Menschen und meiden jede Begegnung.
    Es wird gesagt, dass sie sich erst zu Zeiten der Königin ohne Krone wieder den Menschen annähern."




    Plötzlich hatte ich ein Bild vor Augen, eine dumpfe, fast verblasste Erinnerung an eine Unterrichtsstunde in Caer Galadon.



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    Ich hatte demonstrativ ins Feuer gestarrt, während eine uralte, verhutzelte Priesterin uns aus diesem dicken Buch vorgelesen hatte, in dem irgendwelche seltsamen Prophezeiungen aufgeschrieben waren und das in Caer Galadon aufbewahrt wurde.



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    Ich erinnerte mich, dass von einem Alten Volk und einer Königin ohne Krone die Rede gewesen war.
    Aber ich war mehr von dem einzigen der Priesterin im Mund verbliebenen, unglaublich gelben Zahn gefesselt gewesen, als dem Geschwafel aus dem Märchenbuch, wie ich es im Stillen bei mir nannte, Aufmerksamkeit zu schenken.




    Shainara trat auf mich zu, nahm meine Hände und sah mich ernst an.



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    „Erzähl mir alles", sagte sie.
    „Von Anfang an. Fang mit der Begegnung während deines Fiebers an. Und versuch, Dich so genau wie möglich zu erinnern."



    „Es war dunkel", begann ich zu erzählen.
    „Und zu Beginn war da niemand außer mir selbst, aber dann kam Noreia auf mich zu. Sie nahm meine Hand und brachte mich an einen anderen Ort, eine hohe, von Dunkelheit erfüllte Halle.
    Sie sagte mir, ich solle genau hinsehen, und dann verschwand sie."



    „Kannst Du die Halle beschreiben?", fragte Shainara gespannt.



    „Boden und Wände waren schwarz und glänzend", sagte ich langsam.
    „Es gab keine Fugen, als ob die ganze Halle aus einem Stück sei. An der Wand waren Schriftzüge, ungefähr in dieser Höhe" - ich hielt mir den Arm vor die Brust - „und auch auf dem Boden, aber dort bildeten sie ein verschlungenes Muster.
    In der Mitte vor jeder Wand stand eine schwarze Schale auf einem schwarzen Sockel, und als ich auf eine zugegangen bin, flammte ein blaues Feuer darin auf.
    Aber nur in einer der Schalen, bei den anderen ist nichts passiert, als ich mich ihnen genähert habe."



    Erwartungsvoll sah ich Shainara an, sie nickte.
    „Das ist Torh Ogma", sagte sie, „Runcals Bergfestung."



    „Torh Ogma ist verlassen und verfallen", warf Artair ein.
    „Das war das Erste, was ich habe überprüfen lassen."



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    „Ja", stimmte Shainara zu.
    „Und dennoch. Das, was Neiyra da beschreibt, ist zweifelsfrei Torh Ogma."



    Sie schüttelte den Kopf.
    „Erzähl weiter."



    „Ich hörte Stimmen", fuhr ich fort, „die offenbar aus einem Nebenraum kamen, und weil ich keine Tür gesehen habe, bin ich durch die Wand geschwebt."



    Herausfordernd sah ich sie an, aber niemand schien das merkwürdig zu finden. Nur Brayan grinste und zwinkerte mir zu.



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    „Ich kam in einen kleineren Raum, mit denselben Schriftzügen, aber die Wände waren roher, aus einer Art zerklüftetem Stein.
    Es gab einen riesigen Kamin, in dem ein großes Feuer brannte, und davor stand ein Kessel auf einem weiteren Feuer.
    Um ihn herum standen drei Frauen, die irgendein Ritual ausführten. Eine der Frauen war Meduria."




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    Neleia sog scharf den Atem ein, und Elaria fuhr sich mit der Hand an den Hals.



    „Beschreib mir, was sie gemacht haben", sagte Shainara, und ich schilderte ihr, was ich gesehen hatte.
    Einige Male fragte sie nach, aber am Ende schüttelte sie enttäuscht den Kopf.



    „Nein", sagte sie bedauernd, „es lässt sich nicht erkennen, was sie da getan haben."



    „Dann kam Runcal herein", setzte ich meinen Bericht fort, „und er und Meduria gerieten in eine Art Streit."



    „Worum ging es?", fragte Artair gespannt.



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    „Er wollte nicht, dass sie ihn berührt", erwiderte ich,
    „Und er warf ihr vor, dass sie ihm alles genommen habe. Und sie erwiderte, dass das wahr sei, aber sie ihm auch alles gegeben hätte, und dass alles seinen Preis habe.
    Sie schien es... zu genießen", sagte ich nachdenklich.




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    Artair kniff die Augen zu und neigte den Kopf zur Seite, und Brayan pfiff leise durch die Zähne.
    „Sieh mal an", sagte er. „Wenn das mal nicht interessant ist."



    „Dann haben sie mich entdeckt", fuhr ich fort, und Shainara sah mich überrascht an.



    „Sie haben Dich gesehen?", fragte sie, und ich nickte.



    „Ja", stimmte ich zu, „alle beide. Es war wie sonst auch, wenn ich Runcal begegnet bin."



    „Haben sie Dir etwas getan?", knurrte Artair, und ich schüttelte den Kopf.



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    „Nein", sagte ich.
    „Runcal hat sich nur in aller Ausführlichkeit darüber ausgelassen, dass ich zwar früher oder später sowieso sterben muss, es ihm aber im Moment noch nicht gelegen käme, weil der schnellste Weg zu Artairs Tod über mich führe."



    Ich sah Artair in die Augen.
    „Und er sagte, dass er mich nur benutzt hat", fügte ich leise hinzu,
    „Dass er mich amüsant gefunden hat."



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    Rasch senkte ich den Blick. Ich wollte das Mitleid in Artairs Augen nicht sehen.



    „Dann bin ich aufgewacht", fuhr ich fort, „und das war´s."



    Shainara wiegte nachdenklich den Kopf.
    „Und gestern Abend?"



    „Gestern Abend stand Noreia vor meiner Tür und wollte das Armband auf meiner Schwelle ablegen, aber als ich die Tür öffnete, hat sie es mir gegeben und mir gesagt, dass ich dir erzählen soll, was ich gesehen habe.
    Und dass es wichtig sei, dass ich in meinen Träumen nach Runcal suche, und dass ich es schaffen werde und meine Aufgabe bei dem Ritual erfüllen werde."



    Shainara sah so verwirrt aus, wie ich mich fühlte.



    „Das ergibt doch keinen Sinn", sagte sie.
    „Neiyra bleibt doch hier und wird beim Ritual gar nicht anwesend sein."


    Ich nickte heftig; dann versuchte ich, mich an den genauen Wortlaut zu erinnern.
    „Sie sagte zu mir: ‚Ihr seid der Anker, der Kern. Ihr seid die, die kommen soll'."



    Tiefe Stille senkte sich über den Raum. Alle starrten mich an.



    „Was ist denn?", stieß ich barsch hervor, aber niemand sagte ein Wort.



    „Ach!" Ich hob meinen Finger. „Und sie sagte: ‚Und sagt Shainara, dass wir dort sein werden'."



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    Shainara stieß einen leisen Schrei aus. „Oh, den Göttern sei Dank!", rief sie.



    „Ich habe ihr eine Nachricht zukommen lassen und sie inständig gebeten, dass die Weisen Frauen und Männer des Alten Volks an dem Ritual teilnehmen und uns helfen.
    Ich hatte nur geringe Hoffnung - das Alte Volk interessiert sich nur selten für Dinge, die außerhalb ihres Waldes und ihres Einflussbereichs geschehen; aber es war Noreia, die Ceard aus diesem Wald gerettet hat.
    Und ich habe das als Zeichen genommen, dass auch das Alte Volk etwas gegen Runcals Rückkehr einzuwenden hat und sie uns deshalb vielleicht beistehen würden."



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    Ihre Augen blitzten.



    „Ihre Hilfe ist von unschätzbarem Wert", sagte sie, und Aufregung lag in ihrer Stimme.
    „Sie haben einen anderen Zugang zu den Göttern und zur Magie, einen, den wir nicht verstehen.
    Ihre Macht und ihre Kraft reicht tiefer, ist grundsätzlicher als unsere."



    Sie legte die Hände aneinander und schloß für einen Moment die Augen.



    „Und Runcal", sagte sie dann, „Runcal hat das Alte Volk und dessen Magie immer abgetan, er hat sie nie ernst genommen.
    Er ist zu hochmütig um anzuerkennen, dass auch Dinge, die er nicht versteht, von großer Bedeutung sein können.
    Und das verschafft uns einen Vorteil."




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    „Allerdings wissen wir immer noch nicht, was Neiyras Aufgabe beim Ritual ist", warf Elaria ein, und ich nickte.



    „Und es schien so wichtig zu sein, dass ich erzähle, was ich gesehen habe."
    Entnervt warf ich die Arme in die Luft.



    „Aber ich habe nichts gesehen."




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    „Doch, das hast du bestimmt." Neleias Stimme klang zuversichtlich.
    „Du kannst es nur noch nicht erkennen."



    „Und deshalb müssen wir deine Begegnung mit Runcal so lange durchgehen, bis wir es gefunden haben", sagte Shainara entschlossen.
    „Schließ Deine Augen und fang nochmal von vorne an."



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    Ich seufzte, tat aber wie geheißen.
    Wieder und wieder erzählte ich, was ich gesehen und gehört hatte; was Meduria getan hatte, was Runcal getan hatte, während Shainara, Elaria und Neleia nachhakten und Einzelheiten erfragten, aber wir kamen zu keinem Ergebnis.



    Schließlich schien es nichts mehr zu geben, was wir noch erörtern konnten, und entmutigt starrte ich auf den Boden.
    Ich konnte spüren, wie Ratlosigkeit sich breitmachte.



    Müde seufzte Shainara auf.



    „Uns läuft die Zeit davon", sagte sie leise. Dann heftete sie den Blick wieder auf mich.
    „Wie war Runcals Stimmung?", wollte sie dann wissen. „Was hattest Du für einen Eindruck?"



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    Ich dachte einen Moment nach.
    „Als er mit Meduria aneinandergeraten ist, war er von kalter Wut erfüllt. Aber sonst..."



    Ich schüttelte den Kopf.



    „Er war entspannt. Überlegen. Sich seiner selbst sicher.
    Er ist durch den Raum geschlendert, hat gegen dieses Kugeldings geschnipst und hatte seine Freude daran, dass diese Funken Angst vor ihm zu haben schienen. Und..."



    „Welches Kugeldings? Welche Funken?", stieß Shainara hervor, und ich hörte die Anspannung in ihren Worten.



    Ich sah sie an. Ich fühlte, wie sich eine tiefe, ruhige Gewissheit in meinem Innern ausbreitete. Das war es.



    „Da war eine große, schwebende Kugel auf einem Sockel", sagte ich langsam.
    „Sie leuchtete bläulich, und in ihr waren blasse Funken und so eine Art wirbelnder Rauch."



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    Die drei Priesterinnen starrten mich an.



    „Das kann nicht sein", hauchte Elaria. „Das ist unmöglich."



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    Personenverzeichnis ~ Stammbaum ~ Karte

  • Juls, ich lese noch und bin immer noch begeistert. Aber für einen geistreichen, informativen oder auch nur lobhudelnden Kommentar reicht meine Energie zur Zeit leider nicht. :(


    Aber ich habs gelesen und will immer noch alles wissen. :D

    You are never more alive than when you're about to lose your pants!



    FS: Sunrise Update: 04.06.19