RocKaNgEl: Weiss ich noch nicht... Jedenfalls noch einige!
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Teil II
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Kapitel 11
Ich fühle mich nicht alt, weil ich so viele Jahre hinter mir habe, sondern weil nur noch so wenige vor mir liegen.
Ephraim Kishon, israelischer Schriftsteller
Der Wind streichelt meine Wangen, während ich entspannt an der Reling stehe. Fast 20 Stunden dauert die Überfahrt zwischen Kiel und Oslo. Genügend Zeit, um sich die Beine zu vertreten und nach der langen Fahrt frische Luft zu schnappen. Nach der Nacht im Auto haben sich die Rückenschmerzen nicht gebessert und ich frage mich langsam, ob ich sie für den Rest der Reise haben werde.
Ich gehe in meine Kabine und wühle in meiner Tasche. Die Tabletten habe ich ganz unten versteckt in der Hoffnung, sie nicht benutzen zu müssen. Doch jetzt überwinde ich meinen inneren Schweinehund und schlucke das Schmerzmittel. Ich will mir die Überfahrt nicht durch sowas vermiesen lassen. Ich höre, wie der Motor zu brummen beginnt und das Schiff in leichte Vibration versetzt.
Die Fähre legt ab als ich das letzte Mal nach meinem Auto sehe. Ich beschliesse es mir irgendwo an Deck gemütlich zu machen und setze mich in eine Art Lounge auf dem zweiten Oberdeck. Zuvor habe ich mir mein Briefekästchen geholt, das ich mir sorgfältig eingepackt hatte. Ich bestelle mir einen Tee Rum und suche nach einem ganz bestimmten Brief.
Meine Cousine hatte mir schon lange nicht mehr geschrieben. Doch nach meiner Diagnose habe ich den Kontakt wieder aufgenommen. Sie ist vor Jahren mit ihrem Mann nach Norwegen ausgewandert. Und jetzt werden wir uns nach der ganzen langen Zeit wiedersehen. Wir werden uns wiedersehen, nur damit ich mich von ihr verabschieden kann. Unwillkürlich schiessen mir Tränen in die Augen. Ich wische sie energisch weg. Ich habe mir vorgenommen, nie meinetwegen zu weinen.
Eine Hand hält mir ein geöffnetes Päckchen Papiertaschentücher unter die Nase. Ich blicke auf und erkenne durch den Tränenschleier einen Herrn in Anzug, der mir aufmunternd zulächelt. „Alles in Ordnung bei ihnen?“ fragt er. Ich nehme danken ein Taschentuch entgegen und trockne mir verstohlen die Wange. „Ja, alles ok, Sie wissen schon, sentimentales Unsinn,“ murmle ich.
„Ist es gestattet?“ fragt der Herr und deutet auf den Sessel gegenüber. Ich nicke und falte den Brief zusammen, ohne ihn nochmals gelesen zu haben. „Fahren Sie auch alleine?“ fragt der Herr und ich nicke. „Schrecklich langweilig, nicht?“ Er blickt zum Fenster hinaus, durch das in der Ferne die Küste langsam verschwindet. „Ich werde sterben“ platzt es plötzlich aus mir heraus.
Im selben Moment frage ich mich, was ich da eigentlich tue. Ich will schon aufstehen und gehen, bevor das ganze noch peinlicher wird, doch der Herr nickt nur. „Ich weiss,“ sagt er ungerührt. Ich starre ihn an. Er lächelt, als er meinen fragenden Gesichtsausdruck sieht. „Glauben Sie mir, Leute wie ich sehen sowas.“ Ich schnaube unwillkürlich. Der Mann winkt entschuldigend ab. „Nein, nein, keine Bange, Sie sehen fantastisch aus! Aber auch wie jemand, der sich bewusst ist, dass er nicht mehr viel Zeit hat auf Erden.“
Ich schaue ihn an und verstehe intuitiv, dass er ganz genau weiss, wovon er spricht. Verlegen greife ich zu meiner Tasse und nippe an dem Tee. „Ich bin Tom“ stellt er sich vor. „Anna“ murmle ich und muss unwillkürlich lächeln. Was für eine absurde Begegnung. Die Fähre brummt unter uns. Draussen am Fenster fliegt eine Möwe vorbei. Tom stützt seinen Kopf in die Hände und schaut mich ruhig an. „Erzählen sie, Anna“.
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