
„Was ist das?“ fragte Celia mit einem Anflug an Neugier, als Varik sie an den Rand eines der felsdurchklüfteten Seen, welche die Eisfestung umschlossen, führte.
Zwei Bäume reckten ihre Äste einander entgegen und bildeten auf diese Weise einen natürlichen Bogen, unter dem sich ein ebenmäßiges, immer heller werdendes Licht ausbreitete.
„Das ist das Tor.“ antwortete Varik. „Das Tor zum Tempel der Finsternis! Ich habe es geöffnet!“
„Ich verstehe nicht!“
Varik trat ganz nahe hinter sie. „Es ist soweit, du hast alles gelernt, was du benötigst. Jetzt wird es Zeit, dieses Wissen anzuwenden, um die zu strafen, die dich so verletzt haben. Geh hindurch, hab keine Angst! Ich werde dir folgen.“
[FONT="]„Wenn du es so willst!“ erwiderte sie kalt und ging entschlossen auf das Licht zu. Varik seufzte einen Moment tief auf. So nah war er nun seinem Ziel, so nah, er sollte triumphieren, doch aus einem Grund, den er nur fühlen, aber nicht näher erklären konnte, gelang ihm das nicht.

[/FONT] Auf der anderen Seite des Tores fand sich Celia vor einer riesigen schwarzen Wand wieder, in die lediglich eine kleine Pforte eingelassen worden war, die sich, kaum dass sie das Licht verlassen hatte, wie zur Einladung öffnete. Ohne Zögern durchschritt sie auch diese und wurde im Innern einer Halle, deren Mauern in den Himmel zu ragen schienen, von einer Frau erwartet, die leicht den Kopf vor ihr neigte.
„Die Dienerin des Gebieters grüßt die zukünftige Herrin!“ sagte sie und deutete hinter sich. „Alles ist bereit und wartet seit langer Zeit auf Euch!“
[FONT="]Ob die derart Angesprochene diese Begrüßung nun erstaunte oder nicht, ließ sich an deren Gesichtsausdruck kaum erkennen. Sie warf der Frau nur einen leicht forschenden Blick zu, bevor sie nickte und ihr gestattete, sie weiter ins Innere der Halle zu führen.

[/FONT][FONT="]Am Ende der Halle stand, eingelassen in ein Wasserbecken, ein kleiner Schrein, vor dem sie Varik bereits stehen sah. Sie wunderte sich weder darüber, wie er die Halle noch vor ihr erreicht hatte, noch woher er die Zeit genommen hatte, ein anderes Gewand anzulegen. Ernst und mit einer gewissen Feierlichkeit in der Miene stand er dort und sah ihr entgegen, als sie an der Seite der Cha-yi über den sternfunkelnden Boden schritt, ohne den seltsamen Statuen zu beiden Seiten auch nur einen Blick zu gönnen. Einen klareren Beweis für ihre Gleichgültigkeit hätte sie Varik gar nicht liefern können.
Als sie die Stufen zu ihm hinauf stieg, beugte er sich vor, reichte ihr die Hand und zog sie regelrecht zu sich hinauf.

[/FONT] „Fürchte dich nicht!“ sagte er nun schon zum zweitenmal und völlig unnötig, und sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Ich fürchte nichts, warum auch! Hast du nicht gesagt, es muss sein?“ Er nickte und betrachtete prüfend ihr regloses Gesicht. Starr sahen die Augen fast durch ihn hindurch. Der Kristallsaal hatte seine Aufgabe mehr als nur zufriedenstellend erfüllt und jedes Gefühl in ihr vollständig getötet. Das leise Bedauern darüber, das er auch diesmal in sich aufsteigen fühlte, musste er ignorieren. Sie war nicht Keyla, sie würde es nie sein, ganz gleich, wie sehr sie ihn an sie erinnerte. Und in seinem Herzen, was davon noch übrig war, gab es nur Platz für sie, seine Prinzessin der Finsternis. Ihre Enkelin, geboren aus dem Verrat an seiner Liebe, würde und durfte nie etwas anderes sein, als ein Werkzeug, dass ihm Rache und Macht sichern sollte, das eine so ersehnt, wie das andere.
„Es wird schnell vorüber sein, und dann hält dich nichts und niemand mehr auf!“
[FONT="]„Nichts und niemand!“ wiederholte sie in einem eigenartigen Ton, bevor sie sich abwandte und langsam zum Schrein hinunter ging und durch den Vorhang trat, der sein Inneres verhüllte.

[/FONT] Varik wandte sich um und sah ihr nach, der große Moment, endlich! Ob Reshanne wusste, dass der Schrein, der eigentlich nie hätte existieren sollen, sich immer noch unversehrt hier in diesem Tempel befand? Oder verließ sie sich darauf, dass es ihrer Vorgängerin gelungen war, ihn zu zerstören?
Manchmal erstaunte es ihn, wie leicht Melynne es ihm gemacht hatte, obwohl bereits sein Vater den brennenden Ehrgeiz in seinem Sohn erkannt und ernsthaft darüber nachgedacht hatte, ihm die Nachfolge als Herr der Finsternis zu verweigern. Es hatte ihn soviel Überredung, soviel Verstellung gekostet, den Vater von diesem verhängnisvollen Schritt abzuhalten. Verstellung, fast sein ganzes Leben war davon geprägt. Was für eine Grausamkeit der Großen Mutter, ihn schon von Geburt an mit Kräften auszustatten, die weit über denen gewöhnlicher Elo-i lagen, der Herrscherin selbst ebenbürtig.
Was für eine Qual, zu wissen, wozu man fähig wäre, was man leisten könnte, und doch niemals die Gelegenheit dazu zu bekommen, stattdessen zuzusehen, wie ein weitaus weniger machtvolles Geschöpf das höchste Amt einnehmen sollte. Hatte nicht die Große Mutter selbst bestimmt, der jeweils mächtigste Elo-i sollte den Thron besteigen? Warum durfte es dann nur eine Frau sein?

Er würde dieses System ändern, er würde das Universum neu gestalten, angefangen bei den Elo-i und ihren starren Regeln. Und er würde sie büßen lassen, für die Schmerzen, die man ihm zugefügt hatte, allen voran Zardon, der seine eigene Tochter getötet hatte, nur um sie von ihm fernzuhalten!
Varik nickte seiner Dienerin zu, die sich darauf hin von ihm entfernte und am gegenüberliegenden Ende des Schreins aufstellte. Er allein wäre nicht fähig, ein stabiles Energiefeld aufzubauen, welches die Kräfte des Schreins aktivierte. Nur dafür war diese Cha-yi von ihm ausgewählt und ausgebildet worden, um Hüterin dieses Schreins und seiner dunklen Kräfte zu sein.
Beide richteten ihre Handflächen gegen einander und augenblicklich brach die Energie aus ihnen hervor, tänzelte vor ihnen herum und wurde schließlich von dem Schrein angezogen wie ein Magnet und eingesaugt.
[FONT="]Aus dem Innern hörten sie einen langgezogenen schrillen Schrei, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließe, so sie denn welches hätten. Ja, die Transformation war selbst für Elo-i, welche Schmerzen längst nicht so stark empfanden wie die Menschen, nicht gerade angenehm. [/FONT]
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zu Teil 2