
Zur gleichen Zeit aber tauchte ein weiterer, diesmal aber unangekündigter Besuch vor den Toren des Tempels auf.
„Seltsam!“ meinte Zaide zu ihrer Schwester. „Müsste nicht wenigstens eine von Zardons Cha-yi kommen und dich begrüßen, wenn er selbst nicht da ist.“
„Ja, so müsste es sein!“ antwortete Reshanne und ließ den Blick über den hellerleuchteten Tempel schweifen. Zardon hatte sich heute kurzfristig im Rat entschuldigen lassen und so hatte sie beschlossen, ihn gemeinsam mit ihrer Schwester in seinem eigenen Heiligtum aufzusuchen. Normalerweise tat sie das niemals unangemeldet, selbst wenn es ihr als Herrscherin natürlich zustand, gerade diesen Tempel aufzusuchen, wann immer sie es wünschte. Doch die Zeit drängte ebenso wie so mancherlei Frage nach einer Antwort verlangte.
„Spürst du das auch!“ stieß sie nach einer Weile hervor und Zaide nickte.
„Hier stimmt etwas nicht. Ich weiß nicht was, aber da ist etwas, das hier nicht sein sollte. Ob ihm etwas zugestoßen ist? Varik.... womöglich....?“
[FONT="]„Nein!“ Reshanne schüttelte energisch den Kopf. „Überall, nur nicht hier! Nein, es ist etwas anderes! Komm!“

[/FONT] Ihre Ahnung trog sie nicht, wie sie nur wenig später entsetzt feststellen musste, als sie an der Seite ihrer Schwester die Halle der Quelle betrat. Das blaue Flamme brannte, Zardon stand neben dem Abbild der Großen Mutter, ihm gegenüber schickte sich ein Mensch, oder vielmehr das, was einmal ein Mensch gewesen war, an, in das Wasser der Quelle einzutauchen.
„Sofort aufhören!“ befahl sie mit donnernder Stimme, das Bein des Mannes blieb in der Luft hängen, als er sich nach ihr umdrehte. Und auch die neben ihm stehende Cha-yi fuhr mit einem leisen Schrei herum.
„Was fällt dir ein, Zardon?“ rief sie zu ihm hinüber, als er keine Anstalten machte, zu ihr zu kommen. Vollkommen reglos stand er da, Enttäuschung auf seinem Gesicht und, das machte vor allem Zaide stutzig, Verzweiflung in seinem Herzen.
„Was hat ein Mensch ohne meine Erlaubnis in dieser Halle zu suchen? Ich glaube, du schuldest mir eine Erklärung!“ Und nicht nur eine, dachte Reshanne bei sich, während sie ihre Aufmerksamkeit auf den Mann am Beckenrand richtete. „Du da! Du kommst sofort nach oben!“
[FONT="]Zaide legte ihr die Hand auf den Arm und meinte: „Ihn überlass ruhig mir, sprich du mit Zardon!“

[/FONT] Während Reshanne Zardon mit einer mehr als herrischen Geste zu sich beorderte, und sich zur Seite wandte, ging Zaide nach unten. Schon als sie den ersten Schritt auf den jungen Mann zumachte, wusste sie, wen sie vor sich hatte. Es konnte gar nicht anders sein. Allein diese strahlenden Augen in ihrer für Menschen so ungewöhnlichen Farbe, die ihr nun fasziniert aber auch bang entgegensahen, würden ihn schon verraten, doch sie spürte noch so viel mehr Vertrautes in ihm, so vieles, was süße und gleichzeitig qualvolle Erinnerungen in ihr wachrief, dass sie gar nicht anders konnte, sie lächelte ihn mit solcher Güte an, dass fast augenblicklich jegliche Sorge aus seinem Gesicht verschwand.
„Du bist also Nicolas Blandfort!“ meinte sie, und er nickte, unfähig, etwas zu sagen. „Wir hätten uns schon eher kennenlernen sollen. Ich bin Zaide, Celias Mutter!“
„Du bist..... Seine ohnehin schon großen Augen weiteten sich noch mehr vor Erstaunen.
„Ja Nicolas! Ich bin die Herrin der Seelen! Und nach euren Vorstellungen bin ich auch deine Tante, so wie Celia deine Cousine ist.“
[FONT="]„Ähm, ja, ich....“ weiß, hatte er sagen wollen, sich aber dann noch rechtzeitig daran erinnert, dass sowohl Keyla als auch Zardon ihm eingetrichtert hatten, niemandem von ihrer Existenz zu erzählen, schon gar keiner Elo-i, und wenn sie auch so liebenswürdig schien, wie diese. Celias Mutter, nun, er hatte sich die erste Begegnung mit seiner zukünftigen Schwiegermutter ein wenig anders vorgestellt. Ob er sie wohl nach Celia fragen konnte?

[/FONT] Während sich Nicolas und Zaide voneinander angetan unterhielten und Theris sich wohlweislich entfernt hatte, musste sich Zardon der leidigen Aufgabe stellen, Reshanne zu erklären, was er da gerade zu tun beabsichtigte. Immerhin hatte er seinen Plan nicht mit ihr abgestimmt, geschweige denn sie um Erlaubnis gebeten, was er genaugenommen hätte tun sollen. Dieser Ort war nicht nur der Hort des Lebens, er war gerade für die Herrscherinnen von immenser Bedeutung, was ihm Reshanne gerade sehr verdeutlichte, indem sie stumm seinen Erklärungsversuchen lauschte und dabei starr auf die Statue vor ihr sah.
„Du hast also von Anfang an gewusst, wie man Celia zurückholen und Varik ausschalten kann, und es für dich behalten!“ konstatierte sie bitter. „Du lässt uns alle händeringend nach einer Lösung suchen, und verfolgst stattdessen eigene Pläne. Und währenddessen ist Varik immer mehr erstarkt und erschafft aus dem armen Ding ein Wesen, das uns alle vernichten wird. Wie konntest du das zulassen? Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt, schon an dem Tag, als du dich endlich entschlossen hast, mich über deine Verwandtschaft mit Celia aufzuklären?
Zardon wusste darauf nichts zu erwidern, denn Reshanne hatte natürlich recht, er hätte ihr die Wahrheit sagen müssen, die ganze Wahrheit! Nur wie, ohne sein Kind zu verraten?
[FONT="]„Nun?“ fragte Reshanne ungeduldig, wandte sich ab und verließ die Quelle, nicht ohne Zardon unmissverständlich klar zu machen, dass er ihr zu folgen habe und sie eine Antwort von ihm erwartete.

[/FONT] Auch Zaide und Nicolas begaben sich, nachdem sie Reshannes Weggang bemerkt hatten, nach oben. Auf dem Weg zur Tür blieb Nicolas stehen, und sah zu den Statuen hinüber, vor denen Reshanne eben noch selbst gestanden hatte. Zaide folgte seinem Blick, ging darauf zu und fragte: „Hat Zardon dir erzählt, was es damit auf sich hat?“
Überrascht sah er sie an, las sie etwa seine Gedanken.
„Ja, das tue ich.“
„Können das alle Elo-i?“
„Nein, nur die Mächtigsten unter uns.“
Die Mächtigsten, so wie Celia, dachte er.
„Ja, so wie Celia.“ bestätigte sie. „Doch als Mensch hatte sie die Fähigkeit verloren.“ Sie lächelte traurig, und er wusste, was sie ihm damit sagen wollte.
„Jede der schwarzen Statuen steht für eine vergangene Herrscherin. In ihrem Sockel wird in einem speziellen Schrein ein kleiner Rest an Energie der jeweiligen Herrscherin aufbewahrt, wenn sie von hier aus ihre letzte Reise antritt, wodurch dieser Ort seine Kraft erhält und bewahrt. Immer wenn eine neue Herrscherin ihr Amt antritt, wird eine neue weiße Statue aufgestellt, die auf sie wartet, bis ihre Zeit gekommen ist. So wie jene auf der anderen Seite für Reshanne aufgestellt worden ist.“
„Und warum ist die hier in der Mitte so hervorgehoben, die Blumen, die Säulen, die Kerzen?“
[FONT="]„Diese war die allererste, sie gehört der Großen Mutter, von der wir alle abstammen.“ Lächelnd wehrte Zaide weitere Fragen ab, denn im Augenblick drängte es sie, zu erfahren, was Zardon mit dem armen jungen Mann vorgehabt hatte.

[/FONT] Reshanne, die das inzwischen wusste, war mit Zardon in die Große Halle zurückgekehrt.
„Angenommen, ich unterstelle dir die besten Absichten!“ sagte sie gerade. „Angenommen, du hättest damit Erfolg, so stellt sich mir doch die Frage, ob du deinen Plan auch bis zum Ende durchdacht hast?“ Zardon kam gar nicht dazu, ihr eine Antwort zu geben. Er vermochte ohnehin nur aus ihrem Tonfall erahnen, wie verstimmt die Gebieterin wirklich war, weil sie sich vollständig gegen ihn abschottete. Doch er kannte sie gut genug, um gerade aus der sanften Stimme nur die schlimmsten Schlüsse zu ziehen. „Wenn du mit Hilfe dieses Menschen die Vereinigung mit Celia vollziehst,“ fuhr sie fort. „Wer soll denn dann dein Amt übernehmen, Ranyia kann die Traumwelt nicht einfach jemand anderem überlassen?“
Das war die Frage aller Fragen. Und im Grunde hatte er ja längst die richtige Antwort parat. Dies war die beste Chance, Reshanne endlich alles zu beichten, und ihr die Zustimmung zu Keylas Rückkehr abzuringen. Dennoch entschied er sich in letzter Sekunde dagegen. Gerade jetzt bot ihre Welt keinen Schutz vor Varik, so verrückt es sich in seinen Ohren anhörte, doch in der Welt der Menschen war seine Tochter im Augenblick am sichersten. Solange Varik nicht ausgeschalten war, durfte er keine Möglichkeit bekommen, Keyla zu erreichen. Erst nach seiner Vernichtung würde Reshanne gar nicht mehr anders können, als Keyla die Rückkehr zu erlauben.

„Nun?“ fragte Reshanne und sah ihn spöttisch an. „Hattest du das vielleicht in deinen Überlegungen vergessen?“
„Nein, ganz und gar nicht!“ widersprach er. „Da gab und gibt es nur eine einzige logische Wahl.“
„Und die wäre?“
Zardon neigte den Kopf, als müsse er sich erst dazu durchringen, den Namen zu nennen, und da wusste sie es.
„Nein!“ rief sie aufgebracht. „Niemals! Das hat Melynne schon bei deiner Tochter verboten und das aus gutem Grund!“
„Und das war ein Fehler, wie wir alle ja wohl inzwischen wissen. Überleg doch mal, Reshanne, ein Wesen mit solcher Macht muss auf unserer Seite sein, und wo wäre sie besser aufgehoben als hier, im Schutz all deiner Vorgängerinnen. Meine Güte, sie könnte jeden von uns ersetzen, selbst dich!“
„Um so mehr ein Grund, ihr nicht noch mehr Macht zu geben! Herrin des Lebens! Das fehlte noch!“ Beinahe kraftlos fiel sie auf den Thonsessel und lachte kurz in einem Anfall von Hysterie auf.

„Aber Schwester, was soll denn dann mit ihr geschehen?“ rief Zaide, die gerade hinzugekommen war. „Du kannst sie doch nicht genauso verbannen, wie Melynne es mit Keyla getan hat.“
„Doch das kann ich!“ sagte Reshanne. „Und ich werde es. Celia wird, wenn sie Variks Einfluss entrissen ist, ihre Fähigkeiten aufgeben und in die Menschenwelt zurückkehren.“
„Aber dann wird sie sterben!“ Verzweifelt warf Zaide sich der Schwester zu Füßen. „Bitte, das darfst du nicht tun!“
So unbewegt sie nur konnte, sah Reshanne über beider Köpfe hinweg.
„Solange du mir keinen besseren Weg nennen kannst, der nicht unsere ganze Existenz erneut gefährdet, verbiete ich die Vereinigung mit diesem Menschen. Und diesmal wirst du tun, was ich von dir verlange, oder ich werde dich selbst verbannen! Ich habe es satt, dass jeder tut, was er für richtig hält. Dies ist keine Menschendemokratie. Unser System ist uralt, und ich werde nicht länger dulden, dass es von wem auch immer unterlaufen wird! Die Seele dieses Menschen wird Zaide in den Tempel der Ewigkeit bringen, der einzige Ort, wo er in unserer Welt hingehört, sein Körper wird von mir selbst verwahrt. Dies ist mein letztes Wort!“
+++