29.
Sie hatte eine Weile nach einem Parkplatz suchen müssen und war dann vor lauter Aufregung kaum in die einzige enge Parklücke gekommen. Nachdem sie Blut und Wasser geschwitzt hatte, schaffte sie es letztlich doch, den Wagen ohne eine Schramme zu parken.
Es waren einige hundert Meter zum Krankenhaus zurück zu legen, die sie so schnell es ihre zittrigen Beine zuließen hinter sich brachte.
In letzter Minute hatte sie zu Hause noch daran gedacht, die Pfanne vom Herd zu nehmen und ihn auszustellen.
Dafür war sie noch einmal zurück ins Haus gesprintet und es schien ihr, als haben ihr Herz und ihr Atem sich davon immer noch erholt, so schnell pochte ersteres zwischen ihren Rippen und so schwer hob und senkte sich ihre Brust. Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können, wäre sie nicht noch einmal zurück gerannt…
Während sie durch den kalten, dunklen Novemberabend eilte, schossen ihr Unmengen an diffusen Gedanken und Fragen durch den Kopf, die sich wie ein schwerer Stein in ihrem Herz abzulagern schienen und sie nach unten zu ziehen drohten.
Was war geschehen? Wo und wann und wie?
Sie sah etliche Bilder vor ihrem inneren Auge, ein Horrorszenario schlimmer das andere.
Seit Jahren war genau solch ein Anruf ihre größte Angst gewesen – wie auch nicht? Ging es nicht vielen Menschen so, Angst davor zu haben, das Liebste auf der Welt zu verlieren?
Eileen schluckte, während sie auf ihren hohen Haken zittrig weiter hastete.
All das erinnerte sie furchtbar an jenen Tag vor vielen Monaten, als man ihr gesagt hatte, dass das Leben in ihrem Bauch verwelkt war.
Das innerliche Erstarren schien auch jetzt wieder Besitz von ihr zu ergreifen. Ein Augenblick, der alles verändern konnte, und noch wusste sie nicht, in welche Richtung dieser Weg führte.
Sie atmete keuchend aus, als sie endlich das Krankenhaus erreicht hatte. Das Licht der fahlen Laternen spiegelte sich auf zwei vor dem Haupteingang parkenden Krankenwagen. Für einen Moment fragte sich Eileen, ob einer von ihnen ihren Noch-Mann wohl hergebracht hatte?
Was war in seinem Inneren geschehen? Ihr Herz pochte ihr laut in den Ohren vor Aufregung und Angst.
Als sie auf die Eingangshalle zuging, durchzuckte sie für einen kleinen Augenblick der Gedanke, dass sie ja eigentlich gar nicht so aufgeregt zu sein brauchte, dass sie vielleicht noch nicht einmal hätte kommen müssen – oder sollen? Schließlich waren sie „eigentlich“ ja gar nicht mehr Mann und Frau in eben jenem Sinne, den die Schwestern beim Durchforsten von Marcels Geldbeutel und dem Finden ihrer Daten vorausgesetzt hatten.
Doch dann wischte sie diese Gedanken fort; vielmehr verschwanden sie ohne ihr Zutun sofort von selbst und für einen weiteren Augenblick schämte sie sich ihrer sogar.
Es war im Moment nicht wichtig, darüber nachzudenken, wie der Stand zwischen ihnen war, wie es weitergehen sollte- im Augenblick zählte nur, dass es Marcel gut ging oder dass er zumindest nicht lebensgefährlich verletzt worden war.
Eileen eilte wie automatisch dem Schilderdickicht durch die Klinik hinterher, verlief sich zweimal, eilte wieder zurück, schien eine kleine Ewigkeit auf den Fahrstuhl zu warten und kam letztlich endlich auf der richtigen Station an.
Keuchend folgte sie dem Licht, das aus einem am Ende des langen Flures gelegenen Zimmer mit Glasscheiben kam.
Im Krankenhaus war es ruhig, die Nachtruhe hatte sich bereits über die Flure gelegt. Nur aus ein oder zwei Zimmern waren die gedämpften Geräusche eines Fernsehers zu vernehmen.
Eileen klopfte vorsichtig an die Glastür, die zu dem Schwesternzimmer führte. Eine hellblonde Frau erhob sich, öffnete die Türe und fragte freundlich:
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Ja – ich… Sie haben mich angerufen, wegen meines Mannes.“
„Ach, Sie sind Frau Viersen, richtig?“
Eileen nickte.
„Geht es ihm gut?“, fragte sie schnell.
„Den Umständen entsprechend ja“, erwiderte die Schwester und als sie sah, wie kreidebleich Eileen wurde, berührte sie sanft deren Arm und sagte: „Keine Angst, es ist nicht schlimm, Sie müssen sich nicht sorgen. Sie sind ja ganz blass. Vielleicht sollten Sie sich besser setzen.“
Und sanft führte sie Eileen zu einem Stuhl.
„Was… können Sie mir sagen, was geschehen ist?“, fragte Eileen und schluckte gegen den trockenen Hals an. Ihr war furchtbar schwindelig.
Die Schwester nickte. „Ja, ihm muss jemand die Vorfahrt an der Kreuzung genommen haben, die Polizei wusste aber noch nichts Genaues.“
„Er… war er zu Fuß unterwegs?“, fragte Eileen verwirrt und dachte im gleichen Moment daran, dass diese Frage Unsinn war, schließlich hatte die Schwester von Vorfahrt gesprochen.
„Nein, er war im Auto unterwegs“, beantwortete die Schwester ihre Frage jedoch sanft und tat, als habe sie den Widerspruch darin nicht bemerkt. „Der Fahrer des anderen Wagens kam von links und ist mit recht hoher Geschwindigkeit in die Seite des Wagens Ihres Mannes gerauscht.“
„Was… was ist jetzt mit ihm?“, fragte Eileen.
„Er hatte eine Weile das Bewusstsein verloren“, erwiderte die Schwester. „Aber seit einigen Minuten ist er wieder wach. Er hat nur relativ leichte Verletzungen, die Untersuchungen sind jedoch noch nicht ganz abgeschlossen. Er ist noch drüben im Untersuchungsraum, und wenn der Arzt fertig ist, wird er herkommen und Ihnen alles erklären.“
Eileen nickte und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen, um gegen den Schwindel und die Übelkeit anzukommen.
„Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“, fragte die Schwester besorgt.
„Ja… ja, gerne“, erwiderte Eileen dankbar und sah ihr zu, wie sie aus einem kleinen Schrank ein Glas nahm und es an dem neben dem Fenster angebrachten kleinen, metallenen Waschbecken mit Wasser füllte. Sanft reichte sie es Eileen, die es in kleinen Schlucken leerte und spürte, dass der Schwindel ein klein wenig zurück ging.
„Frau Viersen, wir bräuchten noch einige Angaben – da Ihr Mann nicht ansprechbar war, als wir ihn einlieferten, wissen wir nur wenig.“
Sie wandte sich ihrem Schreibzeug zu und begann Eileen Fragen nach Marcels Versicherung, nach bekannten Allergien, Erkrankungen und Medikamenten zu fragen.
Eileen gab ihr so weit sie konnte Auskunft und fragte sich dabei mehrmals, ob sie denn eigentlich noch auf dem aktuellen Stand war?
Aber in zwei Monaten würde Marcel wohl kaum die Krankenversicherung gewechselt und etliche Allergieschübe bekommen oder Medikamente eingenommen haben.
Dennoch quälte sie die Frage, ob sie der Schwester nicht sagen sollte, dass sie und Marcel eigentlich getrennt waren.
Aus irgendeinem Grund schaffte sie dies jedoch nicht zuzugeben und blieb darum einfach, nachdem die Schwester alle Auskünfte bekommen hatte, still und versunken sitzen.
Plötzlich klingelte das interne Telefon, das neben der Schwester auf dem Schreibtisch stand. Eileen hörte sie sagen: „Ja, sie ist hier…“, dann – nach einer Weile Schweigen – „ach so, das wusste ich nicht. Ja, gib mir die Nummer. Ja, ich kann da anrufen.“ Sie warf Eileen einen seltsamen Blick zu.
„Aber… Frau Viersen ist auch hier“, setzte sie dann an und machte dabei einen bedeutungsvollen Blick, als könne ihr Gesprächspartner diesen durchs Telefon sehen und deuten.
Eileen merkte, wie ihr heiß und kalt wurde und kleine Pünktchen vor ihren Augen zu tanzen begannen.
Die Schwester legte auf und wandte sich Eileen zu, die sich nun aus irgendeinem Grund dazu genötigt fühlte, sich zu erheben, obwohl ihre Beine sich wie Pudding anfühlten.
„Frau Viersen, das war eben der Arzt. Er…“
„Wie geht es ihm? Ich meine, wie geht es meinem Mann?“, fiel ihr Eileen ins Wort und biss sich auf die Lippen. Ihr Mund war so furchtbar trocken, egal wie sehr sie dagegen anschluckte.
„Gut, es ist alles soweit in Ordnung“, beruhigte die Schwester sie. „Er hat nur einige leichtere Verletzungen und Prellungen und eine böse Gehirnerschütterung, die natürlich beobachtet werden muss. Aber… nachdem er wieder das Bewusstsein erlangt hat, bat er den Arzt darum, jemanden anzurufen und herzubestellen.“
Sie machte eine Pause, als hoffe sie, dass Eileen den Satz für sie vollendete.
Diese schwieg eine Weile und sagte dann leise und müde: „Ja, ich vermute, er möchte, dass eine gewisse Bettina angerufen wird…“
Die Schwester nickte.
„Ja, es tut mir leid, dass… Frau Viersen, ist alles in Ordnung?“
Eileen nickte, obwohl die Punkte vor ihren Augen nun zu flattern begannen. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken, überstürzten sich, vermischten sich mit dem Gefühl aus Erleichterung, dass es Marcel gut ging, aus Schock, dass sie überhaupt hier war, aus Scham, dass sie sich vor der Schwester so bloßstellen lassen musste.
Sie wollte nur noch so schnell es geht weg von hier, nach Hause.
„Ich… ich muss nach Hause“, stammelte sie darum und ging in Richtung der Tür.
„Frau Viersen… Frau Viersen, warten Sie. Sie sollten…“
Die Stimme der Frau wurde immer dumpfer und seltsam dunkel. Eileen hörte, wie eine Tür ins Schloss fiel und drehte den Kopf. Verschwommen sah die Silhouette eines Mannes auf sie zukommen.
„Ich… muss nach Hause“, sagte sie noch einmal, aber ihre Knie wollten sie nicht mehr tragen.
Das letzte, was sie vernahm war, wie jemand ihren Namen rief, dann wurde es dankbar schwarz, dunkel und ruhig um sie.
Fortsetzung folgt.