Kapitel 71
Auf dem Prüfstand
Es war draußen bereits dunkel, als Tessa in den warmen, hellen Flur von Monikas Wohnung trat.
„He Tessa“, lächelte Monika sie an. „Ich hab uns einen Salat gemacht, für mehr hat die Zeit nicht mehr gereicht, sorry.“
Tessa lächelte zurück und hängte ihre Jacke auf. „Ach Moni, ich bitte dich. Ich habe dich ja schließlich so überfallen mit dem Besuch, obwohl du heute gearbeitet hast. Du hättest überhaupt nichts kochen müssen.“
„Hab ich ja auch nicht“, zwinkerte Monika. „Es ist ja nur Salat. Oder kochst du den etwa?“
Tessa lachte leise auf und folgte Monika in ihr gemütliches Wohnzimmer, wo beide an dem kleinen Esstisch Platz nahmen, auf dem bereits zwei Teller mit Salat standen.
Tessa spürte, wie ihr Magen knurrte und fing sofort zu essen an, während Moni den Salat noch nachdenklich anstarrte. „Ich hoffe, es ist reichlich“, murmelte sie.

„Nun mach dir keine Gedanken“, beruhigte Tessa sie und biss auf die knackigen Blätter, und Moni tat es ihr nach.
„Was ist los, Tessa?“, sagte sie nach einigen Bissen und sah ihre Freundin aufmerksam an. „Du siehst ziemlich fertig aus. Hast du zu wenig geschlafen?“
Tessa nickte. „Das kannst du laut sagen“, murmelte sie dann und schluckte den Salat hinunter. „Ich fühl mich gar nicht gut, Moni. Deswegen bin ich auch her gekommen. Ich habe heute Mittag Joshua getroffen…“
„Ach, darum also?“, fragte Monika und sah ihre Freundin überrascht an. „Das nimmt dich so mit?“
„Nein“, erwiderte Tessa schnell. „Nein, wenn es nur das wäre.“

„Dann ist es wegen Jess?“, fragte Monika weiter.
Tessa nickte. „Ja… ach, Moni, es ist so schwer… ich meine, nicht zu wissen, was mit ihm geschieht. Wie es ihm geht, was er macht…“
Monika seufzte. „Ich kann mir das gut vorstellen“, sagte sie dann langsam. „Aber ich hab dir doch schon ein paar Mal gesagt, deine Sorgen sind sicher unbegründet. Wenn etwas wäre, würde man dich benachrichtigen.“
Tessa schluckte und sah sie schuld bewusst an. „Ich gehe dir sicherlich auf die Nerven, dir ständig die selbe Litanei herunter zu beten. Tut mir leid. Es war Joshuas Idee, dass ich heute zu dir oder Feli gehen soll, um mich abzulenken…“
Moni schüttelte schnell den Kopf und beeilte sich zu sagen. „Aber nein, Tessa, so meine ich das nicht. Natürlich fällst du mir nicht auf die Nerven! Und Joshua hat gut daran getan, dir diesen Tip zu geben, denn bestimmt sitzt du sonst nur zu Haus und deine Gedanken fahren Karussell, oder?“

Tessa nickte. „Ja… das stimmt schon. Aber ich verstehe mich selbst nicht mehr, Moni. Ich… ich meine… eigentlich sieht doch alles so gut aus. Und Jess wird das schon schaffen. Ich müsste ihm vertrauen. Und ich hab ihm versprochen, mich nicht irre zu machen…“
Sie sah Monika hilflos an. „Aber ich schaff das nicht. Ich träume von ihm. Immer wieder hab ich Albträume, was alles passiert. Ich sehe die Bilder von damals wieder vor mir. Ich weiß, wie schlimm so ein Entzug sein kann. Und das ist es, was mich nicht los lässt. Ich wäre so gerne bei ihm. Würde ihm helfen. Und komme mir schäbig dabei vor, ihn ausgerechnet jetzt allein zu lassen.“
„Er ist nicht allein“, warf Monika vorsichtig ein. „Er wird betreut, professioneller und besser als du es je könntest.“
Tessa seufzte. „Ja, ich weiß… aber dennoch. Ich meine, wenn wir krank sind, wollen wir auch, dass liebe Menschen bei uns sind, oder? Ich meine… ach, ich weiß auch nicht…“

Sie ließ die Schultern hängen und legte die Gabel beiseite, als fehle es ihr plötzlich an Appetit.
„Ich fühl mich so leer, Moni. Ich bin so müde. Ich kann nicht mehr schlafen und ich kann irgendwie auch kaum noch essen. Mir ist alles zu viel. Die Uni vor allem… ich… muss dieses blöde Referat fertig kriegen und weiß nicht, wie. Ich hab keine Konzentration mehr. Auch wenn Joshua mir helfen will, ich schaff das in dieser Situation nie. Ich brauch eine Pause.“
Sie schluckte. „Ich brauch einfach eine Auszeit.“
Moni sah sie irritiert an. „Was meinst du damit?“
Tessa schwieg und starrte auf ihren Teller.
„Es dauert schon noch etwas bis zu den nächsten Ferien“, begann Monika vorsichtig. „Aber das schaffst du schon. Und bis dahin sieht die Welt ganz anders aus.“
„Das meine ich nicht“, erwiderte Tessa. „Ich kann jetzt nicht mehr. Jetzt in diesem Moment. Ich überlege, ob ich nicht ein Semester pausiere…“
Sie wagte es nicht, Moni anzublicken, als sie wieder zur Gabel griff und schnell weiter sprach. „Weißt du, ich will mir doch auch noch einen Job suchen… ich will nicht von meinen Eltern leben… das geht nicht lange gut und… das ist mir alles zu viel auf einmal.“
Sie wandte den Blick ab und starrte zum gegenüberliegenden Fenster hinaus.

Moni sagte einen Moment nichts, dann erwiderte sie ruhig: „Tessa… du armes Ding. Du bist ja völlig fertig.“
Sie sah ihre Freundin gütig an. „Hör mal… ich sag dir jetzt mal was, auch wenn´s dir nicht gefallen mag. Ja, du bist ausgebrannt. Und ja, ich kann gut verstehen, wenn du jetzt an eine Pause denkst. Und wenn du gar nicht mehr kannst, dann steht dir das auch zu. Aber manchmal gibt es auch Durststrecken, das brauche ich dir nicht zu sagen. Vergiss erstmal den Job. Du hast genug mit der Uni zu tun. Verschieb es bis zu den Ferien, schau dich dann nach einem Ferienjob um, das ist schon mal ein Anfang. Du hast im Moment genug anderes zu tun. Geh in kleinen Schritten.“
„Hast du zufällig mit Joshua gesprochen?“, murmelte Tessa und Moni sah sie verständnislos an, redete dann aber unbeirrt weiter: „Du machst einen riesigen Fehler, Tessa. Du verstehst Jess´ Bitte an dich, dich nicht gehen zu lassen, falsch. Hat er nicht auch gesagt, dass du nicht immer stark sein musst? Das hat er nämlich. Nur gehst du falsch damit um, wenn du mich fragst. Du darfst weinen. Du darfst dich auch leer fühlen und erschöpft. Aber du fühlst dich deswegen so, weil du dich schuldig fühlst. Weil du denkst, dass du ihn im Stich lässt, nur weil du nicht bei ihm bist. Wie unsinnig das ist, brauche ich dir nicht zu sagen. Jess meinte, du sollst dich nicht völlig verrückt machen, aber du darfst auch schwach sein. Das bedeutet für mich, er hat dich darauf aufmerksam machen wollen, dass du dich in diesen Wochen der Trennung vor allem um DICH kümmern sollst. Und nicht um ihn. Denn das tun andere.“

Tessa schluckte und sah Moni verwirrt an. „Was meinst du denn damit?“
„Ich meine damit nur, dass du keine Verantwortung für ihn trägst. Das versuchst du nämlich schon die ganze Zeit. Das hast du früher auch versucht. Aber er ist nicht dein Kind, Tessa. Er ist ein eigenständiges Wesen, eine Person. Er hat es in die Hand genommen, also lass es ihn tun. Hilf ihm, wo du kannst, ja. Sei für ihn da – ja. Alles völlig in Ordnung soweit. Aber klammer dich nicht an die Vorstellung, dass du ihn retten musst.“
„Das tu ich doch gar nicht“, rief Tessa trotzig. „Ich mache mir nur Sorgen, das ist alles. Wer würde das nicht?“
„Jeder würde das“, beschwichtige Moni sie. „Es ist natürlich. Aber du machst dir nicht nur Sorgen, du machst dich verrückt, weil du nicht da sein kannst. Weil du denkst, die Kontrolle zu verlieren. Weil du Angst hast, es könnte doch noch etwas schiefgehen und du kannst es aufgrund der Trennung nicht beeinflussen. Aber das könntest du ohnehin nicht. Das weißt du. Entweder er hat die Kraft oder nicht.“
„Das sagt sich so leicht“, murmelte Tessa.
„Ja, das tut es. Aber ich wünschte, ich hätte diese Perspektive gehabt“, gab Moni leicht verbittert zurück und Tessa sah sie schuldbewusst an. „Es tut mir leid“, sagte sie leise. „Aber denkst du wirklich, ich klammere?“

„Nun, nicht im herkömmlichen Sinn“, gab Moni versöhnlich zur Antwort. „Aber irgendwie schon. Du fühlst dich für ihn verantwortlich, obwohl du es nicht bist. Du darfst ja Angst haben, dich sorgen und sehnsüchtig sein. Es ist keine leichte Situation, in der du bist. Aber du darfst dich nicht in etwas hinein steigern, Tessa. Denn wie soll eure Beziehung danach weitergehen, wenn du immer alles für ihn übernehmen willst? Er ist ein Mann, vergiss das nicht. Er will auch stark sein dürfen, dich schützen.“
Tessa schluckte. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen“, gab sie dann zu. „So kenne ich Jess irgendwie nicht. Ich meine… ich habe mich immer um ihn gesorgt und er… er war nie genug bei sich, um…“
„Ja, ich weiß“, erwiderte Monika. „Aber wenn alles glatt läuft, wird sich eure Beziehung komplett neu ordnen müssen. Und es ist wichtig, dass du lernst, ihm genauso viel Verantwortung zuzugestehen, wie du auch ihm gegenüber hast. Und damit musst du jetzt anfangen. Jess hat dich da schon richtig eingeschätzt, seinen Worten an dich nach zu schließen. Das meinte er damit, dass du dich nicht aufgeben sollst oder verrennen und trotzdem schwach sein darfst. Lass deine Gefühle zu. Weine, wenn dir danach ist, ja. Aber nicht aus Kummer darüber, nicht genug für ihn da sein zu können, sondern aus Angst oder Sehnsucht.“

Tessa atmete tief ein. „Ich weiß nicht…“
„Denk einfach in Ruhe darüber nach“, erwiderte Monika sanft. „Und lass dir auch mit der Entscheidung wegen der Uni Zeit. Sowas entscheidet man nicht so hoppla-hopp. Wenn ich du wäre, würde ich jetzt erst einmal versuchen, weiter zu machen. Und wenn es gar nicht mehr geht, dann nimm dir ein paar Tage Auszeit und schau danach weiter. Es geht doch um deine Zukunft, Tessa. Und vielleicht brauchst du das Semester mal ganz dringend, weil du im Laufe des Studiums von anderen Dingen aufgehalten wirst. Was, wenn du mal richtig krank wirst und deswegen aussetzen musst? Solche Entscheidungen müssen gut bedacht werden.“
Tessa nickte. „Ja, du hast wohl recht.“
*geht noch weiter*