Kapitel 75
Außen und innen
Draußen schien die Sonne und es war warm. Tessa stand nachdenklich am Fenster und blickte über die Dächer der Stadt in den strahlend blauen Himmel. Es war ein perfekter Tag, um nach draußen zu gehen. Doch heute war dafür keine Zeit.
Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um und atmete tief durch. Den ganzen gestrigen Abend hatte sie damit verbracht, sämtliche Tapeten von den Wänden zu ziehen, nachdem Joshua und Moni ihr zuvor damit geholfen hatten, die Möbel aus dem Zimmer zu schleifen.
Sie lagerten jetzt allesamt im Keller, wo Tessa wie alle Parteien eine recht großzügige Parzelle besaß, in der neben einigen gammligen Umzugskartons und ihrem Fahrrad nichts zu finden war.
Joshua hatte gehalten, was er versprochen hatte. Es war zwar etwas über ihr Budget gegangen, doch über etliche Beziehungen und Geheimtips hatte er es geschafft, ihr einige neue Möbel und Wandfarben zu besorgen. Noch konnte Tessa sich nicht im Geringsten vorstellen, wie das alles zusammen ausschauen und wirken würde. Einige ihrer alten Möbel sollten auch bleiben. Und doch, alleine schon dass das Wohnzimmer praktisch entkernt war, schien sie aufatmen zu lassen. Es fühlte sich an wie ein Schritt in die richtige Richtung.
Das Klingeln der Türglocke riss sie aus ihren Gedanken. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass es Joshua war. Sie drückte den Summer und öffnete kurz danach die Tür.
„Morgen!“, trällerte Joshua fröhlich und umarmte Tessa zur Begrüßung. „Gut geschlafen?“
Tessa nickte. „Wie ein Murmeltier. Mir tun alle Knochen weh.“
Joshua lachte. „Nun, bald hast du es ja geschafft!“
Tessa verzog das Gesicht. „Ich weiß nicht… ein paar Tage werden wir schon noch brauchen, oder?“
Joshua grinste vielsagend. „Lass mich mal machen. Denkst du etwa, ich bin so wild aufs Arbeiten, dass ich hier ganz ohne Unterstützung auftauche?“
Er zwinkerte.
„Was meinst du damit? Moni hat gestern schon geholfen, und ich wollte sie nicht schon wieder fragen“, erklärte Tessa irritiert. „Sie kann sich schließlich nicht extra frei nehmen für das hier! Und Feli steckt bis über beide Ohren in diesem Referat für ihr Medienwissenschaftsseminar…“
„Man muss nur wissen, wie man es anstellt, Leute zu rekrutieren“, grinste Joshua nur als Antwort.
Tessa verstand nur Bahnhof und beschloss, es erst einmal dabei zu belassen.
„Also, fangen wir an?“, sagte sie darum nur. Joshua grinste weiterhin, nickte aber und folgte ihr ins Zimmer, wo sie anfingen, die Farbe anzurühren. Den kompletten Holzboden hatten sie am Abend zuvor mit viel grauem Fleece abgedeckt, um ja keine Flecken zu machen.
Während beide in ihrer Arbeit vertieft waren, klingelte es plötzlich erneut und als Tessa aus dem Fenster schaut, stieß sie einen überraschten Schrei aus.
Joshua zwinkerte: „Ich hab doch gesagt, man muss eben die richtigen Helfer zu rekrutieren wissen!“
Tessa stürzte zur Tür, drückte den Summer und stand dann mit offenem Mund Susanne, Moni und Feli entgegen, die alle in alte Kleider gehüllt waren und sie grinsend ansahen.
„Joshua sagte, hier gibt’s was zu tun“, erklärte Feli zwinkernd.
„Ja… aber ich dachte, du musst lernen… und Moni arbeiten… und Susanne… dich hab ich gar nicht zu fragen gewagt… tut mir leid, wir haben in letzter Zeit so selten telefoniert…“
Die Mädchen lachten auf. „Joshua hat uns sozusagen eingeladen“, erklärte Monika zwinkernd. „Und für wohltätige Zwecke nehme ich gerne mal einen Tag frei. Außerdem tut´s der Figur gut.“
Feli grinste ebenfalls. „So ist es. Und büffeln kann ich morgen wieder genug.“
Und Susanne lächelte und sagte: „Mensch, Tessa, du hattest wohl genug um die Ohren, ich bin nicht sauer. Und ich liebe es, in Farbtöpfen zu rühren.“
Sie lachten alle vier laut auf und gingen anschließend in das Wohnzimmer, wo Joshua allen sofort geschickt Aufgaben zuwies. So pinselten denn Susanne und Moni sofort drauf los, während Joshua mit Tessa verschwand, um die Möbel zu holen. Feli derweil war dafür zuständig, die Muster zu bestimmen und die Farben anzurühren.
Tessa war immer noch überwältigt von der vielen, ungeplanten Hilfe, selbst als sie zurück kam. Die Möbel stellten Joshua und sie vorerst im Flur und der Küche ab.
Erstaunt musste Tessa feststellen, dass nun fast zu viele helfende Hände im Wohnzimmer tätigt waren. Da aber der ein oder andere Magen inzwischen deutlich knurrte, beschloss sie, sich in der Küche nützlich zu machen und wärmte einen großen Teller mit Waffeln in der Mikrowelle auf.
Als sie mit dem verführerisch duftenden Gebäck ins Zimmer kam, legten die Mädchen die Pinsel beiseite, und auch Joshua hörte auf, Winkel auszumessen und Zierleisten anzuschrauben und kam schnuppernd näher.
Einen Moment kehrte Stille ein, als alle genießerisch in ihre Waffeln bissen.
Dann richtete Feli das Wort an Tessa: „Ich bin mir sicher, Jess wird es hier super gefallen. Wie geht es ihm denn, Tessa? Ist alles okay?“
Tessa schluckte hart und warf einen prüfenden Blick zu Joshua. Sie hatten das Thema Jess, so paradox es klang, meist geschickt umschifft. Doch er erwiderte ihren Blick und lächelte gelassen. Tessa atmete erleichtert auf und wand sich dann Feli zu:
„Ja, ihm geht’s gut. Ich habe ihn jetzt schon zweimal besucht. Diese Therapieeinrichtung ist wirklich hervorragend. Ich bin so froh, dass wir diesen Tip bekommen haben, wirklich.“
„Es ist ziemlich weit draußen, hab ich gehört?“, wollte Susanne wissen und biss behaglich in ihre Waffel.
„Ja, es ist eben auf dem Land, aber vielleicht ist gerade das der Vorteil davon.“
Moni nickte zustimmend. „Das glaube ich auch. Alleine weil die Beschaffung nicht mehr so leicht fällt…“, sie stockte und blickte sich dann verlegen um. Sie und Tessa redeten meist sehr frei über solche Dinge, da ihre beider Schicksale sie verbanden, doch im Umfeld von Menschen, die mit diesen Dingen nichts zu tun hatten, erschien es auch ihr manchmal als schwierig, über derartiges so offen zu sprechen.
Doch niemand sah sie irritiert an, stattdessen nickten Feli und Joshua sogar zustimmend.
„Kann ich mir auch vorstellen“, sagte Joshua dann. „Aber es muss da draußen auch eine ganz andere Stimmung sein. Sie nehmen sich bestimmt mehr Zeit als irgendjemand hier in der Stadt.“
Tessa nickte. „Auf jeden Fall. Es muss ein ganz anderer Therapieansatz sein. Es sieht wirklich alles gut aus. Ja, das tut es.“
„Wann wird Jess entlassen?“, wollte Susanne wissen.
Tessa schluckte den heißen Brocken Waffel herunter, keuchte einen Moment, da sie dies zu schnell getan hatte und sagte dann: „Ich weiß es noch nicht, wirklich. Ich gehe davon aus, dass es irgendwann im Spätsommer oder Herbst sein wird. Er ist ja jetzt schon gut zwei Monate dort, aber es kann sechs oder acht Monate dauern… das wird dann spontan entschieden.“
„Eine lange Zeit für dich“, meinte Susanne nachdenklich. „Lebt man sich da nicht auseinander?“
Tessa schüttelte den Kopf. „Nun… nicht wirklich, Susanne. Ich meine… wir hatten vorher auch kein echtes Zusammenleben… und schon gar keinen Alltag…“
Für einen Moment schwiegen alle betreten, nur Monika sah Tessa verständnisvoll an.
Joshua schlug sich auf die Oberschenkel und sagte: „Los, lasst uns mal weitermachen! Schließlich wollen wir bis Herbst fertig sein, mh?“ Er zwinkerte und die anderen lachten befreit und gingen wieder zurück an die Arbeit.
Nach einigen weiteren Stunden waren sie soweit, das Fleece einzurollen. Man riss die Fenster auf und ließ Luft herein. Während Moni, Susanne und Joshua nach draußen gingen, um die Möbel einer Grundreinigung zu unterziehen – den natürlich stammten alle aus zweiter Hand – räumten Tessa und Feli die Farbtöpfe zusammen und spülten die Pinsel aus.
Während Tessa das warme Wasser über die harten Borsten der Pinsel laufen ließ und Feli die bereits gewaschenen Exemplare mithilfe eines alten Küchentuches austupfte, sah Feli nachdenklich zum Fenster hinaus und sagte dann: „Es hat sich gut entspannt, das zwischen dir und Joshua, mh?“
Tessa sah auf, legte den letzten Pinsel beiseite und nickte dann.
„Ja, hat es. Zumindest glaube ich das. Oder denkst du etwa, es ist nicht so?“
Feli lächelte. „Oh doch, das glaub ich schon. Ich weiß es vielmehr.“
Tessa sah sie irritiert an. „Was meinst du damit?“
Feli zuckte die Schultern. „Ich meine damit, dass ich zufällig weiß, dass er jemand anders im Sinn hat.“
Erstaunt sah Tessa sie an. „Wie? Das hab ich nicht mitbekommen.“
„Nun, ich denke, er wird es dir noch nicht erzählt haben, weil da diese Sache war zwischen euch… und das ganze noch nicht spruchreif ist. Aber ich weiß, er ist in Antonia verliebt.“
„Die Tudorin aus unserem Germanistik-Kurs?“
„Ja, genau die.“
Tessa sah Feli irritiert an. „Sie ist viel älter als er!“
„Na und?“ Feli grinste. „Hey, bist du etwa eifersüchtig?“
Tessa schnaubte aus. „Ich doch nicht!“
Feli lachte. „Ha! Ich wette, das bist du!“
„Hör auf… du…“
Tessa beugte sich nach vorne und zwickte sie in die Seite, was diese quiekend zurück gab.
Lachend richteten beide sich wieder auf. „Was nun? Bist du eifersüchtig?“, kicherte Feli und Tessa schüttelte den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht, nur überrascht. Ich wünsche ihm, dass er sein Glück findet, aber in dem Fall wag ich es zu bezweifeln.“
Feli grinste. „Ich auch! Und trotzdem reagiere ich nicht so… ich sag dir, du bist irgendwie angekratzt deswegen. Und ich kann´s verstehen. Es tut frau schließlich gut, begehrt zu sein…“
„Ach was!“; rief Tessa aus. „Das ist nicht so! Das ganze hat unsere Beziehung immer nur belastet und ich bin froh, wenn es vorbei ist!“
„Vorbei ist? Was denn?“
Sie fuhr herum und sah Joshuas grinsendes Gesicht in der Tür.
Feli kicherte und sagte rasch: „Nichts, nichts – Frauengespräche, du Naseweis. Das geht dich nichts an!“
Joshua verzog das Gesicht und sagte gespielt empört: „Das ist also der Dank für alles, was ich hier für dich tu!“
Tessa lachte leise, erwiderte aber nichts.