Alexandra seufzte und wischte sich über die feuchten Augen. Sie fühlte sich so leer und müde und schwach, sie wusste nicht, wie sie es morgen schaffen sollte, diesen Termin zu überstehen, zumal er ihr bei allem, was sie gerade beschäftigte, lapidar und unwichtig vorkam.
„Wir müssen uns heute Abend darüber unterhalten, wie wir entscheiden“, sagte Moritz sanft. „Aber vielleicht solltest du dich erstmal etwas frisch machen und ich mach uns ein paar Brote.“
„Wo ist Devin?“, wollte Alexandra wissen.
„In seinem Zimmer, er büffelt für die Mathearbeit morgen“, antwortete Moritz. „Wenn er sich anstrengt, schafft er sicher eine Zwei.“
Alexandra nickte. „Natürlich strengt er sich an“, sagte sie dann.
Moritz zuckte mit den Schultern. „So selbstverständlich ist das nicht. Der Junge hat eine grausige Einstellung zum Lernen und zur Arbeit, findest du nicht auch?“
„Du siehst das zu eng“, erwiderte Alexandra müde und holte sich frische Kleidung aus dem Schrank. „Ich zieh mich schnell um, dann komme ich.“
Moritz sah ihrer inzwischen schon fast nicht mehr schlanken, sondern regelrecht dürren Gestalt nach, wie sie im Bad verschwand. Er seufzte. Sein Blick fiel auf den Möbelkatalog auf dem Nachttisch. Dieser lag dort seit etwa vier Wochen unberührt. Seine Gedanken schweiften zu dem Haus, das sie kurz vor dem Tod seiner Schwiegermutter gekauft hatten. Es wartete nur darauf, eingerichtet und bezogen zu werden. Doch im Moment war dies undenkbar.
Es war ein strahlend schöner Nachmittag, doch Alexandra schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab. Das Licht war ihr zu grell, verstärkte ihre Kopfschmerzen und machte sie noch müder als sie ohnehin schon war. Die Tabletten, die ihr der Arzt verschrieben hatte, schienen noch nicht richtig zu wirken, denn immer noch fühlte sie sich schlapp, müde und gereizt.
Moritz stieg aus dem Wagen und sie folgte ihm durch den Schulhof.
Gemeinsam gingen sie die Treppen des Schulgebäudes hinauf in das Klassenzimmer Shylahs, wo bereits deren Lehrerin, die sie seit der dritten Klasse hatte, auf sie wartete.
Frau Andresen lächelte freundlich, als die beiden das Zimmer betraten, schüttelte ihnen die Hand und bat sie, Platz zu nehmen.
„Schön, dass Sie es einrichten konnten“, sagte Frau Andresen und blickte Alexandra lange an. „Noch einmal mein herzliches Beileid, Frau Schuhmann.“
Alexandra nickte, erwiderte jedoch nichts, außer einem leisen „Danke…“, so dass Frau Andresen das Thema nicht weiter erörterte, sondern sofort sagte: „Ich bin froh, dass wir diesen Termin nun hinter uns bringen, denn die Zeit drängt. Haben Sie sich schon entschieden, auf welche Schule Shylah nach der Grundschule gehen soll?“
Moritz warf Alexandra einen Blick zu, doch diese schwieg, so dass er erwiderte: „Nun, wir haben einige Möglichkeiten in Betracht gezogen… bis vor einigen Wochen waren wir noch recht sicher, dass das Mädchengymnasium für Shylah sehr geeignet wäre.“
Frau Andresen nickte langsam. „Ja, da könnten Sie recht haben. Allerdings ist Shylah ein sehr aufgeschlossenes Mädchen, sie plappert gerne“, sie lächelte sanft „, und manchmal zugegebenermaßen auch zu viel, aber das ist nur Ausdruck ihrer Fantasie und ihrer Lebendigkeit. Das Mädchengymnasium würde ihr bestimmt die Möglichkeit geben, viele Freundinnen zu finden, allerdings sind die Erwartungen an die Schüler auch sehr hoch. Nicht, dass ich mir leistungstechnisch Sorgen machen würde, was Shylah angeht. Sie kommt gut mit, versteht den Stoff in fast allen Fächern recht schnell und arbeitet fleißig und konzentriert. Aber ich denke, wenn Sie zu sehr unter Leistungsdruck steht, wird ihr das nicht gut tun.“
Moritz nickte langsam. „Nun… das heißt, Sie raten uns davon ab?“
„Nicht unbedingt. Ich habe nur die Vor- und Nachteile erläutert“, erwiderte die Lehrerin und lächelte verbindlich. „Sie müssen auch bedenken, dass fast alle Schüler notentechnisch erst einmal einknicken, wenn sie auf die weiterführenden Schulen geschickt werden. Sowieso jene, die aufs Gymnasium gehen. Leider schafft unser Schulsystem den Übergang nicht so langsam und stufenweise, wie es für die Kinder von Nöten wäre.“
„Das heißt, Sie denken, Shylahs Noten würden in den Keller gehen am Mädchengymnsium?“, mischte sich Alexandra jetzt ein. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie ist so fleißig und hat einen gewissen Ehrgeiz. Wenn ich mit ihr übe, will sie alles so oft machen, bis sie es zumindest fast ganz richtig kann.“
Frau Andresen nickte. „Ja, Shylah ist fleißig. Ich bezweifle auch nicht, dass sie es an dem Mädchengymnasium schaffen würde. Letztlich haben ohnehin alle Gymnasien mehr oder minder einen Standard. Und ich halte Shylah durchaus geeignet fürs Gymnasium.“
Moritz nickte und sagte dann: „Ohnehin haben wir unsere Meinung etwas geändert. Shylah bedrängt uns seit Wochen, auf die ALS gehen zu dürfen, weil viele ihrer Freunde dorthin wechseln. Wir sind davon nicht angetan. Wie ist Ihre Meinung dazu?“
Frau Andresen schwieg einen Moment und sagte dann langsam: „Ich kann über die Astrid Lindgren Schule nichts Schlechtes sagen. Meine persönliche Meinung ist viel mehr, dass sie wesentlich besser ist als ihr Ruf. Die gymnasiale Stufe dort unterliegt genau denselben Standards und Anforderungen wie ein richtiges Gymnasium. Was ich entscheidend finde, ist, dass tatsächlich fast meine ganze Klasse auf diese Schule wechselt, und Shylah auf diesem Wege ihre Freunde nicht verlieren würde. Das ist auf jeden Fall ein Punkt, der für diese Schule spricht.“