Kapitel 69
Villa Sonnenschein
„Findest du diesen Namen nicht irgendwie lächerlich?“, fragte Jess nachdenklich, als er die Autotür zuschlug und gemeinsam mit Tessa den Gehweh in Richtung des großen, mit groben weißen Steinen verklinkerten Gebäudes zuging.
„Ich meine… es hört sich fast an wie aus Pippi Langstrumpf. So klischeehaft. Fast schon anbiedernd. Vor allem, wenn man weiß, was einen dort erwartet…“, sprach er missmutig weiter. „Welcher Idiot sucht dann so einen Namen aus?“
Tessa lächelte leicht und zuckte die Schultern. „Ich find ihn nicht so schlimm. Sieh es doch als ein gutes Omen, so wie ich. Wie hätte die Klinik denn sonst heißen sollen? Vielleicht Haus Schwarzseher, mh?“
Sie blieb stehen und drehte sich lächelnd zu Jess um.

Auch dieser musste ein wenig grinsen. „Ja… ja, ist ja gut, du hast recht, ich sollte optimistischer an die Sache herangehen. Und eigentlich ist es ja ganz egal, wie diese Klinik auch immer heißen mag, wenn sie nur gut ist.“
„So ist es.“
Tessa ging einige Schritte weiter und blieb dann vor dem Eingang zum Gelände stehen. Sie und Jess blickten beeindruckt um sich. Das Gebäude wirkte mit seinen weißen groben Steinen freundlich und doch ein wenig einschüchternd. Die Fenster waren mit fast anheimelnd anmutetenden Fensterläden versehen und die davorhängenden Balkonkästen mit ersten Frühlingsblumen bepflanzt, was den einschüchternden Eindruck des Gebäudes wieder ausglich. Ein riesiger, freundlicher Garten umgab das große, helle Haus und wenngleich er noch nicht von den vorsichtigen Sonnenstrahlen einer noch recht schwachen Frühlingssonne wach geküsst worden war, konnte man sich vorstellen, dass es hier im Sommer herrlich aussehen musste.

Sogar einen Pool gab es in einer hinteren Ecke, vor dem eine Reihe Liegestühle aus hellem Holz standen.
„Das sieht doch gut aus“, stellte Tessa fest und warf Jess einen Seitenblick zu. „Oder etwa nicht?“
„Ich kann gar nicht recht glauben, dass es das hier wirklich sein soll“, erwiderte Jess verblüfft. „Es wirkt eher wie ein Sanatorium für reiche Leute denn als eine Entzugsklinik für Junkies wie mich…“
„Jess!“, rief Tessa empört aus. „Ich hasse dieses Wort!“
„Nun ja, es ist eben so“, erwiderte dieser und musterte das Gebäude wieder erstaunt. „Das hier ist echt völlig anders als all die anderen Kliniken, Tessa. Das waren meist nur irgendwelche Abteilungen in psychiatrischen Einrichtungen, lieblos und kalt, mit ein paar demotivierten Ärzten und Psychologen darin. Das hier sieht völlig anders aus. Und du bist dir sicher, dass ich das bezahlt bekomme?“
Tessa erwiderte: „Ja, auch wenn ich selbst erstaunt bin, aber es ist so.“

Jess ging einige Schritte den Weg entlang und blickte sich im Garten um.
„Ist das hier nicht eine herrliche Luft?“, bemerkte Tessa und schnupperte in die eben jene. Um sie herum war zum Großteil nur hügeliges Waldgebiet. Das Therapiezentrum „Sonnenschein“ befand sich etwa fünfzig Kilometer von der Stadt entfernt, in einem kleinen Ort, in dem vermutlich Hase und Fuchs einander Gute Nacht sagten. Einen Moment überlegte Tessa sich, was für einen Aufschrei es wohl unter den Dorfbewohnern gegeben haben mochte, als irgendjemand auf die Idee kam, hier eine derartige Einrichtung zu eröffnen. Für einen Augenblick bereitete ihr der Gedanke, die Patienten könnten hier eventuell von der dörflichen Verachtung gestraft werden, Bauchschmerzen, doch dann schob sie diese Gedanken beiseite. Mit Sicherheit waren dies Problematiken, die von den Leitern der Einrichtung schon längst gelöst worden waren, um den Hilfesuchenden nicht noch mehr zuzumuten als ohnehin schon nötig war.
„Lass uns reingehen“, sagte sie zu Jess. Dieser nickte zuerst noch etwas zögerlich, ging dann aber schnellen Schrittes auf die Tür zu und öffnete sie langsam.
Beide sahen sich in dem Vorraum, in den sie nun getreten waren, um. Er war liebevoll und gemütlich eingerichtet und lud zum Verweilen ein, so dass man für eine Sekunde vergessen konnte, in welcher Art von Einrichtung man sich hier eigentlich befand.

Große Fenster boten einen Ausblick in den noch recht kahlen, aber doch schon reizvollen Garten, den man von einer gemütlichen Sitzgruppe aus Rattansesseln beobachten konnte.
Mehrere große Bögen gewährten Einblick in eine rustikal und gemütlich eingerichtete und sehr große Küche. Doch bevor Tessa und Jess sich weiter umschauen konnte, tauchte die Gestalt einer kurzhaarigen Frau, die in Arztkleidung gehüllt war, an der Treppe auf und lächelte beide freundlich an.
„Herr Berger, nehme ich an?“, fragte sie und schüttelte erst Jess und dann Tessa die Hand.
Dann wand sie sich wieder Jess zu und sagte freundlich: „Herzlich Willkommen in der Villa Sonnenschein!“
Tessa grinste, als sie sah, wie Jess sich ein Lachen verkneifen musste, weil er diesen Namen offenbar immer noch völlig lächerlich fand. Doch Jess wurde schnell wieder ernst, als die Ärztin weitersprach: „Ich bin Doktor Habsburg, ich betreue Sie in den nächsten Tagen und während des kalten Entzugs. Erst einmal möchte ich Ihnen meinen Glückwunsch aussprechen, dass Sie diesen Schritt wagen, Herr Berger. Dazu gehört viel Mut und Charakterstärke und ich werde alles tun, um Sie diesen Weg so unbeschadet und erfolgreich wie möglich hinter sich bringen zu lassen.“

Jess lächelte verunsichert. „Danke, das ist nett von Ihnen“, sagte er langsam. „So herzlich hat man mich bisher in noch keiner Einrichtung begrüßt.“
„Gut, dass Sie das ansprechen“, erwiderte Doktor Habsburg. „Ich habe mir schon Ihre Akten, die uns das Krankenhaus geschickt hat, durchgesehen. Sie haben bereits drei Entzugsversuche hinter sich?“
Jess nickte betreten. „Ja, einer erfolgloser als der andere.“
Doktor Habsburg lächelte traurig. „Ja, das ist keine Seltenheit. Allerdings, vielleicht wird Sie das aufmuntern, weist unser Haus eine sehr gute Erfolgsstatistik auf. Wir unterscheiden uns ein wenig im Therapieansatz von den meisten anderen Einrichtungen“, erklärte sie. „Wir sind der Meinung, dass eine solche Heilung – und nichts anderes ist es – viel, viel Zeit und Aufmerksamkeit braucht. Sie haben von daher wirklich Glück gehabt, einen Platz auf der Warteliste ergattert zu haben, und das haben Sie auch nur den guten Verbindungen Ihrer Ärztin zu verdanken.“ Sie zwinkerte, wurde dann aber wieder ernst. „Da wir auf die Zeit und deren Wirkung setzen, halten wir nichts davon, Sie direkt nach dem Entzug wieder ins Leben zu schicken, denn wir sind davon überzeugt, dass dies in den allermeisten Fällen zum Scheitern verurteilt ist. Sie müssen erst erkennen, was genau Sie zur Sucht geführt hat und wo überall Sie Ihnen auch später immer wieder auflauern wird. Darum ist unser Programm auch so ausgelegt, dass Sie in der Regel ein halbes Jahr hierbleiben werden.“
Jess schluckte und starrte die Ärztin verdattert an. „Ein… ein halbes Jahr?“, stammelte er. „Die anderen Entzüge haben meist nur drei oder vier Wochen gedauert…“

„Nun… genau hier ist der springende Punkt“, erwiderte die Ärztin freundlich. „Natürlich werden wir Sie nicht dazu zwingen… es ist nur eine Empfehlung. Manchmal geht es schneller, manchmal nicht…“
„Nein – nein, das ist schon in Ordnung“, sagte Jess rasch und warf Tessa einen Blick zu, die sich ein Lächeln abrang, auch wenn sie ob der Tatsache, dass dies hier so lange dauern würde, ebenso überrumpelt aussah.
„Ich tu alles, um wieder gesund zu werden und… dann ein normales Leben mit meiner Freundin zu führen“, sagte Jess und lächelte Tessa liebevoll an, was diese erwiderte.
Die Ärztin drehte sich nun zu Tessa um und lächelte ebenfalls. „Es ist immer gut, jemanden zu haben, der einen unterstützt und auf einen wartet“, sagte sie dann und ging auf Tessa zu. „Sie sind Frau Bergers Freundin? Frau Wagner, richtig?“
„Ja“, antwortete Tessa. „Und ich bin wirklich froh, dass Jess hier bei Ihnen untergekommen ist.“

Die Ärztin lächelte wieder und sagte dann: „Frau Wagner, Sie wissen, dass Ihr Freund während der ersten vier Wochen keinen Kontakt mit Ihnen haben wird?“
Tessa schluckte. Etwas in der Art hatte man im Krankenhaus schon angedeutet.
„Nun… ich hab es mir gedacht“, erwiderte sie und versuchte, den Kloß im Hals krampfhaft wegzuschlucken. „Aber ich dachte, es handle sich nur um die Zeit des kalten Entzugs… also vierzehn Tage in etwa…“
Die Ärztin schüttelte den Kopf. „Auch hier haben wir eine andere Meinung. Jede Störung von außerhalb sollte in den ersten vier bis fünf Wochen vermieden werden, damit Herr Berger sich auf sich konzentrieren kann. Abgesehen davon ist es oft ohnehin schwer, in dieser Zeit soziale Kontakte zu pflegen, weil der Körper und vor allem die Psyche noch zu sehr unter den Entzugserscheinungen leiden…“
Tessa nickte langsam und dachte mit Grauen an die Zeit des kalten Entzugs im Vorjahr zurück und auch daran, dass die Rückfälle selbst noch nach Tagen auftraten.
Jess lächelte ihr zu, als wolle er ihr sagen: „Das schaffen wir schon.“
„Wie wäre es, wenn ich Ihnen beiden erst einmal alles hier zeige“, versuche die Ärztin die Stimmung aufzulockern. „Folgen Sie mir doch bitte.“

Tessa warf Jess einen Blick zu und er kam rasch zu ihr und drückte ihre Hand, dann folgten sie der Ärztin durch den Vorraum in die helle Küche.
„Das ist, wie unschwer zu erkennen, unsere Küche und der Speisesaal“, erklärte Doktor Habsburg freundlich. „Unsere Patienten kochen sich so oft es geht selbst etwas, wir essen dann in der Gruppe, das ist Bestandteil des Therapieprogramms, aber auch einfach praktischer so.“
*geht noch weiter*