Kapitel 3
Alexandra kratzte sich seufzend am Kopf und sah sich in dem weitläufigen Kleidergeschäft um. „Shylah!“, rief sie und erblickte ihre Tochter hinter einem der Kleiderständer, sie schaute verträumt zum Fenster hinaus.
„Shylah, komm her. Frau Morberg wird dir jetzt ein Kleid bringen.“
Shylah hüpfte fröhlich herbei. „Ich freu mich schon so darauf!“, rief sie fröhlich und klatschte aufgeregt in die Hände.
Alexandra lächelte und gab ihrer Tochter einen sanften Nasenstümper.
„Nun beruhige dich mal wieder, sonst dauert das ganze noch den ganzen Nachmittag“, lächelte sie und warf einen Blick zu Frau Morberg, der Verkäuferin, die mit einem Stapel raschelnder, weißer Kleider um die Ecke kam.
„Hier, Frau Schumann – die neuste Kollektion an Brautjungferkleidchen.“
„Brautjungferkleidchen, hast du das gehört, Shylah?“, lachte Alexandra leise. „Na, wie hört sich das an?“
Shylah runzelte die Stirn und kratzte sich mit ihren kleinen Händen am Kopf. „Brautjungfer? Was ist das, Mama?“
Statt Alexandra antwortete ihr die Großmutter, die aus einer stilleren Ecke nach vorne getreten war und den Stapel feinen, weißen Stoffes mit einem skeptischen Blick bedachte.
„Brautjungfern sind in dem Fall so etwas wie Blumenkinder, Shylah“, erklärte sie. „Das kennst du doch - die Mädchen, die bei einer Hochzeit Blumen werfen.“
„Ach, so was wollte ich auch schon immer mal machen“, seufzte Shylah verträumt. Alexandra lachte wieder auf.
„Ja, nur leider hat in den letzten Jahren niemand in der Familie geheiratet…“
Es war wie ein Stichwort für ihre Mutter gewesen, die nun knurrend sagte: „Eine Schande ist das. Peter und Annette wohnen nun schon seit vier Jahren zusammen und immer noch kein Wort von Verlobung, Alexandra. Kannst du dir das vorstellen? Das ist nicht recht, nein, das ist nicht in Ordnung so.“
Alexandra seufzte und verkniff sich eine genervte Antwort. Sie hatte dieses Thema schon so oft mit ihrer Mutter besprochen, die einfach nicht einsehen wollte, dass sich die Zeiten geändert hatten und ihr ältester Enkel – der Sohn von Alexandras ältestem Bruder – nun einmal mit seiner Freundin zusammengezogen war, ohne vorher einen Ring an ihren Finger zu stecken.
„Mama!“, lenkte da die fordernde Stimme Shylahs die beiden glücklicherweise ab. „Soll ich jetzt anprobieren?“
„Ja, mein Schatz, geh zu Frau Morberg, die hilft dir.“
Während Shylah in der Kabine verschwand, hoffte Alexandra inständig, ihre Mutter würde das Thema nicht wieder aufgreifen. Um dies zu verhindern, warf sie einen Blick auf die Uhr und seufzte. „Moritz hat fest versprochen, vorbei zu kommen und bei der Auswahl der Kommunionkleides zu helfen“, stieß sie hervor und ihrer Stimme war nicht anzumerken, ob es verbittert, enttäuscht oder gleichgültig klang.
Ihre Mutter runzelte erneut die Stirn und sagte dann begütigend: „Er wird bestimmt bald da sein. Er arbeitet eben viel, Kind.“
„Ich weiß… ich weiß…“, seufzte Alexandra. „Aber Shylah hat sich so sehr gewünscht, dass ihr Papa dabei ist, wenn sie das Kleid aussucht…“
In diesem Moment kam Shylah aus der Kabine gesprungen und drehte sich in einem weißen Kleidchen mit Rüschen einmal im Kreis.
„Wie findet ihr es, Mama und Oma?“
„Ganz nett“, gab Alexandra zur Antwort. „Magst du es denn, mein Schatz?“
Shylah betrachtete sich kritisch im Spiegel, was ihrer Mutter ein Grinsen über das Gesicht zauberte. So wenig sich die Kleine bisher auch für Kleider interessiert hatte, auf die Auswahl ihres Kommunionkleides war sie ganz versessen gewesen und hatte schon seit Monaten von nichts anderem mehr gesprochen.
„Ja – ganz nett“, gab Shylah wenig begeistert zurück und hüpfte dann im weißen Rüschenkleidchen zu ihrer Mutter, um sich an ihr Knie zu lehnen. „Aber Mama – ich wollte doch so gerne eines, was hinten so eine Schleppe hat…“
„Ach Schätzchen, das kannst du mal anziehen, wenn du in ferner Zukunft heiraten wirst, aber als Kommunionkleid ist so etwas doch eher ungeeignet…“
Shylah zog einen Schmollmund, doch Alexandra blieb hart und fügte an Frau Morberg gewandt hinzu: „Es gibt doch gar keine Kommunionkleider mit Schleppen, oder?“
Diese lachte herzlich und schüttelte den Kopf, woraufhin Shylah sich geschlagen gab und das nächste Kleid anprobieren ging, nicht bevor sie zum x-ten Mal in dieser Stunde nach dem Verbleib ihres Vaters gefragt hatte.
„Papa kommt gleich“, versprach Alexandra. „Geh ruhig schon mal das nächste Kleidchen anprobieren, ja.“
Shylah probierte noch drei weitere Kleider an und hatte an jedem etwas auszusetzen. So langsam spürte Alexandra ihre Geduld schwinden, zumal ein gallig-schmeckender Ärger auf Moritz sich in ihr breitzumachen schien. Sie warf erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr – er war schon über eine Stunde zu spät.
Als habe er ihre Gedanken erraten, kam er in diesem Moment in das Geschäft geeilt und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Seinem Kuss wich sie aus und drehte sich demonstrativ in die andere Richtung. Moritz seufzte und murmelte: „Es tut mir leid, Schatz, ich hatte noch ein wichtiges Meeting mit den Vertrieblern…“
In diesem Augenblick schoss Shylah aus der Kabine und rief freudig: „Papa!“ Ungeachtet der Tatsache, dass sie nur Unterwäsche trug, hüpfte sie freudig durch das halbe Geschäft und flog ihrem Vater dann in die Arme.
„Na, mein Schatz? Hast du schon was nettes gefunden?“ fragte dieser, froh über die Ablenkung von seinem Dilemma.
„Nein – die Kleider sind alle blöd“, gab Shylah zur Antwort.
„Die Kleider sind nicht alle blöd“, korrigierte Alexandra leicht säuerlich. „Du hattest nur an allen etwas auszusetzen, Shylah. Nun probier mal noch den Rest an Kleidern. Wir werden doch noch etwas finden, was dir gefällt.“
„Das Kind ist verwöhnt“, stellte Alexandras Mutter in diesem Moment trocken fest und verschränkte die Arme. „Als wir Kinder waren, hatten wir gar keine Auswahl an den Kleidern, wir haben sie oft etliche Male aufgetragen, auch die Kommunionkleidern.“
„Das war vor langer, langer Zeit, Mutter – vor dem Krieg. Das kann man gar nicht mehr mit heute vergleichen“, seufzte Alexandra und rieb sich den Kopf, der allmählich zu schmerzen begann, wie so oft in letzter Zeit. „Und wenn das Kind die Möglichkeit hat, sich eines auszusuchen, ist das doch schön.“
Alexandras Mutter brummelte etwas und sagte dann: „Ja… ja… du magst ja recht haben. Ich gönne es unserer kleinen Prinzessin ja auch von Herzen… nur find ich es ein wenig übertrieben. Die heilige Kommunion ist ein Fest, das Gott gewidmet sein sollte und nicht dem schönen Schmuck des Kleides.“
Wie um ihrer Rede Nachdruck zu verleihen, erhob sich die alte Dame und stolzierte ein paar Schritte durch den Verkaufsraum. Moritz setzte sich neben Alexandra auf die kleine Bank und drückte ihrer Hand, was diese angesichts der moralischen Ausführungen ihrer Mutter sogar geschehen ließ.
Beiträge von Innad
-
-
Rivendell: Ja, ich gebe Dir völlig recht, dass die Rolle von Mutter und Hausfrau ziemlich unterbezahlt und nicht genug gewürdigt ist, und zwar von allen Gesellschaftsschichten. Es ist heute irgendwie allgemein auch nicht so einfach, Frau zu sein, finde ich und Mutter noch viel, viel weniger. Irgendwie soll man alles sein und doch auch wieder nicht. Emanze, Heimchen am Herd, Karrieregeil, Familienliebend... naja, wir sind halt Frauen.
Natürlich ist das, was Alexandra durchmacht, an sich nichts ungewöhnliches, aber jeder Mensch nimmt es halt anders auf und wie man im vorigen Kapitel sieht, scheint Alexandra zu gewissen Depressionen zu neigen, die - wie man ja weiß - Krankheiten sind. Da ist natürlich die Doppelbelastung noch schwerer zu ertragen.
Danke für Deinen leidenschaftrlichenKommi!
Llynya: Ich glaube, Alexandras Problem ist es vorrangi gar nicht mal, dass sie mit Haushalt nd Kindern nicht ausgelastet oder genug beansprucht ist, sondern viel mehr, dass sie so alleine da steht und Moritz mehr nach seiner Karriere schaut, aber das wird im folgenden Kapitel noch einmal viel deutlicher. Was die Psychotherapie betrifft, so glaube ich, es ist eine riesige Überwindung, sich jemand Fremden mit solch intimen Dingen anzuvertrauen und Alexandra ist da gelinde gesagt einfach an einen mega Hornochsen geraten, der ihr nicht hilft, ihre Probleme damit zu lösen, dass SIE sich ändert und anders damit umgeht, sondern ihr praktisch genommen einfach vorschlägt, ihr Lebenssituation unproblematisch zu gestalten. Daher ist Alexandras Vergleich mit dem Bein wohl gar nicht so falsch.
Es ist natürlich fatal, dass die ohnehin schon skeptische und widerwillige Alexandra direkt zu solch einem Hornochsen und Dilettanten graten istaber naja - ist nun wohl nicht mehr zu ändern.
Danke für Deinen lieben Kommi!@ALL: Es geht heute endlich weiter, ich hab mich zusammengerauft und geschrieben und fotografiert. Irgendwie ist es viiiel anstrengender, wenn man nicht vorgearbeitet hat *lach* Ich bin von Tiefer und meinem Mega-Vorsprung und der recht klar vorgezeichneten Storyline sehr verwöhnt, scheint mir *gg*
Ich hoffe, das nächste Kapitel gefällt euch und ich freu mich wie immer auf eure Kommis!
-
„Chef – er will uns entwischen!“, hörte sie plötzlich die aufgeregte Stimme eines der Sanitäter.
Sie schluckte und ihre Hand ballte sich zur Faust, als sie zusah, wie die drei Männer sich nun hektisch an Jess zu schaffen machten.
Das viel zu schnell und hektisch piepsende Geräusch des EKG-Monitors wurde wie ein Echo aus dem Krankenwagen in die Stille der Nacht geworfen. Inzwischen waren um sie herum mehrere Lichter in den Häusern angegangen und die Menschen zogen vorsichtig die Vorhänge zur Seite, um einen Blick auf das ungewöhnliche Treiben vor ihren Häusern zu erwischen. Tessa realisierte nichts davon, auch nicht, dass das Ehepaar Ebert wie selbstverständlich zu ihr herangetreten war, um sie zu stützen.
Die Bilder der hektischen Sanitäter, die Jess voller Verzweiflung am Leben zu halten versuchten, die angespannten Rufe seitens der Männer, die sich medizinische Fachbegriffe und Medikationen zu schrien, die sich öffnenden Fenster und Türen um sie herum, nahm sie kaum noch wahr. Ihre Augen starrten ins Leere, ihr Herz tönte in ihren Ohren wie eine Trommel… aber auch das nahm sie kaum noch wahr.
Sie stand einfach da, unbeweglich, wie in Salz gegossen, und wusste nicht mehr, was sie fühlen und denken sollte.
Die Sekunden schienen sich unerträglich zu ziehen. Immer noch riefen sich die Männer im Wagen Dinge zu, die sie nicht verstand.
Einzelne Fetzen des Geschehens schafften es, sich in ihr Bewusstsein vorzudrängen und wurden dort mit solch einer stechenden Klarheit von ihr aufgenommen, dass es sie fast erschreckte… das besorgte Gesicht Herrn Eberts, der seiner Frau einen verheißungsvollen Blick zu warf… die Schneeflocken, die sich in ihrem Haar verfingen… das Geräusch von schlagenden Türen… und dann nahm sie als letztes mit grausamer Klarheit das eintönige, lineare Geräusch des EKG-Monitors aus dem Krankenwagen wahr…
Und da wusste sie, dass Jess den Kampf verloren haben musste.
Was danach folgte, war ein schwarzes Loch, in das sie zu fallen schien. Sie konnte später nicht mehr sagen, was in jenen Minuten geschehen war.
Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts mehr. Nur halb bewusst realisierte sie, wie ihre Knie mit einemmal weich wurden. Sie fühlte sich von erstaunlich starken Armen gefasst und ins Haus gebracht. Draußen schlugen die Türen des Krankenwagens laut zu und das Geräusch des aufheulenden Motors zerriss die Nacht.
Tessa realisierte es kaum mehr.
Nur ein einziger Gedanke hatte Platz in ihrem Kopf und ihrem Herzen – Jess´ Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Fortsetzung folgt... -
Es dauerte keine Sekunde, da wurde die unterste Balkontür aufgerissen und der ältere Mann aus der Erdgeschoßwohnung streckte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf ins Freie.
„Frau Wagner?“, rief er aufgeregt. „Sind Sie das?“
„Ja, ich bin es… ich… ich brauche hier Hilfe! Hier ist ein schwerverletzter Mann!!“
Es dauerte keine fünf Sekunden, da war der ältere Mann auf die Straße gestürzt gekommen und hatte mit einem kurzen Blick die Situation erfasst.
„Rufen Sie den Krankenwagen, Frau Wagner!“, sagte er in aufgeregtem, aber festem Ton. Die Kraft seiner Stimme und seine ruhige Überlegenheit schienen Tessas Betäubung endgültig aufzulösen.
„Soll ich hineinlaufen und anrufen?“, hörte sie eine weibliche Stimme auf der Vortreppe, die von der Ehefrau des Mannes stammte.
„Nein!“ beeilte sie sich zu sagen und hatte schon das Handy am Ohr. „Ich hab ein Handy, ich ruf an.“
Sie schaffte es, ihre Finger so weit unter Kontrolle zu bringen, um die Tasten „112“ zu treffen und während sie atemlos den Notruf absetzte, beobachtete sie, wie der ältere Herr in die Knie ging und nach Jess sah, während seine Frau bestürzt neben ihm stand und das Geschehen beobachtete.
Als sie die Rettung alarmiert hatte, rannte Tessa zurück zu der Stelle, an der Jess nach wie vor reglos lag und starrte Herrn Ebert, dessen Name ihr jetzt auch wieder eingefallen war, an.
„Er lebt noch, oder?“, stammelte sie atemlos.
Herr Eber nickte, sah aber sehr ernst aus. „Vorläufig noch“, erwiderte er besorgt und tastete erneut nach Jess Puls. „Er ist furchtbar unterkühlt und scheint böse verschlagen worden zu sein. Ich werde schnell nach drinnen laufen und eine Decke holen.“ Er verschwand wieder ins Haus.
Tessa zitterte und beugte sich zu Jess.
„Jess… du musst durchhalten, hörst du… ich will dich nicht noch einmal verlieren…“
„Kennen Sie diesen jungen Mann, Frau Wagner?“, fragte Frau Ebert sie da.
Tessa stand auf, um ihrem Ehemann Platz zu machen, der mit einer dicken, braunen Wolldecke in der Hand aus der Wohnung gerannt kam und Jess vorsichtig und ohne ihn zu bewegen darin einhüllte.
„Ja“, antwortete sie fest. „Er ist mein Freund.“
Überraschung zeichnete sich auf dem Gesicht Frau Eberts ab, aber dann trat sie zu Tessa und strich ihr sachte über den Arm.
„Wie furchtbar für Sie. Haben Sie keine Angst, der Krankenwagen bist bestimmt gleich da.“
Tessa lächelte gequält.
„Ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Worte, Frau Ebert…“
Sie starrte erneut zu Jess und spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte, als sie ihn dort so leblos und aschfahl liegen sah. Ihr Herz zog sich zusammen und schien zu einem Eisklumpen zu werden. Sie wandte den Blick wieder ab, weil sie meinte, es nicht länger ertragen zu können und wanderte mit den Augen gen Himmel.
„Oh bitte…“, flüsterte sie, wie betend. „Bitte… bitte… nimm ihn mir nicht noch einmal…“
Sie starrte die dunkle Straße hinab, doch nichts regte sich. „Wieso dauert das nur so lange?“
„Sie haben den Notruf erst vor knapp vier Minuten abgesetzt“, beruhigte Herr Ebert sie. „Aber sie werden bestimmt gleich kommen.“
Angespannt starrten alle drei Menschen die Straße hinab und hofften auf das erlösende Geräusch des Martinhorns.
Herr Ebert erhob sich aus seiner knienden Position und sagte: „Er atmet, flach aber regelmäßig…“
Seine Ehefrau nickte und sagte: „Ihr Freund ist bestimmt ein Kämpfer… er wird das schaffen, da bin ich mir sicher…“
„Oh, ich glaube, ich höre die Sirene!“ rief Tessa aus und horchte angestrengt in die Stille der Nacht.
Und tatsächlich, nur wenige Sekunden später brausten Notarzt- und Krankenwagen die Straße hinab und kamen mit Blaulicht und quietschenden Reifen vor dem Haus zum Stehen.
Mit wenigen Worten hatte Tessa dem Notarzt erklärt, was geschehen war. Sie sagte ihm Jess´ Namen und alles, was für wichtig erachtet wurde. Währenddessen hatten sich die Sanitäter schon eifrig an ihm zu schaffen gemacht und ihn in eine Decke gehüllt in den Krankenwagen geschoben.*geht noch weiter*
-
Kapitel 58
WinternachtDie stillen Wintertage vergingen, der Februar kam und damit die Semesterferien. Diesmal war es völlig anders als im Sommer – die meiste Zeit verbrachte Tessa entweder in der Bibliothek, um sich den zwei oder drei Hausarbeiten zu widmen, die sie bis zum nächsten Semesterbeginn fertig stellen musste, zum anderen in ihrer gemütlichen Wohnung, eingemummelt in eine Decke und mit einem guten Buch und einer heißen Tasse Tee oder Kaffee. Manchmal gesellte sich Feli zu ihr und sie schauten sich eine DVD an oder machten es sich einfach beim Quatschen gemütlich.
Hin und wieder traf sie sich gemeinsam mit Susanne, Feli und oft auch Joshua in der Eishalle zum Schlittschuhlaufen oder in einem der vielen In-Bistros in der Stadt.
Die meiste Zeit verbrachte sie jedoch mit Monika. Sie hatte ihr von der Begegnung mit Jasmin erzählt und auch von der bitteren Erkenntnis, die jene ihr gebracht hatte. Monika konnte sie von all ihren Freunden immer noch am besten verstehen.
Auch an diesem kalten Winterabend im späten Februar hatten beide sich getroffen und waren gemeinsam zu ihrem Lieblingsitaliener gegangen, um sich dort mit Pizza und Pasta und einem Glas guten Rotweins auf den Beginn des Wochenendes einzustimmen, denn heute war wieder Freitag.
An einer Straßenkreuzung verabschiedeten sie sich voneinander und gingen dann zu Fuß jeweils in verschiedene Richtungen.
Tessa war recht froh, nicht mit dem Auto gefahren zu sein. Erstens war die Straße immer noch dick mit Schnee bedeckt und zum anderen war ihr der Chianti wohl doch etwas zu Kopf gestiegen.
Da gab es nichts besseres, als in der frischen, kalten Luft zu sein und sich die Beine zu vertreten. Auch wenn ihr immer noch oft mulmig war, wenn sie nachts allein durch die Straßen ging. Zwar wohnte sie durchaus in einem besseren Viertel der Stadt, aber trotzdem schielte sie immer wieder beklommen in die ein oder andere Einfahrt oder dunkle Nische und beschleunigte ihren Schritt, wann immer ihr etwas seltsam vorkam.
Tessa war froh, als sie um die Ecke ihrer Straße bog und das Mehrfamilienhaus, in dem sie nun schon seit mehr als anderthalb Jahren zu Hause war, in der Ferne auftauchen sah.
Sie schauderte etwas zusammen, die Nacht war wirklich eisig kalt. Vor etwa zwei Wochen war ein Hoch über das Land gezogen und hatte milde, fast schon frühlingshafte Temperaturen gebracht. Man hatte an manchen Tagen, wenn die inzwischen doch wieder recht kräftige Sonne spendabel ihre Energie auf die Erde gerichtet hatte, sogar ohne dicke Jacken draußen sein können.
Die Krokusse und Narzissen hatten sich bereits vorsichtig aus der Erde gewagt und ihre noch geschlossenen Köpfe gen Sonne gewandt.
Doch dann war das Wetter plötzlich wieder umgeschwungen und hatte erneute, eisigkalte Temperaturen und Schnee gebracht. Der Frühling schien mit einemmal wieder furchtbar weit entfernt zu sein.
Tessa rieb sich die Hände und schaute sich nervös um, als habe sie den Eindruck, jemand sei ihr gefolgt. Doch die Straße war menschenleer. Sie seufzte. Irgendwie fühlte sie sich heute Nacht besonders nervös und beklommen.
Sie beschleunigte ihren Gang noch etwas mehr, was mit den hohen Absätzen, die sie heute trug, gar nicht so einfach war. Aber sie war es gewohnt, mit solchen Schuhen weite Strecken zu gehen. Das war wohl eine Marotte, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte … so ungern sie sich das auch eingestehen wollte. Die Liebe zu schönen Kleidern und trendigen Schuhen musste tatsächlich in irgendeiner Form genetisch bedingt sein, denn sie konnte sich dieser genauso wenig entziehen wie ihre Mutter… und das, obwohl sie doch eigentlich bei weitem nicht so oberflächlich war. Ein Lächeln huschte Tessa über das Gesicht. Neulich hatte sie das einmal Feli erzählt und diese hatte laut und schallend gelacht und zwinkernd erwidert: „So lange es nicht schlimmeres ist, Tessa, würde ich sagen, dass sowohl du als auch der Rest der Welt das ganz gut verkraften werden.“
Tessa war inzwischen fast zu Hause angekommen und stellte halb seufzend fest, dass es just in diesem Moment schon wieder zu schneien begann.
„Es würde mal reichen für diesen Winter“, seufzte sie in die Stille der Nacht hinein.
Dann wandte sie ihren Blick von den sanft zur Erde schwebenden Flocken ab und sah wieder nach vorne, wo sich das Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnte, vor ihr erhob. Sie stockte. Ihre Füße blieben derartig abrupt stehen, dass sie fast aus dem Gleichgewicht geriet.
Vor dem Eingang zum Haus, nur ein kleines Stück neben der vorm Haus stehenden Mülltonne, lag etwas…
Tessa spürte, wie ihr Atem schneller ging und sie ängstlich ein Stück zurück wich. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, um in der Dunkelheit und durch die vom Himmel tanzenden Flocken hindurch besser sehen zu können.
Da lag nicht etwas… da lag JEMAND!
Tessa blieb einen Augenblick unschlüssig und ängstlich stehen. Offensichtlich war dort vor der Haustür jemand zusammengebrochen… bei dieser Kälte konnte sie ihn nicht dort liegen lassen, man konnte binnen kürzester Zeit erfrieren. Dennoch wagte sie es nicht, sich zu bewegen. Was, wenn es ein betrunkener Penner war, der sich nicht unter Kontrolle hatte? Die Erinnerungen an jene Nacht im „5th Scene“ waren noch allzu lebendig.
Tessa entschloss sich gerade, direkt den Notruf zu alarmieren, als ihr das Handy, nach welchem sie in ihrer Jackentasche gegriffen hatte, plötzlich kraftlos aus der Hand fiel.
Sie fixierte den leblosen Punkt vor dem Haus nocheinmal und sog die Luft dann scharf und tief ein. Diese Jacke… sie kannte diese Jacke….
Bevor sie noch weiterdenken konnte, hatten sich ihre Füße wie aus einem Automatismus in Bewegung gesetzt und plötzlich war es egal, welche Art von Schuhe sie trug oder ob sie eben noch Angst gehabt hatte… sie rannte wie der Teufel auf das Haus zu.
Atemlos blieb sie vor der leblosen Person stehen.
„Jess!“
Sie fiel kraftlos auf die Knie, betrachtete das ihr so lange so sehnsüchtig vermisste und so geliebte Gesicht, ohne zu begreifen, was sie sah, was dies bedeutete.
„Jess…“
Ihre Hände fuhren über seine Wangen, die eiskalt waren, geronnenes Blut klebte an ihnen und bald auch an ihren Fingern.
„Jess… Jess… wach auf! Sag etwas… Jess… Jess…“
Ihre Worte klangen fast einem atemlosen Wimmern. Sie berührte seine Haare, seine Arme, seine Hände, als wolle sie sich vergewissern, nicht nur wieder in einem dieser verrückten Träume zu sein.
Doch die Kälte, die ihre Haut traf, machte ihr nur allzu deutlich klar, dass sie nicht träumte.
„Jess… hörst du mich! Mach die Augen auf!“
Sie starrte den reglosen Mann vor sich an. Ihr Herz schien einen Moment auszusetzen. Kam sie zu spät?
„Jess….“, flüsterte sie, es klang flehentlich. „Komm schon, enttäusch mich nicht. Sag was!“
Sie rüttelte noch einmal mit Nachdruck an seiner Schulter, doch er blieb weiterhin völlig reglos.
Ihre Augen fuhren über seine aschfahle Haut. Er war übel zugerichtet worden. Was war nur mit ihm geschehen?
Tessa Augen fuhren hektisch hinab zu seinem Brustkorb und ein Seufzer der Erleichterung entwich ihren Lippen, als sie eine schwache Bewegung ausmachte. Er lebte – noch.
Sie sprang auf und sah sich hilfesuchend um. Es schien, als herrsche in ihrem Kopf nichts als ein einziges Chaos wirrer Gedankengänge. Ihre Beine zitterten so sehr, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte.
Einen Moment schien sie völlig ratlos zu sein, was sie tun sollte.
Und dann folgte sie einfach völlig kopflos dem ersten Impuls, der sich durch das paralysierende Gefühl des Schocks und der Verwirrung zu bahnen vermochte.
„Hilfe!!“ schrie sie aus Leibeskräften. „Ich brauche hier Hilfe!!!“*geht noch weiter*
-
Huch, bin ich so fix, dass nur ein Kommi da ist? :rollauge Egal, ich mach trotzdem weiter heute
Llynya: Ich mach´s heute mal kurz und bündig und sage nur: Lies das nächste Kapitel und schau, wessen ich euch belehre :roftl
-
Hallo meine liebe Llyna,
ich hab das letzte Mal offenbar total vergessen, hier zu kommentieren :angry:rolleyes
Jetzt aber zu dem aktuellen Kapitel. Ich war offen gesagt zuerst etwas überrascht, dass Lina Aderas Tod so relativ gefasst aufgenommen hat. Natürlich schockiert, aber ohne große Tränen zu vergießen oder in absolute Panik zu geraten.
Wie vernünftig und zielgerichtet sie dann alles erledigt hat, von Aderas Beerdigung bis hin zum Organisieren des ganz normalen Alltags, hat mich zum einen beeindruckt, zum anderen irritiert. Ich habe mich gefragt, ob ihr Verhältnis zu Adera denn wirklich so "kühl" gewesen war, dass das alles so mehr oder weniger an ihr vorbei zieht.
Ich meine, immerhin war Adera, wenngleich auch nie besonders liebenswürdig, ja doch eine Art Ziehmutter für Lina.
Nun, am Ende des Kapitels haben sich meine Fragen dann geklärt. Ich habe für mich so den Eindruck gewonnen, dass Lina die ersten Tage ein wenig unter Schock stand. Jetzt, zum Ende des Kapitels hin, merkte man deutlich, wie die Wut der Fassungsloskeit und Taubheit allmählich Platz gemacht hat.
Lina will sich jetzt als, an wem auch immer, rächen. Erstmal beruhigt es mich irgendwie, dass sie die Hütte verlässt... denn wer auch immer Adera getötet hat, könnte ja zurück kommen und sein "Werk vollenden."
Sag mal, spielen die beiden Handlungsstränge bis jetzt eigentlich zeitgleich oder würdest Du damit zuviel verraten :rolleyes ?
Die Bilder waren wie immer toll, und ich find Lina immer noch so niedlich
Ich bin gespannt, wie es weitergeht, auch wie es für Elias und Jorim außerhalb des Klosters werden wird.
Viele liebe Grüße an Dich
-
Der armen Anna bleibt aber auch nichts erspart...
Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Übrigens fehlten mir zu der Episode mit dem Priester im Schiff, der Anna weismachen wollte, das sei alles sozusagen für sie vorgeschrieben, echt heftig und mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, was ich darüber denke.
Liebe Nonuna,
Du schaffst es hiermit mal wieder, ein sehr tiefsinniges Thema sehr ernsthaft und gut umzusetzen. Von der Qualität der Bilder ganz zu schweigen.Ich lese immer mit, aber irgendwie fehlen mir hierzu die Worte. Ich weiß, dass Deine geschichten nicht wirklich "Geschichten" sondern eigentlich Skizzen tatsächlicher Dinge sind, die sich so oder so ähnlich abspielen. Einen einfachen Kommi dazu zu schreiben, wie ich es bei fiktiven geschichten tu, die sich durchaus auch ernsthaft mit schweren Themen, aber eben doch auf typisch literarische Weise damit auseinandersetzen, ist da etwas ganz anderes.
Ich will Dir einfach nur mein Kompliment aussprechen und verfolge Annas Weg weiterhin mit.
-
Huhu Rivendell!
Ich lese natürlich weiter brav mit, habs irgendwie aber immer verpeilt auch was zu schreiben.
Ich finds toll, wie sich die Story weiter entwickelt. Es is ja so viel passiert, dass ich gar nicht alles zusammenfassen kann. Ich wollt mich nur melden, damit Du nicht denkst, ich bin Dir untreu geworden
-
Liebe Nonuna und ronron,
das mit den Depressionen hast Du klasse erklärt, Nonuna. Ich finde es schon interessant, dass man in ärmeren Ländern keine Depressionen vorfindet. Aber darum heißen solche Krankheiten ja auch gerne "Zivilisationskrankheiten" - wie beispielsweise auch ADHS (Hyperaktivität), Neurodermitis, Ess-Störungen usw.
Es gibt auch viele depressive Menschen, die nicht an einer Behinderung leiden und bei denen die Auslöser nicht rein physiologisch sind (Psyche und Körper sind ja eng verbunden, von daher ist es ohnehin fast unmöglich, sie streng auseinander zu halten) und trotzdem ist es in etwa so, dass wenn man ihnen sagt: "Ach junge, sei doch einfach mal happy, dein Leben ist toll", als würdest du jemandem mit einer Neurodermitis (die in vielen Fällen auch oft von der seelischen Komponente mitbestimmt wird ... ich leide leider selbst darunter und weiß, wovon ich spreche) sagen: "Hör doch einfach mal auf zu kratzen."
Ich denke, dass in ärmeren Ländern diese Krankheiten eher untergeordnet sind, obliegt vermutlich einem natürlichen Gesetz, weil die Probleme dort einfach andersartig sind. Und es ist ja erwiesen, dass arme Menschen dennoch oft irgendwie glücklicher oder genauso glücklich sind wie Menschen aus den Zivilisationsländern. Die Probleme haben sich hier anscheinend verlagert.
Also auch meine Bitte, auch weil mir das Thema ebenfalls aus vielerlei Gründen am Herzen liegt - stell es nicht als eine Kleinigkeit hin, die man "einfach so" wegdenken kann. Depressionen SIND echte Krankheiten, wovon sie auch immer ausgelöst worden sein mögen und ernst zu nehmen, weißt Du. Auch wenn es mir einleuchtet, dass man als Außenstehender denkt: Dem geht es doch gut. Das ist aber nicht so. Es geht ihm eben nicht gut.
Genauso wenig wie jemandem, der eine rein physiologische Krankheit hat und dafür eben gut gelaunt sein mag.
-
„Hör zu, Tessa“, fuhr Jasmin fort und sah sie fest an. „Mach dir bitte keine Vorwürfe, dass Jess abgehauen ist. Und stell nicht seine Liebe in Frage deshalb. Es hat nichts miteinander zu tun, wirklich nicht. Ich spreche da aus Erfahrung…“
Sie lächelte Tessa mitfühlend an. „Was hast du gemacht, nachdem er fort war? Geht es dir inzwischen besser? Du siehst eigentlich sehr gut aus… ganz anders als im Vorjahr.“
„Nun, nach einer Weile hab ich wohl eingesehen, dass ich irgendwie weiterleben muss“, seufzte Tessa und sammelte sich wieder, ehe sie mit fester Stimme weiter sprach: „Ich vermisse ihn immer noch und wünschte so sehr, er käme zurück oder ich wüsste wenigstens, was mit ihm geschehen ist, damit ich es abschließen kann. Aber noch geht das nicht. Trotzdem lebe ich mein Leben und bin eigentlich recht glücklich. Ich hab viele neue Freunde gefunden und studiere jetzt schon fast seit einem Jahr, auch das macht mir viel Freude.“
Jasmin lächelte. „Du bist ein wirklich starker Mensch, Tessa.“
Tessa seufzte. „Das sagen mir so viele, aber ich fühl mich meist nicht so.“
Sie lächelten sich an und schwiegen eine Weile.
Es schien, als sei nun alles gesagt worden, jetzt, da beide ihre Gefühle so nach außen gekehrt hatten. Nach einer Weile fröstelte es Tessa, was Jasmin bemerkte. Sie lächelte und sagte: „Mir wird auch kalt. Es ist nicht unbedingt das geeignete Wetter, um lange draußen zu stehen und zu quatschen, fürchte ich.“ Sie lachte und Tessa stimmte ein.
„Da hast du wohl recht…“
„Also, Tessa … wollen wir in Kontakt bleiben?“
„Aber sicher“, antwortete diese schnell. „Ich mag dich nicht noch mal aus den Augen verlieren.“
Sie zog ein Stück Papier aus ihrer Jackentasche und wie sich herausstellte, fand sich in Jasmins Mantel auch ein Stift, so dass beide ihre Telefonnummern austauschten.
Danach sahen sie sich lächelnd an und umarmten sich nocheinmal.
„Mach´s gut, Tessa. Wir telefonieren. Und mach dir nicht so viele Gedanken wegen Jess. Du hast alles für ihn getan, was du tun konntest.“
Tessa nickte. „Ich weiß….“
Lächelnd lösten sie sich voneinander und winkten sich noch einmal kurz zu, dann setzten sie ihren Weg fort. Tessa drehte sich an der Straßenecke noch einmal herum und sah Jasmin als kleinen, schwarzen Punkt im stärker werdenden Schneefall um eine Ecke biegen und verschwinden.
Tessa rieb sich die eiskalten Hände und starrte in den Himmel. In ihr schmerzte es, als habe sie ihre Seele über ein Stück Sandpapier gezogen. Obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, hatte die Begegnung mit Jasmin sie innerlich sehr aufgewühlt. Es war, als sei ihr ein Stück Vergangenheit über den Weg gelaufen.
Tessa seufzte und starrte auf ihre vom Schnee weiß gepuderten Fußspitzen. Die Kälte drang inzwischen schneidend durch ihre Kleider. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und als habe diese Berührung etwas in ausgelöst, befreite sich plötzlich ein leiser Schluchzer aus ihrem Mund. Sie stand da, hielt sich selbst umschlungen und weinte. Sie weinte, weinte um den letzten Funken Hoffnung, den sie durch Jasmins Schilderungen verloren hatte.
Denn sie wusste, dass diese recht hatte. Jess war nicht mehr hier, und egal, wo er hingegangen war und egal, ob er in jenem Februar der Vergeltung der Hellows entkommen war… vermutlich war er längst schon nicht mehr Bestandteil dieser Welt… und wenn doch, dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich diese Tatsache ändern würde. Eine Zeit, in der sie ihn nicht erreichen konnte, ihm nicht helfen… ihn nicht bei sich spüren.
Er war für sie verloren. Endgültig und für immer.
Sie richtete ihr tränennasses Gesicht gen Himmel. Sanfte Schneeflocken fielen um sie herum zu Boden. Es war vorbei, das wusste sie nun mit schmerzlicher Endgültigkeit.
Fortsetzung folgt..... -
Jasmin seufzte. „Ich habe am fünfundzwanzigsten Februar mit der Entziehungskur begonnen“, sagte sie. „Solange habe ich mich noch in der Szene aufgehalten, aber ich hab Jess nie mehr gesehen…“
Tessa schluckte beklommen. „Was denkst du, was das heißt?“
Jasmin seufzte. „Ich weiß es nicht. Im Bestfall war er schlau genug, sich nur den ersten, nötigen Vorrat an Drogen in dieser Stadt zu besorgen und dann irgendwo unterzuschlüpfen, am besten in einer anderen Stadt, am besten so weit weg wie möglich. Denn auch in den Nachbarstädten haben die Hellows oft Spitzel.“
Tessa nickte. „Das hab ich mir auch gedacht…“
Jasmin sah sie aufrichtig an. „Aber vielleicht ist er auch zurück gegangen und sie haben ihn gefunden, Tessa…“
„Denkst du denn, sie haben ihn umgebracht?“ erwiderte Tessa mit zittriger Stimme.
Jasmin zuckte die Schultern. „Denen ist alles zuzutrauen. Sie sind brutal. Aber umbringen tun sie nur in den seltensten Fällen… trotzdem… ich meine, es war Winter, Jess war nicht gerade in der besten Verfassung… es würde schon reichen, wenn sie ihn nur zusammengeschlagen und irgendwo liegen lassen haben. Er wäre nicht der erste, der erfroren ist.“
Sie sah Tessa mitfühlend an. Diese schüttelte jedoch den Kopf und berichtete von ihren Nachforschungen in der Drogenbehörde.
Jasmin seufzte. „Das ist ein Hoffnungsschimmer, Tessa, aber die wissen auch nicht über jedes Opfer Bescheid… manchmal verschwinden Menschen sozusagen einfach“ Sie schwiegen wieder einen Moment, dann fiel Tessa etwas ein.
„Jasmin – du sagtest, deine Mutter habe dich durch einen Streetworker gefunden. Wäre das nicht auch eine Idee, um Jess zu finden?“
Jasmin schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, Tessa… ich denke nicht, dass die was rausfinden würden. Weißt du… meine Mutter wusste sehr viel über mich… sie hatte Fotos und all sowas. Aber was wüsstest du schon über Jess, außer dass er Heroin nimmt, wie er heißt und dass er gut malen kann… ich habe mich mit den Streetworkern unterhalten und sie sagen, dass sie nur eine Chance haben, die Leute zu finden, wenn sie sehr, sehr viel über sie wissen und sie sich dazu noch in derselben Stadt und in der öffentlichen Szene aufhalten. Aber wenn Jess irgendwo untergetaucht ist, wird ihn kein Streetworker finden können. Schon gar nicht mit den wenigen Informationen, die du über ihn hast. Und ich kann dir auch nicht helfen, denn ich weiß auch nicht viel mehr von Jess.“
Tessas Herz sank, dann fiel ihr noch etwas ein. „Aber er hat doch eine Großmutter, oder? Im Altersheim…“
Jasmin schüttelte den Kopf. „Sie ist vergangenes Jahr gestorben, kurz vor Weihnachten. Hat er das nicht erzählt?“
„Was? Nein… nein, das hat er nicht…“, stammelte Tessa schockiert. „Aber wieso nur nicht?“
Jasmin sah sie ratlos an. „Vielleicht wollte er dich nicht damit belasten. Sie hat ihm nichts hinterlassen… ich glaube, er hat eine Weile darauf gehofft, dass sie ihm irgendetwas vererbt oder so… vielleicht hätte er dann eine Hoffnung auf ein neues Leben gehabt. Aber sie war wohl am Ende selbst schon ein Sozialfall. Und Jess hat nur von ihrem Tod erfahren, weil er sie vor Weihnachten immer besucht hat… einmal im Jahr. Obwohl sie ihn natürlich gar nicht mehr wirklich erkannt hat…“
Tessa fühlte einen scharfen Stich in ihrer Brust. Wieso hatte Jess ihr das nicht erzählt? Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie wenig sie wirklich von ihm gewusst zu haben schien. Alles an ihrer Beziehung war seltsam gewesen, fast verquer.
„Wenn wir noch mal von vorne anfangen könnten, würde ich alles anders machen“, seufzte sie leise.
„Was sagst du?“
Tessa sah Jasmin traurig an. „Ach nichts … ich glaube nur, ich hab nicht genug über Jess gewusst.“
Jasmin sah Tessa offen an. „Tessa – ich hoffe, du weißt trotzdem, was du Jess bedeutet hast. Er hat dich wirklich über alles geliebt, Tessa. Das hat er mir so oft gesagt, und das hat man auch gespürt. Ich habe wirklich für ihn gehofft, dass er in dir die Perspektive findet, die ihn aus allem herausbringt. Aber der Kampf gegen die Drogen ist hart…“, sie seufzte. „Und er hört niemals auf.“
Tessa nickte abwesend. „Und offen gestanden, Tessa… ich weiß, dass dir das weh tun wird, aber ich muss es sagen. Jess war schon eine Weile bevor ihr euch getroffen habt, heroinsüchtig… es ist nun ein weiteres Jahr vergangen und… ich will damit nur sagen, dass…“, ihr fiel es schwer, die Wahrheit auszusprechen. „Tessa… die wenigstens überleben das so lange.“ Es herrschte eine Weile Schweigen zwischen beiden, Tessa starrte auf den Boden und sah wie versteinert aus. Sie wusste, dass Jasmin recht hatte. Darüber nachgedacht hatte sie selbst schon so oft. Langsam nickte sie und flüsterte leise. „Ich weiß… ich käme wohl ohnehin zu spät.“*geht noch weiter*
-
Kapitel 57
Clean
Die beiden Frauen standen einige Sekunden schweigend und bewegungslos voreinander, dann löste sich ihre überraschte Anspannung in einem leichten Lachen und sie umarmten sich herzlich, fast wie alte Freundinnen.
„Meine Güte, Jasmin“, stieß Tessa dann hervor und musterte ihr Gegenüber erstaunt. „Ich hätte dich wirklich kaum wieder erkannt. Du siehst völlig verändert aus… viel besser als vor einem Jahr.“
Jasmin lächelte. „Ja, es ist auch viel passiert in diesem Jahr, weißt Du. Aber auch du hast dich sehr verändert, Tessa. Ich hätte dich ebenfalls kaum erkannt.“
„Was ist in diesem Jahr geschehen?“
Die beiden schauten sich einen Moment verblüfft an und mussten dann ob der Tatsache, dass aus ihren beiden Mündern dieselbe Frage zeitgleich gedrungen war, laut auflachen.
„Sag du zuerst“, kicherte Tessa dann und sah Jasmin fragend an. Sie versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. Dass Jasmin ausgerechnet jetzt auftauchte – und so verändert… der einzige Mensch, den sowohl sie als auch Jess gekannt hatte…
Die Fragen in ihrem Kopf ließen sich kaum nach hinten drängen… wusste sie etwas über Jess? Konnte sie ihr vielleicht sogar sagen, wo er sich aufhielt?
Doch Tessa drängte das Bedürfnis, Jasmin sofort mit ihren Fragen zu bestürmen, zurück und hörte ihr so aufmerksam wie möglich zu, als sie zu erzählen begann.
„Ich habe Ende Februar eine Erziehungskur angefangen“, begann Jasmin und sah Tessa offen an. „Es war hart, aber ich hab diesmal durchgehalten.“
„Das find ich wunderbar“, erwiderte Tessa aus vollem Herzen, auch wenn irgendein stachliges, kleines Ungeheuer in ihr schrie: „Warum du und nicht Jess?“
Schnell schleuderte sie diese ungebührlichen Gedanken ab und wandte sich wieder Jasmin zu.
„Wie ist es dazu gekommen?“
„Irgendwann im Februar kam plötzlich ein Sozialarbeiter auf mich zu, ein Streetworker“, erklärte Jasmin ruhig. „Er war ganz nett und verständnisvoll und hat eine Weile bei uns in der Gruppe verbracht. Irgendwann hat er mich zur Seite genommen und mir gestanden, dass er mich gesucht habe… weil meine Mutter diese wohltätige Firma, für welche die Streetworker arbeiten, kontaktiert hat.“
Tessa sah Jasmin erstaunt an. Sie konnte sich noch gut an deren Geschichte erinnern, von der schwachen Mutter, die gegen ihren neuen und offenbar alkoholsüchtigen Freund nicht ankommen konnte, so dass Jasmin das Weite gesucht hatte.
Jasmin beobachtete ihren Gesichtsausdruck und nickte. „Ja, ich war ähnlich erstaunt, hat es meine Mutter doch so lange offenbar nicht wirklich gekümmert, was aus mir geworden ist. Aber sie hat sich geändert, Tessa. Ihren alkoholsüchtigen Freund endlich in die Wüste geschickt, ihr Leben in die Hand genommen und nun wieder eine Arbeit gefunden und eine hübsche neue Wohnung. Ihr tat es so leid, dass sie mich damals im Stich gelassen hat. Sie sagte, sie habe immer an mich gedacht und einige Male auf eigene Faust versucht, mich zu finden. Aber ihr war ja klar, dass ich nicht zurück komme, so lange er noch da ist… und offenbar stand auch sie in unter seinem Scheffel und musste Angst haben… aber irgendwann war der Mut wohl groß genug, und sie hat ihn angezeigt, nachdem er sie einmal geschlagen hatte…“
Tessa schluckte. Immer wieder schockierte sie es zu hören, wie furchtbar der Alltag mancher Menschen war. Ihr eigenes Leben erschien ihr in diesem Moment einmal mehr wie das Leben im Schlaraffenland.
„Naja – jedenfalls hat meine Mutter mich dann also mithilfe der Streetworker-Gemeinschaft gesucht. Und einer von ihnen hat mich gefunden und ein Treffen mit ihr organisiert. Sie hat sich so verändert, Tessa… und mir all ihre Hilfe angeboten. Ich glaube, das hat mir letztlich die Kraft gegeben, noch einen Entzug zu versuchen. Ich bin in eine Klinik gegangen und habe dort ein Vierteljahr verbracht. Danach bin ich wieder zu meiner Mutter in ihre neue Wohnung gezogen und seither besuche ich weiterhin einmal wöchentlich eine Therapeutin. Manchmal kommt Mama mit, denn auch sie hat eingesehen, viele Fehler gemacht zu haben. Ich bin jetzt also seit fast einem Jahr clean.“
Tessa lächelte sie herzlich an. „Mein Gott, Jasmin, das freut mich so für dich, dass sich alles so zum Guten entwickelt hat… wirklich. Wie geht es jetzt weiter?“
Jasmin zuckte mit den Achseln, lächelte aber. „Weißt du, im Moment genieße ich einfach nur mein neues Leben. Endlich wieder ein warmes, weiches Bett zum Schlafen, schöne Kleider und eine ordentliche Frisur“, sie wies auf ihre kurzgeschnitten, mit einem Haarband zurückgehaltene Haare. „Gerade anfangs erschien mir all das einfach nur paradiesisch.“
„Wir sind auf einem guten Weg, Mama und ich“, fuhr sie dann fort. „Ich werde im Sommer wohl anfangen, meinen Realschulabschluss nachzuholen und versuche danach, irgendwo eine Lehre zu machen, ich hoffe, ich werde noch genommen, aber ich bin ja noch nicht so alt… nur meine Vergangenheit könnte halt ein Problem werden.“
Tessa ergriff spontan Jasmins kalte Hände und drückte sie. „Das wird schon, Jasmin. Ich bin da guter Dinge. Es wird Menschen geben, die sehen, was du durch den Entzug und die Rückkehr ins Leben geschafft hast, und nicht, was du nicht geschafft hast. Bestimmt…!“
Jasmin lächelte. „Du bist so lieb, Tessa. Das warst du schon immer. Und ich hoffe, du hast recht, bin aber selbst ganz optimistisch. Mama verdient inzwischen ganz gut, und ich denke, ich kann zur Not auch noch ein paar Jahre bei ihr wohnen, wenn alles so läuft. Irgendwann finde ich schon eine Lehrstelle. Aber nun mal genug von mir. Was ist mir dir geschehen? Wie geht es Jess?“
Tessa schluckte und sah Jasmin betroffen an. „Ich… ich hab gehofft, dass du mir das sagen könntest…“, stammelte sie hilflos.
Jasmin sah sie verwirrt an. „Oh… ich? Nein, Tessa, ich war doch schon seit fast einem ganzen Jahr nicht mehr in der Szene… ich habe Jess schon so lange nicht mehr gesehen… aber ich dachte, er wäre bei dir, habe es auch geschafft…“
Tessa schüttelte traurig den Kopf. „Nein… nein… hat er nicht. Er hat es versucht…“
Jasmin sah sie mitfühlend an. „Ich weiß nur noch, dass ich dich damals im Bahnhof gefunden hab und du nach ihm gesucht hast. Nachdem du weggelaufen bist, hab mich mir große Vorwürfe gemacht. Aber die beiden Jungs, mit denen Jess bei den Hellows untergetaucht ist, sind einen Tag später zurück gekommen und haben erzählt, dass ein fremdes Mädchen, das ganz sicher nicht der Szene angehört, in den Unterschlupf der Hellows eingedrungen ist und es dort Ärger gab und dass Jess etwas davon gesagt habe, sie sei seine Freundin und mit ihr abgehauen wäre… die Jungs konnten sich irgendwie aus der Sache heraus schlängeln, sind danach aber dann doch lieber untergetaucht… mit den Hellows war nie zu spaßen. Jedenfalls hab ich eins und eins zusammengezählt und wusste natürlich, dass du das warst, da bei den Hellows.“ Sie sah Tessa angsterfüllt an. „Mensch, Tessa, wenn ich geahnt hätte, dass du dahin gehst, hätte ich dir nie was gesagt. Das war verrückt!“
Tessa nickte. „Ich weiß“, seufzte sie und dachte mit Schaudern an jene Nacht zurück, die, wie sie heute wusste, eigentlich nur der Anfang vom Ende gewesen war. „Es war eine Kurzschlussreaktion…“
Jasmin nickte und sah sie fragend an. „Da Jess nicht zurück kam, bin ich also davon ausgegangen, dass er bei dir untergetaucht ist… vermutlich sogar entzogen hat, denn um an Drogen zu kommen, hätte er ja irgendwann doch wieder in die Szene zurückkommen müssen… vermutlich zumindest.“
Tessa schüttelte erneut traurig den Kopf. „Nein, Jasmin. Du hast insofern recht, dass dieses Ereignis ihn für eine Weile wachgerüttelt hatte und er beschlossen hat zu entziehen… allerdings nicht in einer Klinik, sondern bei mir zu Haus.“
Jasmins Augen weiteten sich und sie sah Tessa beklommen an.
„Du hast ihn doch hoffentlich von diesem Wahnsinn abgebracht?“
Tessa seufzte. „Ich dachte, wenn ich ihn dazu zwinge, in eine Klinik zu gehen, überlegt er es sich womöglich doch noch anders. Naja – lange Rede, kurzer Sinn… es hat nicht funktioniert und eines Morgens war er fort…“ Sie sah Jasmin traurig an. „Ich hab ihn seitdem nicht mehr gesehen.“
Die beiden schwiegen einen Moment betroffen. Dann hob Jasmin wieder die Stimme.
„Und wann war das?“
„Jess ist am dreizehnten Februar abgehauen“, erwiderte Tessa mit fester Stimme.*geht noch weiter*
-
Gwendoline: Schön, dass Du Dich auch als stille Leserin hier "outest" sozusagen! Ich freu mich immer über "neue" Leser/innen
Ob Deine Vermutung bzgl Jasmin stimmt, wirst Du heute rausfinden
Danke für diesen lieben und lobesreichen Kommi!!!@Scotty: Hihi, ja die Überschriften sind zurzeit immer vieldeutig.
Vielleicht ist es Jasmin, das kann schon sein. Ich kann gar nicht viel antworten, weil ich dann zuviel verrate. Einfach das Kapitel lesen
Danke für Deinen KOmmi!
@JaneEyre: Oh weh, bin ich zu schnell? Ich kann mich nie zügeln.
Also, Du hast erkannt, dass es nicht jess sein konnte. Niklas wäre natürlich auch eine Idee gewesen (ich krame gerade in meinem Gedächtnis, wo der eigentlich steckt, sowohl simlisch als "echt"... :misstrau)Tante Tru war für Tessa natürlich eine tolle Überraschung, stimmt. Dass das Verhältnis zu den Eltern so schlecht ist, liegt sicher auch daran, dass Tessa sich so weiterentwickelt hat und ihre Eltern nicht dran teilhaben konnten.
Das ist schon traurig, ja... aber irgendwie nicht zu ändern.Was Du über Tru sagst, stimmt - sie hätte sich nur Sorgen gemacht um Tessa. Und vermutlich musste Tessa wirklich alleine durch. Es gibt einen Spruch, der heißt, dass man in den schlimmsten und schönsten Momenten seines Lebens meistens immer alleine ist... ich weiß nicht, ob man will, dass das stimmt, fürchte aber, da steckt viel Wahrheit drinnen.
Um Deine Frage nach der Wohnung zu beantworten: Ja, Tessa hat eine neue Couch bekommen und ein paar neue Bilder, aber ansonsten ist noch alles beim Alten!
Wegen der Winterbilder, das freut mich, dass es Dir gefällt. Ich bin im Spiel so froh um VJZ, das ermöglicht diese tollen Bilder erst so richtig.
Danke für Deinen tollen Kommi!
Llynya: Mh, ja - ich gebe DIr recht. Joshua ist so ein Punkt, wo ich wirklich zugeben muss, dass dieser Mann wohl eher fiktiv ist. Oder dieser MENSCH, ich denke, das hat nichts mit Mann oder Nicht-Mann zu tun. Welcher Mensch würde sich schon so verhalten? Auf der anderen Seite glaube ich, es gibt diese Menschen vielleicht doch... man kann es sich nur nicht vorstellen, weil sie so selten sind oder man sie vielleicht manchmal auf einfach übersieht?Wegen tessa und Joshua... ja, es ist ja immer noch die Möglichkeit da, dass sie sich doch noch näherkommen. Wenn Tessa vielleicht einmal soweit ist, die Sache mit Jess abgeschlossen hätte... warum nicht?
Was Tru angeht und ihre Reaktion, stimme ich Dir voll zu. Ich denke auch, dass es für tessa nun nochmal die Bestätigung war, dass die "wahren" Freunde auch zu ihr halten und es nicht nur Menschen gibt, die sie verurteilen.
Du wirst übrigens als Erste die Theorie auf, dass die unbekannte Begegnung eine ganz neue Person sein könnte
Das find ich gut, weil das ja wirklich der Fall ist, dass es das auch sein könnte. Oder traut ihr mir in diesem fortgeschrittenen Status der Story keine neuen Personen mehr zu ? *lach*
Naja, wir gehen ja so langsam, gaaaaaaanz langsam, auch aufs Ende zu, das muss ich zugeben... aber NOCH ist noch nicht aller Tage Abend und wer die Person sein wird, werdet ihr heute herausfinden.
-
Tessa musste ihr zustimmen. Sie hatte in diesem Jahr wahrlich gelernt, wer ihre wahren Freunde waren und wer nicht. Und dieser Tag schien dies noch einmal besonders deutlich widerzuspiegeln. Eben auch weil er in seinem so wundervollen Kontrast zum Vorjahr stand.
Nach diesem ernsten Gespräch war die Stimmung sofort wieder lockerer geworden und die Mädchen hatten ausgelassen gelacht und getanzt.
Als Tru sich dann nach einigen Stunden verabschiedete, da sie müde war, hatte sie Tessa in eine warme Umarmung gezogen.
„Ach, mein Mädchen – ich bin so froh, dass ich hier sein konnte an diesem besonderen Tag!“
Tessa lächelte erneut. Ja, sie war glücklich. Sie hatte Menschen um sich, die sie liebten, zu ihr hielten und sie nicht im Stich ließen. Wer konnte das schon so ohne weiteres von sich behaupten?
Völlig in Gedanken versunken wechselte sie die Straßenseite.
Sie dachte weiter nach. Über das, was dieses Jahr ihr bringen mochte. Bald war sie schon seit einem Jahr an der Uni. Allein das schien ihr unvorstellbar. Noch drei weitere Jahre und sie würde ihr Diplom in den Händen halten, sofern denn alles gut und glatt liefe.
Was sie danach machten wollte, wusste sie noch nicht. Sie wusste nur mit immer größer werdender Sicherheit, dass sie nicht wieder zurück in ihre alte Redaktion gehen würde.
Sie wollte etwas anderes tun, etwas nützlicheres…
Tessa war so in ihre Grübeleien vertieft, dass sie kaum merkte, wie jemand ihr auf dem schmalen Gehweg entgegenkam und sie fast streifte.
„Tessa? Tessa, bist du das?“ riss eine Stimme, die ihr seltsam vertraut, im ersten Moment dennoch fremd erschien, aus ihren Gedanken.
Tessa drehte sich zu der Person, die eben an ihr vorbeigegangen und nun kurz hinter ihr zum Stehen gekommen war, um und musterte sie einen Moment verwirrt.
Dann überzog verblüffte Überraschung ihr Gesicht, als sie ihr Gegenüber endlich wieder erkannte.
„Du?“ rief sie verblüfft aus. „Mein Gott… ich… ich hätte dich kaum mehr erkannt!“
Die junge Frau ihr gegenüber lächelte milde und erwiderte: „Ich weiß – ist ja auch viel Zeit vergangen, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben.“
Tessa stand wie vom Donner gerührt und suchte nach Worten. Sie konnte nicht fassen, dass sie ihr wahrhaftig gegenüber stand.
Die beiden Frauen musterten sich eine Weile schweigend und blieben unbeweglich voreinander stehen. Um sie herum nichts als das knisternde Geräusch der zum Himmel sinkenden Schneeflocken und die feierliche Stille des Neujahrstages.
Fortsetzung folgt. -
Kapitel 56
Eine überraschende BegegnungDer Winter hatte endgültig Einzug gehalten. Der November war mit wenig Schneefall, aber eisigen Herbststürmen vorbei gezogen.
Der Dezember jedoch hatte starke Schneefälle und eisige Temperaturen gebracht. Seither war die Stadt in ein weißes, bauschiges Kleid gehüllt.
Weihnachten war vorbeigezogen, ein weißes Weihnachten – wie auch schon im Jahr zuvor.
Tessa spürte den Schnee unter ihren Schuhen knirschen. Inzwischen hatte sie sich wieder an das Geräusch gewöhnt, die unangenehmen Empfindungen, die sie damit in Verbindung gebracht hatte, zurück gedrängt.
So sehr sie sich auch vor dem Winter gefürchtet hatte – nun, da er gekommen war, genoss sie ihn.
Tessa sog die klare, kalte Luft tief ein. Es war der Neujahrstag, und auf den Straßen war es ungewöhnlich ruhig. Doch sie hatte es hinaus getrieben an die Luft.In den letzten Wochen war der Schnee ihr wie ein alter Vertrauter geworden. Jemand, der sie verstand. Auch wenn sie natürlich wusste, dass derartige Gedanken unsinnig waren – Schnee war nichts als gefrorene Wassertropfen, die sich zusammenbauschten und das Licht der Sonne reflektierten. Und doch war der Schnee ihr vertraut, er erinnerte sie an eine Zeit, an die sie inzwischen immer seltener mit Wehmut und Trauer zurückdachte und dafür immer öfter mit liebevoller Sehnsucht und dankbarer Zuneigung.
Tessa steckte die Hände in ihre Manteltaschen, um sie vor der stechenden Kälte zu schützen. Sie ließ die letzten Wochen vor ihrem inneren Auge Revue passieren.
Weihnachten war ereignislos vorüber gezogen. Sie hatte nur am Heiligen Abend einige Stunden mit ihren Eltern verbracht. Und selbst diese hätte sie sich fast sparen können, dachte Tessa bei sich. Es schien, als stände alles, was ihr in den letzten anderthalb Jahren widerfahren war, zwischen ihr und ihren Eltern. Sie war ein anderer Mensch und diese begriffen es nicht. Es fehlte jegliche Basis, um sich näher zu kommen.
Umso wärmere Gedanken hatte sie an ihren Geburtstag, den sie gemeinsam mit all ihren Freunden und Tru verbracht hatte.
Natürlich hatte Tru ihre eine Torte gebacken und eine Menge brennender Kerzen darauf gesteckt. Als Tessa zum Pusten ansetzen wollte, hatte sie gerufen: „Denk dran, du musst dir etwas wünschen!“ Tessa hatte die Augen geschlossen und genau gewusst, was sie sich wünschte…
Der Abend war entspannt und fröhlich verlaufen, mit viel Spaß, Musik und Tanz. Sogar Tru hatte ein flottes Tanzbein bewiesen, was Tessa ehrlich erstaunt hatte. So hatte sie ihre Ziehmutter bisher selten zu sehen bekommen.
In Gedanken daran flog ein Grinsen über ihr Gesicht. Ihre Eltern waren an jenem Abend nicht zugegen gewesen – Tessa hatte ihnen gesagt, sie feiere mit ihren Freunden und darum hatten sie sich nur am Nachmittag kurz blicken lassen. Sie hatten seltsamerweise nur sehr wenig gefehlt…
Auch Joshua war natürlich da gewesen und hatte sie irgendwann im Laufe des Abends fest in seine Arme gezogen. Das war fast ihr schönstes Geschenk gewesen, war er die zwei Monate zuvor doch verständlicherweise recht sparsam mit jedweder Annäherung gewesen.Doch diese Umarmung war gewesen wie jene, die am Anfang noch normal zwischen ihnen gewesen waren – herzlich, innig… aber ohne Erwartung. Freundschaftlich.
Ohne wahre Freunde war ein Geburtstag eben nur ein Datum auf dem Kalender. Mit guten Freunden jedoch war er das, was er sein sollte – ein besonderer, glücklicher Tag, an dem man das Leben an sich feierte.
Tessa musste zugeben, dass zwar auch im vorigen Jahr einige Namen in ihrem Adressbuch gestanden hatten, aber sie kaum jemand an ihrem Geburtstag angerufen oder auch nur eine simple E-Mail geschrieben hatte. Sie konnte sich nur gut an das Gefühl der Einsamkeit in jenem Jahr erinnern und musste wieder feststellen, wie sehr zum Guten sich ihr Leben doch gewendet hatte.
Wie anders war es doch in diesem Jahr gewesen. Sie hatte Feli irgendwann im Laufe des Abends erzählt, wie ihr Geburtstag im Vorjahr gewesen war. Diese hatte sie traurig angesehen und dann wieder gelächelt. „Das wird jetzt nie wieder so sein“, hatte sie dann gesagt und Tessa gedrückt. „Jetzt hast du ja uns alle. Und weißt du, gerade an solchen Tagen erkennt man oft, wer die wahren Freunde sind und wem man wirklich wichtig ist.“ -
@ineshnsch: Ja, das stimmt, ich denke auch, wenn Trudy das alles im Jahr vorher erfahren hätte, da hätte sie auch anders reagiert, ist ja auch normal man macht sich da doch auch einfach Sorgen und ist ängstlich. Aber für Tessa ist es sehr wichtig, im Nachhinein zu merken, dass sie ihr Verhalten nicht verurteilt.
Ob Joshua sich gegenüber Tessa wieder lockern kann, wird man bald erfahren.
Danke für Deinen Kommi!
@Scotty: hihi, ja das war etwas irreführend, ich gebe es zu und mich als Schuldig zu erkennen
Zu Joshuas Frisur - ja, ist halt was wuscheligShareena: Stimmt, dass Jess anruft, wäre wohl eher unwahrscheinlich
Dass Tru zu Tessa hält, ist ja fast Ehrensache stimmt. Obwohl ich auch denke, wenn sie es ihr damals gesagt hätte, wäre die Reaktion anders gewesen.@ALL: Danke für eure KOmmis! Hab heute wenig zeit, daher nur ganz fix das nächste Kapitel!
-
Der Psychiater lächelte nur herablassend. „Frau Schumann – es ist ganz klar, dass Sie zu wenig an sich denken. Ich gebe Ihnen einen gut gemeinten Rat. Ich würde Ihnen vorschlagen, sich für eine Weile von Ihrem Mann und Ihrer Familie zu trennen, um sich selbst zu finden.“
Alexandra starrte den dümmlich lächelnden Mann vor sich an und fragte sich einen Moment lang, ob sie sich verhört habe.
„Wie bitte?“
„Eine Trennung auf Zeit gäbe Ihnen die Möglichkeit, sich über Ihre tiefsten Gefühle und Bedürfnisse klar zu werden…“, setzte dieser an, doch Alexandra war aufgesprungen und fiel ihm schneidend ins Wort. „Sagen Sie mal, guter Mann, haben Sie eigentlich den Verstand verloren? Sind Sie verheiratet? Haben Sie Familie?“
Irritiert sah der Psychiater sie an. „Das… tut nichts zur Sache“, erwiderte er dann peinlich berührt.
Alexandra schnaubte aus. „Dachte ich mir. Sie sind vermutlich einer dieser ewigen Junggesellen. Nun ja… dann lassen Sie mich mal was erklären, Herr Neunmalklug. Eine Familie zu haben und verheiratet zu sein bedeutet eine gewisse Verpflichtung. Ich habe Kinder, die ihre Mutter brauchen. Ich kann nicht einfach die Tür zu machen und sagen, dass ich jetzt mal eine Auszeit brauche. Wenn mein Mädchen hinfällt und sich das Knie blutig schlägt, kann ich sie nicht wegschicken, weil ich gerade dabei bin, meine tiefen Gefühle zu suchen. Sie will dann getröstet und gehalten werden, und sie hat verdammt noch mal das Recht dazu. Mein Sohn möchte, dass ich ihn lobe, wenn er eine gute Note nach Haus bringt. Ihm ist es egal, ob ich gerade dabei bin, meinen Seelenfrieden zu erforschen. Ich kann nicht einfach meine Koffer packen und gehen, so als wäre mein Zuhause und meine Familie irgendein beliebiges Hobby, von dem ich mal eine Pause nehmen möchte.“
Sie funkelte den Psychiater wütend an. „Und über dies hinaus habe ich einen Mann, den ich liebe und der mich liebt. Ich will abends an seiner Seite einschlafen und morgens neben ihm aufwachen! Er braucht mich, ich ihn – so einfach ist das! Ich weiß wirklich nicht, wofür man Menschen wie Sie jahrelang auf eine Universität schickt, wenn solche Ratschläge dabei herauskommen! Das soll also Ihre Hilfe für meine Probleme sein? Ich kann froh sein, dass Sie kein Chirurg geworden sind. Wenn jemand mit einem gebrochenen Bein käme, vermute ich, dass Sie es einfach abhacken würden, was?“
Der Psychiater war blass geworden und starrte Alexandra schweigend an.
Diese winkte verächtlich ab, nahm ihre Tasche in die Hand und drehte sich an der Tür noch einmal herum.
„Ich würde dieses amüsante Gespräch wirklich gerne weiterführen, aber es ist bereits fünf Uhr und meine Kinder brauchen bald ein warmes Abendessen, ungeachtet der Tatsache, dass ich nach diesem Intermezzo eigentlich nicht in der Stimmung danach bin, mich an den Herd zu stellen – aber so ist es nun einmal als Mutter, einem Job, der nicht kündbar ist und den ich auch niemals und für nichts kündigen oder rücktauschen wollte! Ach ja – Sie brauchen sich Ihr Gekritzel über mich in keine Kartei heften. Mich sehen Sie niemals wieder!“
Mit diesen Worten krachte die Tür in Schloss.
Fortsetzung folgt.
-
Wobei man Devin natürlich inzwischen nichts mehr vormachen konnte. Er war alt genug, um zu durchschauen, dass manches in der Familie nicht so lief, wie es hätte laufen sollen.
Der Psychiater nickte. „Ist das inzwischen besser geworden?“
Alexandra seufzte. „Ein wenig. Ich weiß jetzt ja, dass es nichts Organisches ist. Wobei man mir gesagt hat, dass es das noch werden kann, wenn ich es nicht schaffe, es einzudämmen. Aber wenn ich merke, dass es mir schlechter geht, versuche ich mir einfach einzureden, dass da nichts sein kann. So kann ich das Schlimmste verhindern.“
„Wie ist Ihre allgemeine Lebenssituation momentan?“ Der Psychiater beugte sich nach vorne und sah sie aufmerksam an.
„Was meinen Sie damit?“ erwiderte Alexandra leicht genervt.
„Naja – sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben – mal abgesehen von den eben angesprochenen Problematiken?“
Alexandra schwieg. Sie konnte darauf keine Antwort geben. War sie zufrieden mit ihrem Leben?
Eigentlich hätte sie es sein müssen. Moritz war in den letzten Jahren die Karriereleiter in seiner Marketingfirma stetig nach oben geklettert, hatte es inzwischen sogar auf einen führenden Posten geschafft und verdiente dementsprechend gutes Geld. Vielleicht würde er sich bald sogar selbstständig machen können. Alles sprach dafür.
Sie hatte zwei gesunde und eigentlich auch liebe Kinder. Devin war etwas schluderig in der Schule, aber seine Noten waren nie unterdurchschnittlich schlecht. Man musste ihn nur immer wieder antreiben, damit er Leistungen brachte. Und Shylah… nun, sie war ein sehr lebendiges Kind, aber das war ja nichts Schlechtes. Und eigentlich war sie ein braves und liebes Mädchen. Ein warmes Gefühl durchströmte Alexandra, als sie an ihre beiden Kinder dachte. So sehr sie ihr manchmal auch auf die Nerven fielen, so waren sie doch das Licht in ihrem Leben – sie und Moritz.
Moritz – ein Schatten überzog erneut Alexandras Gesicht. Seit er in der Firma aufgestiegen war, hatte sich vieles geändert. Er war jetzt immer sehr spät am Abend erst zu Haus, und dann war er meist müde und abgespannt. Oft brachte er sich auch Arbeit mit. Für die Kinder hatte er wenig Zeit. Und eigentlich mischte er sich kaum in deren Erziehung ein.
Es war eigentlich fast immer das Gleiche. Sie musste tagsüber mit beiden klar kommen, und wenn einer von beiden sich falsch verhielt und dafür bestraft wurde – beispielsweise durch Fernsehverbot oder Hausarrest, weinten sich die Kinder abends bei Moritz aus. Dieser ließ dann oft Güte walten und stellte ihre Strafen in Frage. Für ihn war das alles meist nur „halb so schlimm“. Das machte Alexandra oft rasend. SIE war doch diejenige, die den ganzen Tag alleine mit den Kindern war, nicht er. Und sie musste mit ihnen klar kommen, sie erziehen, aufpassen, dass sie nichts Falsches taten.
Oft war es ihr zuviel, das musste sie zugeben. Wären da nicht ihre Eltern gewesen, die glücklicherweise im selben Ort wohnten, wäre sie wohl vollends durchgedreht. So hatte sie wenigstens die Möglichkeit, die Kinder manchmal bei ihnen zu lassen und sich ein paar Stunden Shopping mit Annabell zu gönnen.
Seit anderthalb Jahren arbeitete sie sogar wieder, zwar nur zehn Stunden pro Woche in einer kleinen Boutique – aber sie kam aus dem ewigen Chaos aus Kindergeschrei und Wohnungsputz heraus, und das war die Hauptsache.
Alexandra sah auf und fühlte den Blick des Psychologen immer noch fragend auf sich ruhen.
„Sind Sie zufrieden?“ wiederholte er seine Frage.
Sie zuckte mit den Schultern. „Zum Großteil, ja“, erwiderte sie dann unsicher. „Es gibt einige Dinge, die ich mir anders wünschen würde…“
„Was beispielsweise?“
„Nun ja – ich wünschte, die Kinder wären nicht immer so anstrengend. Vielleicht sind sie das auch nicht, und ich empfinde es nur so. Ich kann es nicht sagen. Es wäre auch schön, wenn mein Mann etwas öfters zu Haus sein könnte.“
„Und wieso ist er das nicht?“
Alexandra sah den Psychologen überrascht an. „Er hat einen Beruf. Einen wichtigen und guten Beruf. Er ist sehr ehrgeizig und will es zu Etwas bringen.“
„Und wie stehen Sie dazu?“
Alexandra sah ihr Gegenüber fest an. „Es war schon immer Moritz´ großer Traum, einmal eine eigene Firma zu haben, erfolgreich zu sein. Ich wusste das von Anfang an, seit wir geheiratet haben. Und ich teile diesen Traum. Moritz hat viel dafür geschuftet, dass er an diesen Punkt gekommen ist. Er will sich noch dieses Jahr selbstständig machen und ich werde dann mit ihm in der neuen Firma arbeiten. Es ist der Traum von uns beiden. Und der fordert nun einmal Opfer. Abgesehen davon kriegen wir ja auch etwas zurück. Wir haben ein sorgloses Leben und meist genug Geld. Wenn ich bedenke, wie wir vor fünfzehn Jahren, als wir geheiratet haben, anfingen…“
Sie lächelte und dachte an jene Zeiten zurück. Sie hatten in einer kleinen Zweizimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus gewohnt. Dort hinein waren sie direkt nach der Hochzeit gezogen. Alexandras Eltern waren streng katholisch und hätten es nie gestattet, dass sie die Wohnung schon vorher bezogen hätten. Nicht einmal übernachten durfte Moritz bei Alexandra, bis sie verheiratet waren.
Moritz hatte damals schon bei der gleichen Firma wie heute gearbeitet. Nach seiner Lehre war er dort eingestellt worden. Er bildete sich ständig fort, besuchte unter anderem auch die Abendschule und holte sein Abitur nach.
Nach einem Jahr kam Devin zur Welt. Die ersten Jahre der Ehe waren glücklich und harmonisch verlaufen. Noch war Moritz oft da, um seine kleine Familie zu genießen. Devin war zwar kein umkompliziertes Kind gewesen, da er gerade als Baby viel geschrien hatte. Aber zu zweit war die Belastung gut zu meistern. Und da waren ja auch noch ihre Mutter und ihr Vater. Beide nahmen Devin gerne zu sich.
Moritz stieg langsam die Karriereleiter nach oben. Nach dem Abitur schloss er ein Fernstudium an, das ihn noch weiter nach vorne trieb. Doch allmählich wurde die Zeit für die Familie immer knapper. Trotzdem versuchte er sich, überall wo er konnte, Zeit für Devin und Alexandra zu nehmen.
Da er nun auch besser verdiente, reiste die kleine Familie gerne in der Welt umher.
Doch dann wurde Alexandra erneut schwanger, etwa sechs Jahre nach Devins Geburt.
Eigentlich war die Familienplanung schon abgeschlossen gewesen. Die ersten Jahre nach Devin hatten Moritz und sie lange versucht, noch ein Baby zu bekommen. Doch Alexandra wollte und wollte nicht mehr schwanger werden. Sie erinnerte sich noch gut an die Verzweiflung, die sie in jenen Tagen ergriffen hatte. Beide hätten sich so sehr ein Geschwisterchen für Devin gewünscht. Am liebsten natürlich ein Mädchen.
Doch Alexandra begriff, dass dieser Traum sich nicht mehr erfüllen würde. Sie arrangierte sich schweren Herzens mit dem Wissen darum und akzeptierte, dass ihre Familie eben immer nur aus drei Mitgliedern bestehen sollte.
Dann war sie aus heiterem Himmel doch noch schwanger – mit einem Mädchen. Mit Shylah.
Als Shylah auf die Welt kam, war Moritz außer sich vor Freude. Er konnte sich an diesem Kind nicht satt sehen. Auch Alexandra war überglücklich.
Da die Wohnung nun zu klein wurde, beschlossen beide, ein Haus zu bauen. So baute Moritz zum Großteil mit eigenen Händen den kleinen Bungalow, in den die Familie bald darauf einzog. Alexandra war in jenen Zeiten zufrieden. Sie hatte alles, was sie sich gewünscht hatte – ein eigenes Haus mit schicken, neuen Möbeln und vor allem aber zwei wunderbare Kinder, sogar ein Mädchen und einen Jungen. Auch ihre Eltern waren überglücklich. Alles schien wunderbar zu sein.
Doch irgendwann hatte sich alles geändert. Sie hatte bemerkt, dass sie die Belastung, ein schreiendes Baby und einen gerade eingeschulten Jungen zu haben, kaum noch alleine schaffen konnte. Moritz war noch immer an sein Studium begonnen und wenn er abends, meist erst nach achtzehn Uhr, nach Haus kam, schloss er sich oft in sein Büro im Keller ein und büffelte. Sie war alleine mit der fordernden Shylah, die zu einem lebendigen Kleinkind geworden war, und dem schulpflichtigen Devin, der gerade jetzt, wo Shylah sie so forderte, ebenfalls viel Aufmerksamkeit brauchte.
Alexandra sah den Psychiater wieder an, der sie die ganze Zeit schweigend beobachtet hatte.
„Sie stehen also wirklich hinter den Plänen Ihres Mannes?“
Sie nickte. „Natürlich tu ich das.“
„Und was ist mit Ihnen?“
Erstaunt sah sie ihn an. „Wie meinen Sie das?“
„Na, mit Ihnen. Was ist mit Ihren Wünschen? Haben Sie welche?“
Alexandra dachte nach. Sie wusste nicht recht, was sie antworten sollte.
„Ich weiß es nicht – eigentlich haben sich die meisten erfüllt.“
„Aber dennoch sind Sie nervös, unzufrieden und unglücklich.“
Alexandra verzog das Gesicht. „Ich dachte, Ihr Job sei es, mich aufzumuntern und nicht mich herunter zu ziehen?“*geht noch weiter*
-
Kapitel 2
Seufzend sah Alexandra sich in dem schnöden Arztzimmer um. An den Wänden hingen moderne Bilder, die aber für dieses Umfeld viel zu unruhig wirkten.
Die Couch, auf der sie Platz genommen hatte, war zwar bequem, aber wirkte in irgendeiner Form seltsam ungemütlich. Eigentlich ein Paradoxum, dachte Alexandra bei sich, während sie sich bemühte, nicht zu nervös auf den Kissen hin und her zu rutschen. Aber auch nicht paradoxer als die Tatsache an sich, dass sie jetzt wahrlich hier saß.
Die Tür öffnete sich und ein Mann mittleren Alters, der bereits leicht angegraute Haare hatte, betrat den Raum. Er war etwas seltsam angezogen, recht altbacken, um ehrlich zu sein. Die Farben harmonierten nicht miteinander und überhaupt stand ihm die Kleidung einfach nur schlecht. Alexandra konnte nicht verhindern, dass sie die Brauen nach oben zog, als sie den Mann musterte.
Erleichtert stellte sie fest, dass dieser sich gerade in die andere Richtung gewendet hatte. Nun drehte er sich aber seiner Patientin zu und reichte ihr die Hand.
„Hallo Frau Schumann. Mein Name ist Doktor Michel. Was kann ich für Sie tun? Sie wurden, wie ich sehe, von ihrem Hausarzt zu mir überwiesen.“
Alexandra zögerte. „Ja – er meinte, ich solle wenigstens einmal bei Ihnen vorbeischauen.“
Ihre Stimme klang ablehnend, was Doktor Michel stirnrunzelnd feststellte.
„Ich nehme an, Sie selbst waren nicht wirklich für diesen Vorschlag zu begeistern?“
Alexandra zuckte die Schultern. „Es hat nichts mit Ihnen oder Ihrem Berufstand zu tun. Nur die wenigsten Menschen gehen gerne zu einem Seelenklempner, wie man so schön sagt.“
Sie sah ihn herausfordernd an. Doktor Michel räusperte sich geräuschvoll, doch Alexandra störte sich nicht daran. Wieso sollte sie etwas anderes sagen als sie dachte? Sie war ein ehrlicher und meist geradliniger Mensch, und eigentlich sagte man ja, das Vertrauensverhältnis zwischen einem Therapeuten und dem Patienten müsse solche Ehrlichkeiten auf jeden Fall zulassen. Der Psychologe setzte sich nun an seinen Schreibtisch und sah Alexandra wieder an.
„Welche Probleme gibt es bei Ihnen, Frau Schumann?“
Alexandra seufzte. Wo sollte sie da nur anfangen? Es gab so viele Probleme, dass sie morgens beim Aufwachen manchmal dachte, sie würde davon förmlich erdrückt.
„Zu viele“, sagte sie darum wahrheitsgemäß.
„Und wie äußerst sich das bei Ihnen?“ forschte der Psychologe weiter.
Alexandra fühlte sich von seinen fragenden Augen in die Enge getrieben. Eigentlich war sie es nicht gewohnt, sich mit ihren Problemen anderen Menschen übermäßig anzuvertrauen.
Es gab nur einen einzigen Menschen, mit dem sie über fast alles reden konnte – abgesehen von Moritz – und das war ihre beste Freundin Annabell.
Doch auch Annabell hatte manchmal seltsame Ansichtsweisen, und überdies hinaus auch genug eigene Sorgen. Und gewisse Dinge, so fand Alexandra, sollten einfach da bleiben, wo sie hingehörten: In der eigenen Familie.
Dennoch überwand sie sich, die Frage des Psychologen zu beantworten: „Mir geht es oft nicht gut – körperlich und seelisch, wissen Sie. Es ist mein Herz, ich habe sehr große Probleme damit.“
„Meinen Sie das jetzt bildlich oder anatomisch?“
„Beides vermutlich“, seufzte Alexandra. „Aber eigentlich meine ich damit wirklich das Organ, Doktor Michel.“
„Wurde das schon untersucht?“
Alexandra hätte am liebsten trocken aufgelacht und fragte sich für einen Moment, zu was für einem Quacksalber man sie hier eigentlich geschickt hatte. Sie hätte sich wohl kaum bereit erklärt, diese Sache hier zu versuchen, wären nicht bereits alle organischen Ursachen ausgeschaltet worden.
„Ja natürlich“, erwiderte sie darum verbissen. „Sonst wäre ich wohl kaum hier. Es wurde nichts gefunden. Der Arzt nennt das psychoso… psychoso…“, sie suchte verzweifelt nach dem richtigen Fachwort.
„Psychosomatisch“, half ihr der Psychologe weiter und nickte, schrieb sich eifrig etwas auf einen Notizzettel und sah sie dann wieder an. „Wie genau äußert sich das?“
„Ich bin oft nervös und leicht reizbar“, gab Alexandra zu und blickte beschämt auf ihre Fußspitzen. Es gab Tage, an denen sie es nicht einsehen wollte, dass dem so war. Aber an anderen Tagen schämte sie sich dafür. Sie fühlte sich dann für ihre Familie wie eine Last. Den Kindern konnte sie nicht die Aufmerksamkeit schenken, die sie gebraucht hätten, die Geduld ohnehin nicht. Und auch Moritz konnte sie nicht die Frau sein, die sie ihm gerne gewesen wäre…
„An solchen Tagen habe ich dann manchmal Probleme mit dem Herzen. Ich war schon mehrmals nachts im Krankenhaus, weil ich dachte, ich hätte einen regelrechten Anfall.“ Sie verzog das Gesicht und dachte mit Schaudern an jene Nächte zurück, an denen man sie im Rettungswagen unter Blaulicht ins Krankenhaus abtransportiert hatte.
Wie gut, dass ihre Mutter immer rechtzeitig zur Stelle gewesen war, um die Kinder rasch mit zu sich nach Haus zu nehmen, so dass sie nichts davon mitbekommen hatten.