Kapitel 61
Jess´ letzte Worte
Es wurde ruhig in der Stadt, als keine weißen Flocken mehr vom Himmel zur Erde sanken.
In den meisten Fenstern erloschen die Lichter, denn es war bereits weit nach Mitternacht. Nur selten durchbrach das Geräusch eines vorbeifahrenden Wagens die Stille. Eine Stille, die eigentlich voller Ruhe und Frieden zu sein schien. Doch für Tessa war sie es nicht. Sie fühlte sich von ihr wie eingezwängt, eingeklemmt und die Luft davon abgeschnürt.
Im Krankenhaus war kaum ein Laut mehr zu vernehmen. Nur die leise säuselnden Geräusche der Heizungs- und Belüftungsanlagen waren zu hören, sie untermalten die ohrenbetäubende Stille jedoch auf unangenehme Weise. Tessa fühlte sich schwindelig, ihre Kehle war trocken, und sie stellte fest, dass sie dringend etwas zu trinken gebraucht hätte. Doch sie wagte es nicht aufzustehen und fortzugehen, aus Angst, in genau jenem Moment könnte es Nachrichten von Jess geben.
Sie fröstelte und schlang die Arme um ihren Oberkörper, doch auch das konnte ihr nicht die benötigte Wärme spenden. Kraftlos ließ sie ihre Hände wieder in den Schoß sinken und starrte auf die am anderen Ende des Foyers befestigte Uhr. Es war bereits fast zwei Uhr in der Nacht. Mit müden Augen warf sie einen Blick auf ihre Freundin, die der Schlaf übermannt hatte. Monika hatte sich auf der Wartebank ausgestreckt und atmete tief ein und aus.
Für einen Moment beneidete Tessa ihre Freundin um ihren Schlaf, um diese kurze Auszeit aus der elenden Wirklichkeit, die ihr nicht vergönnt war. Denn obwohl sie sich völlig erschlagen fühlte, war sie aufgedreht und nervös wie nie zuvor im Leben und selbst wenn sie es versucht hätte, der Schlaf wäre nicht gekommen, um sie zu erlösen.
Tessa legte sich die Hand auf ihren schmerzenden Bauch. Er zog sich zusammen und krampfte schon seit fast zwei Stunden auf unangenehmste Weise. Vermutlich war dies die Aufregung. Sie atmete tief durch, um wenigstens die Übelkeit, die sich ihrer seit einer Weile ebenfalls angenommen hatte, zu unterdrücken. Wieder fröstelte sie und schauderte heftig zusammen. Für einen Moment hätte sie am liebsten zu weinen angefangen. Sie fühlte sich krank und elend, doch was bedeutete das schon, wenn Jess irgendwo hier lag und immer noch um sein Leben zu kämpfen schien?
„Reiß dich zusammen“, flüsterte sie sich selbst zu und nahm erneut einige tiefe Atemzüge, um die Übelkeit und den Schwindel zu unterdrücken. Sie kämpfte gegen den sehnlichen Wunsch an, sich einfach genauso wie Monika auf der Wartebank auszustrecken, die Augen zu schließen und alles, einfach alles zu vergessen – die Angst, die Verzweiflung, die Übelkeit, die Schmerzen und dieses unsägliche Gefühl von verlorener Hilflosigkeit.
Inzwischen hatte sie es aufgegeben, nervös hin- und herzuwandern, in Zeitschriften zu blättern und auf den Fingernägeln zu kauen. Inzwischen wollte sie einfach nur noch, dass diese Zeit des ungewissen Wartens zu einem Ende kam… diese Ungewissheit schien einem die Seele zu zerreißen und macht mürber als alles andere, das sie je erlebt hatte.
Müde und angespannt rieb sie sich über die Stirn, als sie plötzlich Schritte durch das leere Foyer hallen hörte. Sie warf einen aufmerksamen Blick zur Nachtschwester, die ebenfalls aufsah. Im selben Moment trat ein Arzt an den Tresen heran und unterhielt sich mit gedämpfter Stimme mit der unfreundlichen Schwester, die schließlich zu Tessa und Monika wies. Tessas Herz begann schneller zu schlagen.
„Moni!“, zischte sie aufgeregt und berührte ihre Freundin an der Schulter. „Wach auf!“
Monika fuhr hoch, sah sich einen Moment verwirrt um und murmelte dann: „Was ist?“, während sie sich aufsetzte und sich die Augen rieb.
„Ich glaube, es gibt Neuigkeiten… ich denke, dieser Arzt da vorne ist derjenige, der uns mehr sagen kann“, erwiderte Tessa nervös.
Monika fuhr sich durch ihr zerzaustes Haar und folgte dann Tessas Blick in Richtung des Tresens.
„Bist du dir sicher?“
„Ja, ich denke schon. Als er sich eben mit der Schwester unterhalten hat, zeigte diese zu uns herüber“, erklärte Tessa.
Angespannt beobachteten die beiden den Arzt und die Schwester, die weiter in gedämpften Ton miteinander sprachen. Dann endlich, nach einer schieren Ewigkeit, drehte der Arzt sich um und blickte die beiden jungen Frauen an.
„Er kommt her!“, sagte Tessa aufgeregt. Monika drückte kurz ihre Hand.
„Es wird bestimmt alles gut gegangen sein“, flüsterte sie beruhigend.
Tessa sprang auf, als der Arzt auf sie zukam und Monika tat es ihr gleich.
„Frau Wagner?“, erhob der Mann die Stimme und sah beide fragend an.
Tessa nickte. „Ja, das bin ich… haben… haben Sie Neuigkeiten von meinem Freund? Wie geht es ihm… lebt er?“
Angespannt starrten beide junge Frauen den Arzt an.
„Mein Name ist Doktor Langboldt. Ich habe Herrn Wagner operiert“, erklärte der Arzt und sah Tessa dann an.
„Frau Wagner“, begann er zögerlich. „Ich… denke, wir sollten uns setzen.“
Tessa hatte für einen Moment das Gefühl, man zöge ihr den Boden unter den Füßen fort.
War Jess tot? War der Arzt darum so ernst, so besorgt, so zögerlich?
„Oh bitte… bitte nicht…“, flüsterte sie.
„Komm, Tessa, setzen wir uns“, hörte sie Monikas sanfte Stimme. Gemeinsam setzten die drei sich auf die Wartebänke.
„Frau Wagner… Sie sagten, Sie seien die Freundin von Herrn Berger?“
Tessa starrte den Arzt irritiert an. „Ja… ja, das hab ich vorhin ja schon Ihrer Kollegin gesagt…“
„Gut, Frau Wagner. Sie wissen, dass wir normalerweise nur engen Angehörigen Informationen geben dürfen… Eltern, Geschwistern, Ehepartnern…“
„Aber Jess hat weder das eine noch das andere“, erwiderte Tessa aufgebracht. Sollte sie nun schon wieder dieselbe Diskussion führen müssen wie Stunden zuvor?
Doch der Arzt nickte zu ihrer Überraschung zustimmend. „Ja, ich weiß – wir haben bereits mit der Polizei gesprochen, die uns Ihre Angaben bestätigt hat. Es gibt keine Verwandten oder Angehörigen mehr – außer Ihnen.“
Tessa nickte. „Ja… niemand außer mir. Also bitte ich Sie – sagen Sie mir, was mit Jess ist. Wie geht es ihm? Lebt er noch?“
Der Arzt sah sie ernst an, dann nickte er langsam.
„Ja, Frau Wagner, Ihr Freund lebt.“
Tessa hatte das Gefühl, ein Zentner an Steinen fiele von ihrem Herzen. Dennoch konnte sie sich nicht freuen, die Angst hatte sie noch zu fest im Griff.
„Und wie geht es ihm?“, fragte Monika behutsam. „Wie ist sein Zustand?“
„Ernst“, erwiderte der Arzt langsam und sah Tessa dann offen an. „Frau Wagner… wie lange konsumiert Ihr Freund schon Heroin?“
Tessa schluckte. „Ich… bin mir nicht sicher“, sagte sie dann langsam und versuchte sich zu erinnern, was Jess ihr bei ihrem ersten Treffen gesagt hatte. Ihr Kopf schien auf unerklärliche Weise fast wie leergefegt und hilflos sah sie Monika an.
Diese sagte sanft: „Ich glaube, du hast einmal gesagt, als ihr euch kennenlerntet, waren es ein paar Monate… kann das sein?“
Jetzt erinnerte sich auch Tessa wieder an Jess´ Worte damals im Café. „Ja“, stimmte sie darum zu und wandte sich wieder an den Arzt. „Ich denke, inzwischen dürften es mindestens anderthalb, wenn nicht eher zwei Jahre sein…“
*geht noch weiter*