Kapitel 54
Liebe ohne Gegenwert
Nervös warf Tessa die Autotür des kleinen Fiats hinter sich zu, dass dieser nur so wackelte.
Joshua kräuselte die Stirn und warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie wandte das Gesicht ab und betrachtete die im Park umherlaufenden Menschen. Das Wetter war herrlich, der Oktober hatte offenbar noch einmal die letzten Kraftreserven der Sonne aufgebracht. Es war ungewöhnlich mild, so dass man noch nicht einmal mehr eine Jacke benötigte. Ein leichtes Lüftchen bewegte die braungefärbten Blätter der Bäume, so zart, dass es nur reichte, um wenige Blätter abzuschütteln.
Doch die ersten Stürme würden bald kommen, das wussten alle hier, und genau darum genossen noch so viele Menschen die Kraft der Sonne an diesem wunderbaren Herbstnachmittag.
„He, Tessa – was ist los?“ hörte sie Joshuas Stimme neben sich. Sie drehte sich langsam zu ihm. „Nichts“, gab sie dann zurück. „Ich… sagen wir mal so, ich hab heute Nacht schlecht geschlafen.“
„Das tut mir leid“, sagte Joshua und sah sie besorgt an. „Wollen wir das Ganze lieber verschieben?“
„Nein – ist schon okay.“
„Na, dann mach auch nicht so ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Sonst nehm ich das noch persönlich. Und abgesehen davon weiß ich, wie man deine Stimmung ändern kann!“
Ehe sie sich versehen hatte, begann er sie heftig durchzukitzeln – wie er wusste, eine sichere Methode, um sie unweigerlich zum Lachen zu bringen.

„Hör auf, sofort!“ keuchte Tessa zwischen zwei Lachanfällen.
„Nur wenn du mir versprichst, ab sofort gute Laune zu haben!“ zwinkerte Joshua.
Tessa lachte auf. „Ich versprech´s, ich versprech´s ! Nur hör auf, mich zu kitzeln, ich bitte dich!“
Grinsend nahm er Abstand von ihr. „Na bitte, so gefällst du mir schon viel besser.“
Tessa musste ebenfalls grinsen. Es war, als habe das heftige Lachen ihr die Anspannung der Nacht aus den Muskeln förmlich herausgeschüttelt.
Sie sog die frische Luft tief ein und musste zugeben, dass es schwer war, an einem solchen Sonnentag schlechte Laune zu haben. Joshua zwickte sie freundschaftlich in die Seite. Sie lächelte ihn an. Die Stimmung zwischen ihnen war ungewöhnlich gelöst. Vielleicht hatte sie sich doch geirrt und Joshua versprach sich von diesem Treffen nicht mehr oder weniger als von allen vorherigen? Er wirkte zumindest in keiner Weise anders als sonst und Tessa merkte, dass diese Tatsache ihr half, sich in seiner Gegenwart zu entspannen und seine Gesellschaft wie all die Wochen zuvor zu genießen. Er schien ihr wie ein Lichtblick in ihren düsteren Gedanken, wie ein Stück Leichtigkeit, dessen der Traum der Nacht sie fast wieder beraubt hätte.
Sie schob die Gedanken an jene Bilder beiseite und folgte Joshua in Richtung des kleinen Sees, der sich in der Mitte des Parks befand.
„Wie wär´s mit Schaukeln?“ fragte er unbekümmert und wies auf die rote-blau lackierte Schaukel, die in der Nähe des Ufers aufgestellt worden war. Tessa grinste.
„Das ist was für Kinder, meinst du nicht, wir sind zu alt dafür?“
Joshua lachte. „Ist man jemals zu alt für etwas, das Spaß macht? Los, nun setz dich, ich schubbs dich an!“
Zögerlich nahm Tessa auf der roten Schaukel Platz und bedachte die knirschenden Ketten mit einem skeptischen Blick. „Ich weiß nicht…“, setzte sie an, doch da hatte Joshua schon mit einer überraschenden Kraft nach den Ketten gegriffen und die Schaukel in die Höhe gezogen. Nur eine Sekunde später flog Tessa durch die Luft und ohne dass sie es verhindern konnte, entwich ihrem Mund ein fast kindliches Jauchzen, das wie eine Befreiung wirkte.
Joshua schubbste sie sanft erneut an. Über ihr erhob sich der blaue Himmel wie ein großes, gigantisches Gebäude. Sie spürte die Wucht der Fliegkraft als leises Kribbeln ihrem Magen und warf ausgelassen lachend den Kopf zurück.
„Höher?“ hörte sie Joshuas lachende Stimme hinter sich. Sie sah ihn nicht, aber sie wusste, dass er da war. Und dieses Gefühl war mit einemmal von unbeschreiblicher Wärme. Sie fühlte seine starken und doch sanften Hände in ihrem Rücken, als er sie erneut mit Kraft anschubbste.
Ihre Beine flogen in die Höhe, so dass sie die Spitzen ihrer schwarzen Schuhe sehen konnte. Wieder musste sie lachen, ohne es steuern zu können. Und es tat so gut!
Sie hörte Joshua hinter sich lachen. Immer und immer wieder schubbste er sie an, immer höher schwang die Schaukel in die Luft, bis er irgendwann rief: „Jetzt reicht´s, Tessa, sonst fliegst du mir noch von der Schaukel!“
Tessa streckte die Beine weit nach vorne, wie sie es als Kind immer getan hatte, um sich anzutreiben.
„Ach was!“ rief sie lachend. „Sei kein Mädchen!“ Auch Joshua lachte wieder auf und gab ihre einen erneuten sanften Schubbser.

Nach und nach pendelte sich die Schaukel langsam aus. Mit einem scharrenden Geräusch streiften Tessas Schuhe schließlich über die abgewetzte Sandfläche unter ihren Füßen.
Leicht schwindelnd erhob sie sich von der Schaukel und war immer noch am Kichern.
„Das war einfach herrlich“, lachte sie. „Ich hab das seit Jahren nicht mehr gemacht.“
Joshua lächelte und wurde plötzlich ernster. „Das hab ich mir gedacht“, sagte er langsam.
Tessa wischte sich die Lachtränen aus den Augen und nickte. „Vermutlich viel zu lange, was?“
Joshua lächelte sie nur vielsagend an und schlenderte in Richtung der kleinen Holzbrücke davon, die über den See führte. Tessa folgte ihm langsam. Gemeinsam lehnten sie sich in der Mitte der Brücke über das Geländer und beobachteten die Fische im Teich.
„Es ist ein herrlicher Tag“, sagte Joshua irgendwann. Tessa nickte. „Kaum zu glauben, dass wir schon Oktober haben, oder?“
„Nun fang du nicht auch noch von der globalen Erwärmung an“, stöhnte Joshua. „Mein Prof reicht mir und die Medien auch, ich kann´s nicht mehr hören.“
Tessa lachte auf. „Keine Bange, ich hab nicht vor, mit dir über irgendwelche Klimakatastrophen zu diskutieren, schon gar nicht, wenn die Auswirkungen davon so angenehm wären wie dieses Wetter es heute ist.“
Sie lächelten sich an und schwiegen dann eine Weile. Tessa merkte, wie das Gefühl leichter Beklemmung zurückkam, weil Joshua mit einemmal so ernst schien.
Dieser warf ihr einen Seitenblick zu und schien ihre Gefühle zu erraten, denn er richtete sich auf und drehte sie sanft zu sich.

„Tessa – ich… nun… ich denke, du weißt inzwischen, dass du mir sehr viel bedeutest…“
Sie wollte etwas erwidern, doch er hinderte sie daran, indem er schnell weiter sprach: „Ich will nur, dass du weißt, dass ich dich in keiner Form zu etwas drängen werde… ich… ich mag dich einfach sehr und genieße es, heute hier zu sein… mit dir…“
Er sah sie lange an. „Ich wünsche mir doch einfach nur, dass du wieder glücklich bist, Tessa. Dass du so ausgelassen sein kannst wie eben auf der Schaukel. Das Leben genießen kannst. Und verstehen, dass es so etwas wie Glück tatsächlich gibt. Was ich dafür tun kann, werde ich tun, Tessa…“
Er streichelte ihr sanft über die Wange und über ihr Gesicht flog ein leichtes Lächeln.

„Joshua… das… das hast du so lieb gesagt…“, erwiderte sie leise. „Weißt du, es ist so… ich mag dich auch und…“
Doch Joshua legte ihr sanft den Finger auf die Lippen. „Nein – du brauchst mir jetzt nichts erklären. Lass uns einfach den schönen Tag genießen, ja?“
Für einen Moment schossen Tessa Feli´s Worte durch den Kopf: „Lass dich einfach einmal fallen, Tessa, und schau, was geschieht.“
Tessa musste wieder lächeln und nickte. Gemeinsam schlenderten sie weiter über die Brücke zurück und ließen sich schließlich auf der Bank hinter der Schaukel nieder.
Joshua reckte sich und streckte das Gesicht gen Sonne. „Es ist herrlich“, brummte er zufrieden.
Auch Tessa tat es ihm nach. „Ja, das ist es. Ich wünschte, so könnte es ewig bleiben…“
Sie dachte mit einem leichten Schaudern an den Winter, der bald kommen würde. Kälte, Eis und Schnee… graue, dunkle, schwarze Nächte… der letzte Winter hatte nichts als Schmerz gebracht, wohin gegen Frühling und Sommer ihr so leicht und bunt und froh dagegen standen.
Joshua sah Tessa lange an und griff nach ihrer Hand.
„Es muss wohl beides geben im Leben, Tessa… Licht und Schatten… doch jetzt gerade, hier und in diesem Moment, ist Licht…“
Tessa erwiderte den Druck seiner Hand, ohne weiter nachzudenken.

„Ja“, flüsterte sie. „Licht im Überfluss... nicht wahr?“
Er sah sie an und nickte. „Ja – so viel du brauchst und willst. Und manch ein Licht wird wohl nie aufhören zu brennen. Nicht jeder Mensch wird dich verlassen, Tessa…“
Er schwieg, fast als habe er Angst, etwas Falsches gesagt zu haben. Doch Tessa verstand, was er ihr damit zu verstehen geben wollte und nickte. Joshua hob seinen Arm und ohne dass weitere Worte nötig waren, rutschte Tessa ein Stück zu ihm und lehnte sich dankbar an ihn.
Sie wusste nicht mehr, ob ihr von der Sonne so warm war, die mit voller Kraft auf ihre dunklen Kleider fiel und regelrecht von ihnen aufgesaugt zu werden schien. Oder aber vielmehr von der Wärme des menschlichen Körpers neben sich. Sie realisierte, dass es schon lange her war, seit sie einem anderen Menschen auf diese Weise so nah gekommen war.
Und doch war es anders. Hier fühlte sie sich so geborgen und geschützt wie noch nie. Regelrecht eingelullt in eine sichere, warme Umarmung.
Tessa lehnte ihren Kopf an den ihres Gegenübers. Beide lächelten sich sanft an, ohne ein Wort zu sprechen. In der Nähe sang ein Vogel der Sonne sein Abschiedslied.

Tessa schloss die Augen und sog den Geruch des Mannes neben sich tief ein.
Dieser verstärkte den Griff um ihre Schultern noch etwas und drückte sie seufzend etwas näher an sich. Seine Finger strichen zart über ihren Handrücken.
*geht noch weiter*