
"Ah! Guten Tag, kommen Sie rein, meine Frau hat nicht viel Zeit, fürchte ich. Darf ich mich vorstellen? Owen Hawthorne. Ja, ich bin Nancys Mann – Mitbesitzer des Nancy-Hawthorne-Verlags, wobei ihr natürlich der Hauptverdienst zum Erfolg zugeschrieben werden muss. Der Verlag gibt schließlich nach bescheidenen Anfängen nun mehrere überregionale Zeitungen heraus und hat erst vor zwei Jahren zwei große Fernsehsender übernommen. Und das hat allein meine Nancy geschafft – für eine Frau Mitte 30 ist das nicht schlecht, oder? Und trotzdem –"
"Ach, Owen, hör mit den Schmeicheleien auf! Ich bin sicher, das wissen die Herren von der Presse schon ganz genau.
Meine Sekretärin meinte, Sie wollten sich in Ihrer Ausgabe eher auf meine Biographie und mein Familienleben konzentrieren?"

"Schon zu meiner Studentenzeit – damals noch als Nancy Blewett unterwegs – waren Mode, Musik und Journalismus meine großen Leidenschaften, und meine Mitbewohner Owen..." (lächelt ihren Mann an) "...und Benjamin unterstützten mich besonders im Bereich der Musik. Wenig später machte mir Owen auch schon den Antrag, und ich nahm ohne Bedenken an – denn wir wussten beide, dass es mir weiterhin wichtig sein würde, meine Freiheit zu behalten und einem Beruf nachzugehen."

"Einige Jahre später fiel mir der Einstieg ins Verlagswesen – damals als Kolumnenschreiberin einer bekannten Modezeitschrift – dank hervorragender Abschlüsse und Referenzen nicht schwer. Ich genoss mein Leben, und die anstehende Hochzeit freute mich umso mehr."

"Apropos, wo ist denn mein Mann?"
"Äh, ich glaube, er meinte, die Gärtnerin hätte schon wieder die Büsche nicht ordentlich beschnitten, und er wolle mal ein Wörtchen mit ihr reden."
"Oh ja, das kann sein. Man muss ihr ständig auf die Finger gucken! Na ja, wie auch immer.
...das hier ist ein Bild unserer Hochzeit. Es war ein recht kalter, aber sehr klarer Tag – Sie sehen ja, der Himmel zeigt seine schönste Farbe. Die einzige, dafür gewaltige Trübung der folgenden Tage war der überraschende Tod meiner Schwiegermutter. Ich kannte sie kaum – ich weiß nicht, ob sie mich nicht mochte, aber sie war stets reserviert –, doch für Owen und seinen Vater war es ein schwerer Schlag."

"Nun, zum Glück folgte darauf bald eine frohe Nachricht – ich war schwanger! Als Selbstständiger kann sich Owen seine Arbeit selbst einteilen, und so machten wir ab, dass ich so früh wie möglich wieder mit der Arbeit beginnen würde. Natürlich freute ich mich auf das Kind, sehr sogar, aber mein Job und die Aufstiegschancen waren mir ebenso wichtig, und Owen war diese Regelung nur recht."

"Hier ist ein Bild von einem kleinen ... nun ja, Hauskonzert. Ich gebe öfter kleine Dinnerpartys für die High Society von Pleasantville, und da man mir immer wieder bezeugt, wie bezaubernd mein Klavierspiel doch sei, ließ ich mich dazu hinreißen, ein Stück darzubieten. Wie man sieht, in hochschwangerem Zustand."

"Eines der Stücke, die ich an jenem Abend spielte, war Schumanns Kinderszenen, und bezeichnenderweise begannen die Wehen am nächsten Tag. Die Geburt war anstrengend, doch beim Anblick meines Sohnes waren alle Schmerzen vergessen. Wir wissen immer noch nicht genau, woher er die giftgrünen Augen hat – meines Wissens kam die Farbe in meiner Familie nicht vor, aber Owen meint, es könne von seiner Großmutter sein. Vererbung ist eine spannende Sache, finden Sie nicht?"

"Mein Schwiegervater Jonathan unterstützt uns, wo er nur kann. Auch Owen muss mal arbeiten, und wenn es zeitlich mal nicht passt – oder Rupert nachts schreit, und wir beide am nächsten Morgen früh raus müssen –, dann kümmert er sich um ihn, als wäre es selbstverständlich. Dafür schulden wir ihm wirklich sehr viel, doch er winkt nur ab und meint, er freut sich ja ob der Möglichkeit, mit seinem Enkel Zeit verbringen zu können."

"Trotz der Arbeitslast finde ich es allerdings sehr wichtig, mit Rupert Zeit zu verbringen – ich möchte nicht zu den Frauen gehören, die unter 'Kinder haben' nur 'Kinder in die Welt setzen' verstehen, und deren Kinder sich später nur an Angestellte oder Verwandte erinnern können, und nicht an die eigene Mutter. Ich selbst war ein Schlüsselkind, und war oft traurig, wenn meine Eltern keine Zeit für mich hatten.
Oh, haben Sie das gehört? Ich glaube, das ist ... ja."

"Meine kleine Tochter, Ruby, erst zwei Wochen alt. Nein, bitte keine Fotos, sie ist noch zu klein, und ich bin nicht Angelina Jolie – ich verkaufe keine Exklusivbilder meiner Kinder, auch nicht für einen guten Zweck. Wie bitte, ob ich Angelina hasse?! Meine Güte, nein! Verbreiten Sie bitte keine Gerüchte. Tatsächlich hab ich mich bei der letzten Preisverleihung, als ich sie um ein Interview gebeten habe, sehr gut mit ihr verstanden.
Ob Ruby das Nesthäkchen bleibt, weiß ich noch nicht genau. Ich weiß, Owen wünscht sich eine große Familie, doch ich muss zunächst ausloten, wie mir das Leben mit zwei Kindern gefällt, denn bei jedem weiteren Kind wächst schließlich der Druck, auch wenn ich sie beide abgöttisch liebe. Aber Ruby ist ja noch so klein! Die biologische Uhr tickt noch sehr leise, sodass ich sie noch etwas ignorieren kann."
5 Jahre später

Erneut besuchten wir gestern die Familie der Verlagsdirektorin Nancy Hawthorne. Ihre Tochter Ruby, die im letzten Beitrag gerade geboren war, ist inzwischen schon fünf Jahre alt und im Kindergarten ein kleiner Star.

Ihr großer Bruder Rupert geht schon in die dritte Klasse, wie er dem Team stolz erzählt. Lieber als den Unterricht mag er allerdings die Pausen, in denen er sich mit seinen Freunden gnadenlose Schneeschlachten liefert.
noch einmal 5 Jahre später

"Und wieder einmal besuchen wir die Verlegerfamilie Hawthorne. Inzwischen hat sich der Erstgeborene zu einem stattlichen jungen Mann verwandelt, und vor einem Jahr wurde der Familie noch ein kleiner Bruder namens Philipp geschenkt, hier allerdings nicht im Bild. Auch aus Ruby ist inzwischen eine richtige kleine Dame geworden, die ihrer Mutter zwar nicht äußerlich ähnelt, sehr wohl aber innerlich."
Wir nutzen die Zeit, um Nancy Hawthornes Kindern einmal das Wort zu erteilen.

"Ob ich auf meine Mutter stolz bin? Ja, also, sicher. Sie war echt ziemlich jung und so, also, als sie das alles aus dem Boden gestampft hat und, joah, also, ... Oh, mein Handy. Entschuldigen Sie mich."

"Sagen Sie, ist Ihr Sohn immer so beschäftigt?"
"Wie bitte? Mein Sohn ist ein Jahr alt – ach, Sie meinen Rupert. Ja, ist er – zugegeben, er ist auch kein besonders großer Fan von Interviews, Kameras und Mikrofonen. Sie verstehen sicher; er hat es sich schließlich nicht ausgesucht, als mein Sohn derart ins Rampenlicht gestoßen zu werden. Aber ich bin mir sicher, das verwächst sich wieder. Mein Mann war in Ruperts Alter auch schüchtern, habe ich mir von seinem Vater erzählen lassen."

"Ruby, was würdest du sagen, ist das Wichtigste in deinem Leben?"
"Das Wichtigste in meinem Leben? Mon Dieu, wie soll ich das beantworten... Ich mag meine Französischstunden. Aber auch die Ferien in Sankt Moritz gefallen mir, ich liebe Skifahren!, und ich weiß nicht, ob ich ohne meine Ballett-, Fecht-, Cello- und Reitstunden überhaupt leben könnte."
"Hast du denn ... jeden Tag irgendeine Freizeitaktivität?"
"Nein, mittwochs darf ich spielen. Aber ich halte meine Schul-, Sport- und Musikausbildung für sehr wichtig in der heutigen Zeit. Sie etwa nicht?"
"...wie alt bist du denn noch mal?"
"Zehn, wieso?"
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Entgegen Nancys Erwartungen ist Rupert seiner Medienscheu nicht entwachsen, kümmert sich aber hingebungsvoll um seinen kleinen Bruder. Für Philipp ist er der beste Geschichtenerzähler der ganzen Welt. "Ma mehr, ma mehr!"

Ruby ist immer noch sehr engagiert – heute geht es ihr nur weniger darum, ihre Mutter zufriedenzustellen und in allen prestigeträchtigen Hobbys zu brillieren, sondern um den Umweltschutz. Sie geht dabei recht radikal vor, lässt sich aber auch manchmal dazu herab, mit den Vertretern der gegnerischen Seite zu debattieren oder (schluck) zu verhandeln. Ihr Vater, der früher selbst gegen Atomkraft demonstriert hat, ist stolz auf seine rebellische Tochter, während ihre Mutter sich oft wünscht, sie könnte doch eine etwas weniger streitwillige Attitüde haben.

Die ungleichen Geschwister, die doch immer zusammenhalten. Rupert und Ruby kochen gerne zusammen Delikatessen, während Philipp sich mit seinem Bruder schon epische Wasserballonschlachten geliefert hat. Und wenn er ihn anschließend um Hilfe bei seinen Hausaufgaben bitten kann – umso besser, oder?

Die Zeit vergeht...
Nancy ist nicht besonders froh darüber, dass sie langsam aber sicher älter wird. Einer bekannten Zeitung sagte sie kürzlich: "Sie wollen von mir, dass ich von Zufriedenheit spreche. Sie wollen hören, ja, ich bin zufrieden, ich habe dies erreicht, ich habe das erreicht. Aber das Leben ist scheußlich, wenn man alt ist. Sehr unangenehm. Ich kann Ihnen nur sagen, es ist kein Vergnügen, so alt zu sein."
Und doch, es gibt sie noch immer, die schönen Momente. Doch während sie ihren Sohn umarmt, ...

...versinkt Owen lieber in den Armen der schönen Arabella. Er schämt sich zwar für die Affäre, doch will er sie auch nicht beenden – er hat sich zu sehr an Nancy gewöhnt, der Funke fehlt, der ewig gleiche Alltag frustriert ihn, und Arabella hilft ihm dabei, die schönen Seiten des Lebens wiederzuentdecken. Sein Motto ist: "Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß." Aus diesem Grund treffen sie sich entweder bei Owen, wenn die Kinder in der Schule und Nancy im Verlag ist – doch das wird immer seltener, weil sie proportional zur Kühle ihres Mannes die Freude an der Verlagsarbeit verliert –, oder sie besuchen den zwielichtigsten Club der Stadt, um sicherzustellen, dass niemand, der sie kennt, sie dort zusammen sieht. Bisher hatten sie damit Erfolg!

Auch Philipp wird älter, und hat auf dem Privatgymnasium, auf das nun alle drei Kinder gehen, neue Freunde gefunden und mit ihnen eine Band gegründet, "Molotov Line". Sie spielen einen eigensinnigen Mix aus Indie und Punk, sind besonders wegen der stimmungsvollen Live-Auftritte in der Jugendszene sehr beliebt, und Phil kann schon bald seine Beziehungen nutzen: Ihr erstes Album "Melody of Murder" nehmen die Jungs kostenlos im Studio seiner Patentante Charlotte Spurgeon auf. Einzige Gegenleistung: Philipp, Leadsänger und -gitarrist, soll alleine auf dem Cover erscheinen. Nun, es hat nie jemand behauptet, er sei nicht eitel... Hauptsache veröffentlicht, dachten sich seine Kumpel, und gaben ihr Okay.