„Neiin!“ Susan schreckte aus dem Schlaf hoch, ihr Atem ging schwer und rasselnd, sie hatte große Mühe, nach Luft zu schnappen und wie immer, wenn ihre Lunge sich zu stark mit Luft füllte, durchdrangen sie stechende Schmerzen in der Seite und im Rücken. Sie verzog das Gesicht und zwang sich selbst, ruhiger zu atmen, was ihr nach einigen Sekunden auch gelang.
Erst jetzt öffnete sie die Augen völlig und innerhalb kürzester Zeit stieg ihr der typische Krankenhausgeruch in die Nase und sie spürte den Kloß im Hals schwerer und dicker werden.

Tapfer schluckte sie gegen die aufsteigenden Tränen an, doch diesmal war sie erfolglos, bald waren ihre Wangen nass und auch ihr Kopfkissen blieb nicht verschont.
Sie griff nach einem Papiertaschentuch, doch auch das Schnäuzen tat noch weh und musste gefühlvoll vollführt werden.
„Sch...!“ fluchte Susan aus lautem Hals. Ihr war übel, wie so oft in letzter Zeit und in ihrem Kopf war ein ganzes Karussell zugange, welches die Übelkeit nur noch voran trieb.
Sie ließ sich erschöpft zurück in die Kissen fallen und versuchte, gleichmäßig zu atmen, um die pieksenden Schmerzen ein wenig in den Griff zu bekommen, was von wenig Erfolg gekrönt war.
Ein Blick auf ihre Armbanduhr, die in dem Nachtisch neben ihr verstaut lag, zeigte ihr, dass es erst sechs Uhr in der Früh war. Eine Zeit, um die sie unter normalen Umständen und zu Haus um nichts in der Welt aus den Federn zu bekommen gewesen war – geschweige denn von selbst aufgewacht. Doch hier war alles anders.
Sie warf einen Blick zu dem von einem einfallslosen, sterilen Rollo verhangenen Fenster, doch draußen war es noch stockdunkel.

Susan versuchte sich zu erinnern, welcher Tag heute war... es musste Ende Oktober sein und heute war Freitag. Wie lange lag sie schon hier an diesem furchtbaren Ort? Fast einen Monat. Sie konnte es selbst kaum glauben, aber der Kalender bewies diese Tatsache.
Wieder schluckte Susan gegen die Tränen an. Oh, wie sie es hasste, in diesem kalten, müffelnden Krankenhauszimmer zu liegen! Selbst die zwei prächtigen Blumensträuße, die auf den Tischen vor den Fenstern standen und ein wenig Heiterkeit und Farbe in den kalten Raum zu bringen versuchten, konnten sie nicht trösten.

Draußen ging das Leben weiter und sie – sie lag hier, abgeschirmt von jedweder Normalität, alleine gelassen in ihrem Leid und ihren Schmerzen.
Sie schalt sich gedanklich sofort für diesen Gedanken. Waren doch ihre Eltern jeden Tag an ihrer Seite und halfen ihr, diese schwere Zeit zu überstehen. Auch Cedrik besuchte sie oft und häufig und natürlich war auch Marie einige Male da gewesen. Von Maries Mutter stammten sämtliche Sträuße, sie hatte sie für Susan mit besonders viel Liebe zusammengestellt.
Auf der Fensterbank fanden sich eine Reihe von Genesungskarten – vom Hotel, von Freunden, von alten Schulkameraden sogar – die Nachricht über ihren Unfall hatte schnell die Runde gemacht und eine Welle von Anteilnahme ausgelöst.
Doch all das half Susan nur bedingt. Vor Cedrik, Marie und den meisten anderen wahrte sie das Gesicht einer schnell Genesenden.

Cedrik hatte erst vor einigen Tagen zu ihr gesagt, sie sei schon fast wieder die alte. Susans Gesicht verzog sich verbittert. Sie würde nie wieder die alte sein, nie wieder der Mensch, der sie einmal gewesen war. Was ihr zugestoßen war, beinhaltete einen so namenlosen Schrecken, dass sie es nicht aussprechen konnte. Einzig und alleine ihre Mutter, die ihrer Tochter so nahe war wie niemand, begriff einigermaßen, wie es in Susan wirklich aussah.
Ihr spielte diese nichts vor, bei ihr ließ sie sich fallen und weinte oft genug in ihrem Armen, bis sie vor Erschöpfung einschlief.

Doch das milde Geschwätz des Krankenhauspsychologen half ihr auch nicht weiter und inzwischen verzichtete sie freiwillig auf dessen tägliche Besuche. Was brachte er ihr? Immer wieder berichtete er von unzähligen ähnlichen Fällen, die er in seiner beruflichen Laufbahn betreut habe. Susan solle nur Geduld haben, sich nicht gegen ihre Gefühle wehren. Na hurra – dachte Susan sich oft genug. Es gab nur ein Gefühl in ihr: Sie wollte hier raus, doch wie bitteschön sollte sie sich dagegen nicht mehr wehren?
Oh, wenn sie nur schon so gesund wäre, dass sie nach Hause könnte, in ihre warme, gemütliche Wohnung! Susan war sich sicher, dass sie alles geschehene dort viel besser verarbeiten würde können.
Mit vierzehn war sie schon einmal im Krankenhaus gewesen, Blindarm-OP. Diese war reichlich missglückt, und Susan hatte an jene Zeit nur schaurige Erinnerungen. Seither hatte sie Ärzte wann immer es möglich war gemieden. Sie hatte gelernt, sich selbst zu helfen. Immerhin gab es heutzutage auch genügend Methoden, um die Heilung auf sanften Wegen zu unterstützen. So schwörte Susan schon seit Jahren auf ihre Heilpraktikerin, die ihr meistens mit ihren sanften Methoden und ihrem Einfühlsvermögen besser geholfen hatte als jeder Arzt es wohl gekonnt hätte.
Doch in diesem Fall war auch sie machtlos, abgesehen davon kam Susan von hier aus auch nicht an sie heran. Einige Male hatten sie telefoniert, doch für die schwerwiegenden Verletzungen an Körper und Seele waren diese Mittel momentan wohl noch zu schwach und zu komplex.
Dennoch war Susan sich ganz sicher, dass sie zu Hause genesen würde – ganzheitlich. Die Verletzungen in ihrem Gesicht waren abgeheilt, doch in ihrer Seele war immer noch alles wund. Wen kümmerte das? Niemanden. Erschöpft zog Susan die nach sterilem Krankenhauswaschmittel und sich steif und rau anfühlende Decke wieder nach oben und schloss die Augen.

Wehmütig dachte sie an ihre bunte, weiche Bettwäsche aus Baumwollsatin, die nach dem feinen Lavendel-Waschmittel duftete, welches sie immer benutzte. Fast schien ihr der Gedanke daran wie eine Illusion, eine blasse Erinnerung an etwas aus einer Welt, zu der sie seit geraumer Zeit nicht mehr zu gehören schien.
Wann an eine Entlassung zu denken sei, wollten die Ärzte partout nicht herauslassen. Laut ihnen sei sie zwar auf dem Weg der Besserung, aber immer noch in einem kritischen Zustand. Die Brüche waren recht gut verheilt, aber ihre Blutwerte waren immer noch nicht in Ordnung und jeden Morgen stellte die Schwester beim Fiebermessen erneut stirnrunzelnd fest, dass die Temperatur nicht unter 38,5 Grad ging – ein Entzündungsvorgang im Körper, ganz klar, nur wie und was und wo genau – das wollte mal wieder keiner sagen.
Vermutlich wussten diese Quacksalber es selbst nicht, wie Susan überzeugt jedem mitteilte, der sie danach fragte.
Leider war das alles nicht genug, auch ihr Kreislauf war immer noch angegriffen, ihre Blutdruckwerte meist weit unter der Norm. Eigentlich musste Susan sich selbst eingestehen, dass sie noch nicht stark genug war, um nach Haus zu gehen. Selbst wenn ihre Mutter sie den ganzen Tag betreut hätte, wäre es schwierig geworden. Also schob sie einmal mehr den Gedanken daran, sich auf eigene Verantwortung zu entlassen, beiseite. Und doch schien sie die Vorstellung, auch nur noch einen Tag länger hier liegen zu müssen, erneut zur Verzweiflung zu bringen.
Natürlich wussten weder Cedrik noch Marie von diesen Problemen, denn weder Susan noch ihre Eltern wollten ihnen noch mehr Sorgen auflasten als sie ohnehin schon wegen ihr hatten.
Susan seufzte, im Liegen wurden die Schmerzen erträglicher, denn auch ihr Atem beruhigte sich allmählich, nicht aber der Sturm in ihrem Kopf.
Dass sie sich nicht erinnern konnte, was an jenem verhängnisvollen Abend geschehen war, machte die Sache nicht gerade besser, denn so konnte sie auch nicht begreifen, was sie um alles in der Welt mitten in der Nacht in der Stadt herumlaufen lassen hatte wie eine verirrte Schlafwandlerin. Sie konnte sich an kaum noch etwas erinnern, dieser eine furchtbare Traum, der sie auch heute erneut aus dem Schlaf gerissen hatte, war der einzige schemenhafte Erinnerungsfetzen, der sich in ihr Bewusstsein zurückgeschlichen hatte.
Die Ärzte sagten, die Amnesie sei nicht ungewöhnlich und sie könne sich glücklich schätzen, dass sie nur wenige Stunden umfasste, viele anderen Opfer eines solchen Unfalles hätten teilweise Amnesien, die mehrere Tage, Wochen oder im Schlimmstfall sogar Monate oder Jahre umfassten.
Doch Susan fühlte sich schon mit diesem nur einige Stunden umfassenden Loch wie unvollständig und als habe man ihr einen Teil ihres Erinnerungsvermögens gewaltsam aus dem Kopf gerissen. Natürlich waren es nur einige Stunden, und wenn sie in diesen schlafend im Bett gelegen hätte, könnte sie deren Verlust locker verschmerzen – nur genau dann wäre sie heute ja auch nicht an diesem vermaledeiten Ort!
Sie hatte Cedrik mehrmals gefragt, ob an diesem Abend etwas Besonderes vorgefallen sei, doch er verneinte jedes Mal, wobei sein Blick dann immer stur in die andere Richtung ging und glasig wurde.

Des Weiteren wechselte er schneller das Thema als ihr lieb war. Sie fragte sich, ob er ihr etwas verschwieg oder ob er einfach nur die Erinnerung an diesen Abend nicht ertragen konnte? Wie ihr Vater ihr gesagt hatte, schien er sich furchtbare Vorwürfe gemacht zu haben in jener Nacht, vermutlich weil er nicht mitbekommen hatte, warum und dass sie das Haus verließ... Ja, vermutlich waren es diese unangebrachten Schuldgefühle, die ihm das Thema so leidig machten.